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Der bedeutende Chirurg Ludwig Riediger bzw. Ludwik Rydygier–

geboren als Deutscher, gestorben als Pole

Kindheit und Schulzeit

Lud­wig (Lud­wik, Lud­vig) Rie­di­ger, wie sein ursprüng­li­cher Name lau­te­te, wur­de wahr­schein­lich am 21. August des Jah­res 1850 gebo­ren. Man­che Quel­len nen­nen zwar den 18. August, aber die aus­ge­wie­se­nen Bio­gra­phin­nen und Bio­gra­phen des berühm­ten Chir­ur­gen – Sta­nisław Sokół, Anto­ni Czu­pry­na und Ani­ta Orzeł-Nowak – wei­sen dar­auf hin, dass der 21. August der Wahr­heit am nächs­ten kommt. Rie­di­ger kam auf dem eini­ge Kilo­me­ter nörd­lich von Grau­denz gele­ge­nen Gut Dos­so­c­zyn in West­preu­ßen (heu­te Dus­o­cin) zur Welt. Sei­ne Eltern waren Carl Fer­di­nand Rie­di­ger und Eli­sa­beth, geb. König (Kenik). Außer Lud­wig hat­ten die bei­den ver­mut­lich noch sie­ben wei­te­re Kinder.

Drei Jah­re nach Lud­wigs Geburt ver­äu­ßer­ten die Rie­di­gers das Anwe­sen in Dos­so­c­zyn und kauf­ten ein Gut in Gra­bo­witz in der Nähe von Preu­ßisch Star­gard. Dort wuchs der Jun­ge auf und erhielt sei­ne ers­te Schul­bil­dung. Trotz ihres deut­schen Nach­na­mens fühl­ten sich Lud­wigs Eltern stär­ker als Polen und erzo­gen ihre Kin­der im Geist der pol­ni­schen Spra­che und Kul­tur. Dass Lud­wig dabei das Erler­nen der deut­schen Spra­che ver­nach­läs­sigt hat­te, zeig­te sich, nach­dem er den Pri­vat­un­ter­richt zu Hau­se abge­schlos­sen hatte.

Lud­wigs ers­te Schu­le war das Gym­na­si­um in Konitz. Die Unter­richts­spra­che war Deutsch, was dem jun­gen Rie­di­ger Schwie­rig­kei­ten berei­te­te. Er hielt es dort nur ein Jahr aus, und sein Vater muss­te ihn an einer neu­en Schu­le anmel­den, und zwar am Col­le­gi­um Maria­num in Pel­plin, an dem Pol­nisch die Unter­richts­spra­che bil­de­te. Dort wie­der­hol­te Lud­wig das Schul­jahr und absol­vier­te danach die anschlie­ßen­den Jahr­gän­ge; da das Col­le­gi­um aber nicht über die letz­ten bei­den Klas­sen ver­füg­te, muss­te er, um das Abitur able­gen zu kön­nen, noch­mals die Schu­le wech­seln. Des­halb trat er nun in das renom­mier­te König­li­che Katho­li­sche Gym­na­si­um in Kulm ein.

Studium und Namensänderung

1869 leg­te Lud­wig Rie­di­ger die Rei­fe­prü­fung ab, die ihm die Tür zum Uni­ver­si­täts­stu­di­um öff­ne­te. Ursprüng­lich woll­te der Absol­vent eine mili­tä­ri­sche Lauf­bahn ein­schla­gen, ent­schied sich dann aber für das Stu­di­um der Medi­zin. Um die­sen Traum zu ver­wirk­li­chen, muss­te Lud­wig aller­dings die nöti­gen Geld­mit­tel auf­brin­gen. Des­halb schrieb er einen ent­spre­chen­den Antrag an die »Wis­sen­schaft­li­che Hilfs­ge­sell­schaft«, die Towar­zyst­wo Pomo­cy Nau­ko­wej (TPN) in Thorn. Die TPN war eine sozi­al­päd­ago­gi­sche Orga­ni­sa­ti­on, die sich zum Ziel gesetzt hat­te, begab­te pol­ni­sche Jugend­li­che aus nicht ver­mö­gen­den Milieus in Preu­ßen zu unter­stüt­zen. Sie war zwi­schen 1848 und 1921 in Thorn aktiv und ermög­lich­te in die­ser Zeit vie­len Polen Zugang zur aka­de­mi­schen Bil­dung. Lud­wigs Antrag vom 11. Okto­ber 1869 trägt einen Geneh­mi­gungs­ver­merk vom 16. Novem­ber, unter­zeich­net von Sta­nisław Węclew­ski (1820–1893), der Pol­nisch­leh­rer am Gym­na­si­um in Kulm sowie Sekre­tär und Schatz­meis­ter der TPN war.

Nach­dem Lud­wig Rie­di­ger das Sti­pen­di­um erhal­ten hat­te, konn­te er sich für das Medi­zin­stu­di­um an der Uni­ver­si­tät Greifs­wald ein­schrei­ben. Dort begeg­ne­te er vie­len pol­ni­schen Kom­mi­li­to­nen. Er stu­dier­te bis 1872 an der Ost­see, wech­sel­te kurz nach Ber­lin und dann nach Straß­burg, bevor er schließ­lich nach Greifs­wald zurück­kehr­te. Sei­ne Stu­di­en­ergeb­nis­se lagen im obe­ren Bereich der Noten­ska­la. Auf einem erhal­te­nen Zeug­nis aus dem Jahr 1871 erhielt er in den Fächern Ana­to­mie, Psy­cho­lo­gie, Phy­sik, Che­mie und Mine­ra­lo­gie das Prä­di­kat »gut«. Schwe­rer tat er sich mit Bota­nik und Zoo­lo­gie: In die­sen Fächern erhielt er die Note »genü­gend«. 1873 bestand er in Greifs­wald das Staats­examen als Arzt. Ein Jahr spä­ter ver­tei­dig­te er an der­sel­ben Uni­ver­si­tät sei­ne Dok­tor­ar­beit Expe­ri­men­tel­le Bei­trä­ge zur Leh­re von der Wir­kung der Car­bon­säu­re, die er unter der Betreu­ung von Pro­fes­sor Carl Hue­ter ange­fer­tigt hat­te. Im Jahr 1878 habi­li­tier­te er sich an der Uni­ver­si­tät Jena mit der Schrift Eine neue Metho­de zur Behand­lung von Pseu­do­ar­thro­se.

Wäh­rend sei­nes Stu­di­ums in Greifs­wald hat­te Lud­wig aktiv am Uni­ver­si­täts­le­ben teil­ge­nom­men. 1870 unter­zeich­ne­te er als Mit­glied einer Grup­pe von 19 Stu­den­ten eine Peti­ti­on an die Uni­ver­si­täts­be­hör­den zur Geneh­mi­gung der Sat­zung des »Pol­ni­schen Akademiker-Kreises Polo­nia« (Koło Aka­de­mi­ków Polaków Polo­nia). Zwei Jah­re spä­ter begann Lud­wig, mit dem Namen »Rydy­gier« zu unter­schrei­ben. Die­se eigen­stän­di­ge Namens­än­de­rung und sei­ne pro-polnischen Akti­vi­tä­ten brach­ten ihm admi­nis­tra­ti­ve Schwie­rig­kei­ten ein: Ihm wur­den Geld­bu­ßen auf­er­legt, und er wur­de sogar für ein Jahr vom Stu­di­um aus­ge­schlos­sen. Die­se Stra­fen änder­ten jedoch nichts an sei­ner Ein­stel­lung, auch wenn er zunächst noch für eine gewis­se Zeit zu sei­nem ursprüng­li­chen Namen zurück­keh­ren muss­te. Auf sei­ner Dis­ser­ta­ti­on und sei­ner Habi­li­ta­ti­ons­schrift steht noch »Rie­di­ger«, aber auf ande­ren Ver­öf­fent­li­chun­gen – sowohl in deut­scher wie auch in pol­ni­scher Spra­che – fin­det man dann stets den Namen »Rydy­gier«.

Kulm – wegweisende Operationen und Veröffentlichungen

Nach sei­nem Stu­di­um und meh­re­ren Arzt­prak­ti­ka war Lud­wig nach Kulm zurück­ge­kehrt, wohin inzwi­schen auch sei­ne Eltern gezo­gen waren. Dort hei­ra­te­te er, wahr­schein­lich 1875 oder 1876, Maria Wale­ria, geb. Bor­kows­ka, eine fast 14 Jah­re älte­re, aller­dings wohl­ha­ben­de Frau. Die­se Ehe­schlie­ßung ermög­lich­te ihm 1878 die Grün­dung einer Pri­vat­kli­nik für chir­ur­gi­sche, Augen- und Frau­en­krank­hei­ten. Nach der Aus­kunft dama­li­ger Ken­ner war die Pra­xis von Dr. Rydy­gier modern aus­ge­stat­tet und beschäf­tig­te gute Fach­kräf­te. Sie ver­füg­te über 25 Bet­ten und einen Ope­ra­ti­ons­saal. Jähr­lich wur­den dort etwa 2.000 Pati­en­ten behandelt.

Ein Beweis für die Fort­schritt­lich­keit ist die Tat­sa­che, dass bereits 1880 eine Ope­ra­ti­on durch­ge­führt wur­de, bei der ein Krebs­ge­schwür am Pylo­rus (dem »Pfört­ner«) des Magens ent­fernt wur­de. Der ver­blei­ben­de Teil des Magens wur­de durch Anas­to­mo­se mit dem Zwölf­fin­ger­darm ver­bun­den. Solch ein Ein­griff war bis dahin welt­weit erst ein ein­zi­ges Mal durch­ge­führt wor­den, und zwar im Jah­re 1879 von dem Fran­zo­sen Jules-Émile Péan, der die medi­zi­ni­schen Fach­krei­se aller­dings nur all­ge­mein davon in Kennt­nis gesetzt hatte. 

Obwohl sein Pati­ent zwölf Stun­den nach der Ope­ra­ti­on ver­stor­ben war, hat­te Lud­wik Rydy­gier eine Pio­nier­leis­tung erbracht und beschloss, das Ver­fah­ren aus­führ­lich zu erör­tern. Dabei konn­te er noch wei­te­re Inno­va­tio­nen her­vor­he­ben, denn er hat­te eine neue Art der Schnitt­tech­nik ent­wi­ckelt und zudem spe­zi­el­le Kom­pres­sen (»elas­ti­sche Com­press­ori­en«) ver­wen­det. Der Arti­kel wur­de im Dezem­ber 1880 zunächst in pol­ni­scher Spra­che in der Zeit­schrift Prze­gląd Lekar­ski [Ärz­te­blatt] ver­öf­fent­licht. Eini­ge Mona­te spä­ter erschien er unter dem Titel »Exstir­pa­ti­on des cari­no­ma­tö­sen Pylo­rus. Tod nach zwölf Stun­den« auch auf Deutsch.

Der pol­ni­sche Arti­kel wur­de vom Chir­ur­gen Theo­dor Bill­roth (1829–1894) – ver­mut­lich auf­grund der Sprach­bar­rie­re – nicht wahr­ge­nom­men, denn er führ­te im Janu­ar 1881 in Wien die drit­te Ope­ra­ti­on die­ser Art durch und beschrieb sie eben­falls aus­führ­lich. Der mehr als zwan­zig Jah­re älte­re und längst eta­blier­te Deutsch-Österreicher erfreu­te sich in der Welt der Medi­zin gro­ßer Aner­ken­nung und wur­de als Pro­fes­sor an der Uni­ver­si­tät Wien viel eher wahr­ge­nom­men als der noch weit­ge­hend unbe­kann­te Chir­urg Rydy­gier aus der west­preu­ßi­schen Pro­vinz­stadt Kulm. Des­halb wur­de die Errun­gen­schaft der »Exstir­pa­ti­on des cari­no­ma­tö­sen Pylo­rus« Theo­dor Bill­roth zuge­schrie­ben, und bald setz­te sich dafür die Bezeich­nung »Bill­roth I‑Methode« durch, gegen die Lud­wik und sei­ne Freun­de und Gefolgs­leu­te fast ein Vier­tel­jahr­hun­dert lang erfolg­los ankämpf­ten. Nur in Polen wird die­ser Ein­griff heu­te noch als »Rydygier-Methode« bezeichnet. 

Im Novem­ber 1881 führ­te Rydy­gier in sei­ner Kul­mer Kli­nik eine wei­te­re bahn­bre­chen­de Ope­ra­ti­on durch. Es han­del­te sich um die Ent­fer­nung eines Magen­ge­schwürs, und dies­mal war es der ers­te Ein­griff die­ser Art welt­weit. Noch im sel­ben Jahr beschrieb Rydy­gier die­sen Ein­griff in einem pol­nisch­spra­chi­gen Arti­kel, der wie­der­um im Prze­gląd Lekar­ski [Ärz­te­blatt] erschien und im fol­gen­den Jahr auch auf Deutsch ver­öf­fent­licht wurde.

Bei der Lek­tü­re die­ses Tex­tes erhal­ten wir einen Ein­druck davon, wie damals noch mit per­so­nen­be­zo­ge­nen Daten umge­gan­gen wur­de (was uns heu­te, im drit­ten Jahr­zehnt des 21. Jahr­hun­derts, gera­de­zu scho­ckie­ren dürfte): 

Karo­li­ne Pfe­ing, 30 Jah­re alt, aus Brie­sen, wur­de am 16. Novem­ber 1881 in unse­re Pri­vat­kli­nik auf­ge­nom­men. Der Vater der Pati­en­tin lebt und ist über 70 Jah­re alt, die Mut­ter ist nach einer Ent­bin­dung gestor­ben; die Geschwis­ter sind gesund, nament­lich ist der Pati­en­tin nicht bekannt, dass irgend­ein Fami­li­en­mit­glied je an einem ernst­li­chen Magen­übel gelit­ten hätte.

Die Pati­en­tin ist bis jetzt nie bett­lä­ge­rig krank gewe­sen. Im 18. Lebens­jahr wur­de sie zum ers­ten Male menstruirt, die Menses kehr­ten mit Aus­nah­me einer ein­ma­li­gen län­ge­ren Unter­bre­chung regel­mäs­sig alle 4 Wochen wie­der. Im 24. Lebens­jahr hei­ra­the­te sie und gebar 3 Mal, das letz­te Mal im Febru­ar 1880 ein tod­tes Kind; die bei­den ers­ten Kin­der star­ben auch kurz nach der Geburt.

Die­ses Mal über­leb­te die Pati­en­tin den Ein­griff und wur­de am 4. Janu­ar 1882 ent­las­sen; zudem blieb der Anspruch, die­se Ope­ra­ti­on als Ers­ter durch­ge­führt zu haben, jetzt außer jedem Zweifel.

Von nun an führ­te Lud­wik Rydy­gier eine Viel­zahl wei­te­rer bahn­bre­chen­der Ein­grif­fe durch, die bis heu­te mit sei­nem Namen ver­bun­den geblie­ben sind. Sei­ne Metho­den fin­den immer noch vor allem in der Magen- und Darm­chir­ur­gie, aber auch in der Kar­dio­lo­gie, Uro­lo­gie und Gynä­ko­lo­gie Anwendung.

Krakau – auf dem Weg zu internationalem Renommee

1887 konn­te sich Lud­wik Rydy­gier bei einem Aus­wahl­ver­fah­ren für den Lehr­stuhl für Chir­ur­gie an der Jagiellonen-Universität in Kra­kau, der ältes­ten Uni­ver­si­tät Polens, als Ers­ter plat­zie­ren. Zu jener Zeit gehör­te die Stadt zur österreichisch-ungarischen Habs­bur­ger­mon­ar­chie. Da unter den gel­ten­den Bestim­mun­gen die polo­ni­sie­ren­de Ände­rung sei­nes Namens nicht aner­kannt wor­den wäre, kam es ihm zugu­te, dass er – zusam­men mit sei­ner Frau und sei­nen Söh­nen (Anto­ni Lud­wik und Józef Alek­san­der) – bereits die baye­ri­sche Staats­bür­ger­schaft ange­nom­men und dadurch das Recht erwor­ben hat­te, den pol­ni­schen Haus­na­men zu führen.

In den Jah­ren 1888/89 über­wach­te Rydy­gier in Kra­kau den Bau einer neu­en chir­ur­gi­schen Kli­nik und war Dekan der medi­zi­ni­schen Fakul­tät. Zu die­ser Zeit war die­se Fakul­tät eine sehr moder­ne Ein­rich­tung, in der eines­teils vie­le Pati­en­ten geheilt wer­den konn­ten und andern­teils  eine gro­ße Zahl von Medi­zin­stu­den­ten aus­ge­bil­det wur­de. Die Kli­nik ver­füg­te über mehr als 60 Bet­ten und drei Ope­ra­ti­ons­sä­le, von denen einer die Struk­tur eines Thea­trum ana­to­mic­um auf­wies, d. h. den Stu­die­ren­den wie in einem Amphi­thea­ter 150 Sitz- und 70 Steh­plät­ze bot, damit sie die Ope­ra­tio­nen opti­mal zu sehen und zu ver­fol­gen vermochten.

Wäh­rend der Zeit, in der Rydy­gier an der Jagiellonen-Universität lehr­te und die chir­ur­gi­sche Kli­nik lei­te­te, bil­de­te er vie­le her­vor­ra­gen­de Ärz­te aus. Zu sei­nen Assis­ten­ten an der Kli­nik gehör­ten Alek­san­der Bos­sow­ski (1858–1921), einer der Pio­nie­re der pol­ni­schen Mikro­bio­lo­gie; der Vor­rei­ter der Ortho­pä­die in Polen, Anto­ni Gab­ry­szew­ski (1864–1917); Win­cen­ty Łep­kow­ski (1866–1935), der sich hier gro­ße Ver­diens­te um die Ent­wick­lung der Zahn­me­di­zin erwarb; der Chir­urg und Uro­lo­ge Leon Kryń­ski (1866–1937), der Arzt und Phil­an­throp Bro­nisław Kozłow­ski (1869–1935) sowie Karol Kle­cki (1866–1931), ein Weg­be­rei­ter in der Erfor­schung der extra­kor­po­ra­len Gewebekultur.

In der Kra­kau­er Kli­nik fand 1889 auf Initia­ti­ve von Lud­wik Rydy­gier der ers­te Kon­gress der pol­ni­schen Chir­ur­gen statt. Die Sit­zun­gen dau­er­ten drei Tage und brach­ten rund 60 Spe­zia­lis­ten aus dem geteil­ten Polen zusam­men. Die damals begrün­de­te Tra­di­ti­on sol­cher Zusam­men­künf­te, bei denen die aktu­el­len und vor­dring­li­chen Pro­ble­me der Chir­ur­gie dis­ku­tiert wer­den, wird von der Gesell­schaft der Pol­ni­schen Chir­ur­gen bis heu­te gepflegt.

Neben sei­ner Wissenschafts‑, Lehr- und Orga­ni­sa­ti­ons­tä­tig­keit kämpf­te Rydy­gier aller­dings auch gegen die Zulas­sung von Frau­en zum Arzt­be­ruf. Sei­ne kon­ser­va­ti­ve Gesin­nung ließ Ver­tre­te­rin­nen des weib­li­ches Geschlecht nicht am OP-Tisch zu. In sei­nem Arti­kel »Über die Zulas­sung zum Medi­zin­stu­di­um«, den er 1895 in der schon mehr­fach zitier­ten Fach­zeit­schrift Prze­gląd Lekar­ski ver­öf­fent­lich­te, lesen wir: 

Wenn man die Sache für bare Mün­ze nimmt, ist die Gleich­stel­lung der Frau mit dem Man­ne Unsinn, weil sie den ewi­gen Geset­zen der Natur wider­spricht. Solan­ge die Frau dazu bestimmt ist, Kin­der zu gebä­ren und ihre Säug­lin­ge zu ernäh­ren, wie es schon der Auf­bau ihrer Orga­ne zeigt, kann von einer Gleich­stel­lung mit dem männ­li­chen Geschlecht kei­ne Rede sein. So hat Gott die Din­ge in der Natur geord­net oder – so sind die Din­ge in der Natur geord­net, so dass die Rol­len nicht nur bei den Men­schen, son­dern auch bei den Tie­ren und sogar bei den Pflan­zen ver­teilt sind.

Prze­gląd Lekar­ski [Ärz­te­blatt], Jg. 1895, Nr. 7, S. 99f.

So ana­chro­nis­tisch die­se Aus­füh­run­gen heu­te auch wir­ken mögen – Lud­wik Rydy­gier ver­trat zu jener Zeit eine Auf­fas­sung, die von den aller­meis­ten sei­ner Fach­kol­le­gen geteilt und ähn­lich apo­dik­tisch vor­ge­tra­gen wur­de. Gera­de im Bereich der Medi­zin und der Natur­wis­sen­schaf­ten war Frau­en des­halb in den meis­ten Staa­ten der Zugang zum Stu­di­um – und erst recht zu eigen­stän­di­gen For­schun­gen – noch für län­ge­re Zeit verwehrt. 

Lemberg und die Zeit des Ruhms

Nach zehn­jäh­ri­gem Wir­ken in Kra­kau hat­te Lud­wik Rydy­gier alle beruf­li­chen und wis­sen­schaft­li­chen Zie­le, die er sich gesteckt hat­te, erreicht und such­te nun nach neu­en Her­aus­for­de­run­gen. Dabei über­rasch­te er vie­le mit sei­ner Ent­schei­dung, nach Lem­berg zu gehen, in eine Stadt, die als »gro­ße Schwes­ter« Kra­kaus bekannt war, und an der neu eröff­ne­ten Uni­ver­si­tät die Lei­tung der Chir­ur­gi­schen Kli­nik zu über­neh­men. Die­se neue Ein­rich­tung ver­füg­te über vier Ope­ra­ti­ons­sä­le (von denen einer eben­falls eine amphi­thea­tra­li­sche Bau­form auf­wies) und erreich­te unter Rydy­giers Lei­tung schnell ein all­ge­mein aner­kann­tes hohes Niveau. 

Rydy­gier wur­de zwei­mal zum Dekan der Medi­zi­ni­schen Fakul­tät gewählt, ein­mal zum Pro­rek­tor und im Stu­di­en­jahr 1901/1902 sogar zum Rek­tor der Uni­ver­si­tät. In die­ser Funk­ti­on wur­de er zugleich Abge­ord­ne­ter des Gali­zi­schen Land­tags. Schon 1897, im Jahr sei­nes Dienst­an­tritts in Lem­berg, hat­te ihm Kai­ser Franz Joseph I. von Öster­reich den Titel eines Hof­rats ver­lie­hen; ein Jahr spä­ter erhielt er von Papst Leo XIII. den Gregorius-Orden im Rang eines Kom­turs; und im Jah­re 1903 erhob ihn der Kai­ser in den Adels­stand. Von nun an führ­te er ein Wap­pen mit der – sei­nen Cha­rak­ter treff­lich wider­spie­geln­den – Devi­se: »Viel Feind, viel Ehr«.

Welch hohes Anse­hen Lud­wik Rydy­gier zu die­ser Zeit auch in der medi­zi­ni­schen Wis­sen­schaft genoss, lässt sich dar­an able­sen, dass ihm 1903 der Lehr­stuhl für Chir­ur­gie an der Uni­ver­si­tät Prag ange­tra­gen wur­de. Bei den Blei­be­ver­hand­lun­gen erfüll­te die Uni­ver­si­tät Lem­berg sei­ne For­de­rung, die Kli­nik zu erwei­tern. So gab Rydy­gier der Wei­ter­ent­wick­lung des eige­nen Insti­tuts und dem Wohl der Pati­en­ten und sei­ner Mit­ar­bei­ter den Vor­zug gegen­über dem Pres­ti­ge einer her­aus­ra­gen­den neu­en Posi­ti­on an der Uni­ver­si­tas Caro­li­na: Er dank­te den Böh­men für die Ein­la­dung, lehn­te den Ruf aber mit der Begrün­dung ab, dass er nicht über hin­läng­li­che Tschechisch-Kenntnisse verfügte.

Die letzten Lebensjahre (von 1914 bis 1920)

Die­ses sprach­li­che Defi­zit hin­der­te Lud­wik Rydy­gier aller­dings nicht dar­an, wäh­rend des Ers­ten Welt­krie­ges ein Laza­rett im tsche­chi­schen Brünn zu lei­ten. Nach dem Ende des Krie­ges kehr­te er nach Lem­berg zurück, wo er 1918 die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung der pol­ni­schen Trup­pen orga­ni­sier­te, die die Stadt gegen die Angrif­fe der Ukrai­ner ver­tei­dig­ten. Im Ver­lauf die­ser Kämp­fe wur­de Rydy­giers Frau ver­wun­det und starb bald dar­auf an ihren Ver­let­zun­gen, was für ihn ein har­ter Schlag gewe­sen sein muss.

Im 1919 wie­der­her­ge­stell­ten pol­ni­schen Staat wur­de Rydy­gier im Rang eines Arz­tes und Gene­ral­leut­nants in die Reser­ve der pol­ni­schen Armee ein­be­ru­fen. Für den damals fast 69-Jährigen war dies im Grun­de die Erfül­lung sei­nes Jugend­traums, nach dem Schul­ab­schluss Offi­zier zu wer­den. Gleich­zei­tig enga­gier­te er sich vol­ler Taten­drang für den Auf­bau der medi­zi­ni­schen Fakul­tät an der neu gegrün­de­ten Uni­ver­si­tät Posen. Dort bot er von sich aus an, den Lehr­stuhl für Chir­ur­gie zu übernehmen. 

Dies war nicht der ein­zi­ge Wen­de­punkt in sei­nem Leben. Wäh­rend sei­nes Auf­ent­halts in sei­ner Hei­mat­re­gi­on, wo er Lei­ter des Sani­täts­diens­tes der pol­ni­schen Armee wur­de, hei­ra­te­te er erneut, und zwar Ade­la Alber­ty­na, die Leh­re­rin sei­ner Söh­ne. Des­halb plan­te er, dau­er­haft dort­hin zu zie­hen, und woll­te in Dir­schau ein Insti­tut für pol­ni­sche Chir­ur­gie grün­den. Um die­se Plä­ne in Angriff neh­men zu kön­nen, ver­äu­ßer­te er sei­nen gesam­ten Besitz. Unglück­li­cher­wei­se wur­de die Pol­ni­sche Mark am Tag nach der Unter­zeich­nung des Kauf­ver­trags abge­wer­tet, wodurch Rydy­gier um den finan­zi­el­le Ertrag sei­nes Lebens­werks gebracht wur­de. Die­ser Schock war zu viel für den fast 70 Jah­re alten Mann: Er starb am 25. Juni 1920 an einem Herz­in­farkt. Sei­ne letz­te Ruhe­stät­te fand er auf dem Lychakiv-Friedhof in Lemberg.

Rydygiers Nachleben

Lud­wik Rydy­gier hat­te drei Kin­der, eine Toch­ter und zwei Söh­ne. Der ältes­te Sohn, Anto­ni Lud­wik (1878–1966), wur­de Arzt und Chir­urg. Bezeich­nen­der­wei­se tra­ten auch der Enkel Lud­wik (1927–2001) sowie der Uren­kel Ricar­do (* 1956, Pro­fes­sor für Chir­ur­gie in Curi­ti­ba, Bra­si­li­en) in die Fuß­stap­fen ihres Groß- bzw. Urgroß­va­ters, so dass sich gera­de­zu von der Grün­dung einer regel­rech­ten Chirurgen-Dynastie spre­chen lässt. Zur fort­wäh­ren­den Wir­kungs­ge­schich­te tra­gen erst recht die Schü­ler des Hoch­schul­leh­rers bei, die die nächs­ten Gene­ra­tio­nen aus­ge­bil­det und sie gelehrt haben, die Erin­ne­rung an den gro­ßen Arzt, Chir­ur­gen und Päd­ago­gen wach­zu­hal­ten und immer wei­ter zu tradieren.

Wie bei jedem Wis­sen­schaft­ler beruht die Dyna­mik sei­nes Nach­le­bens auch wesent­lich auf den Metho­den, die er ein­ge­führt hat und die mit sei­nem Namen ver­bun­den blei­ben, sowie auf sei­nem Œuvre, das etwa 250, auf Pol­nisch und Deutsch, aber auch auf Fran­zö­sisch publi­zier­te Titel umfasst und das Rydy­gier von 1873 bis 1920 ste­tig ent­fal­tet hat.

Spu­ren der Erin­ne­rung an Lud­wik Rydy­gier fin­den sich an einer Viel­zahl von Orten. In Polen tra­gen meh­re­re Kran­ken­häu­ser sei­nen Namen; in jeder grö­ße­ren pol­ni­schen Stadt ist ihm eine Stra­ße gewid­met wor­den; und in Kulm, wo er sein Abitur ableg­te und sei­ne bahn­bre­chen­den Ope­ra­tio­nen durch­führ­te, wur­de ihm ein Denk­mal errich­tet. Zudem bie­tet das dor­ti­ge »Muse­um des Kul­mer Lan­des« in sei­ner Dau­er­aus­stel­lung auch eine eige­ne Abtei­lung, in der das Leben und Schaf­fen Lud­wik Rydy­giers gewür­digt wird. Nicht zuletzt  kön­nen  inter­es­sier­te Besu­cher der Stadt heu­te noch in der ul. Dwor­co­wa 9A das Gebäu­de besich­ti­gen, in dem sich, wor­auf eine Gedenk­ta­fel hin­weist, die berühm­te Rydygier-Klinik befand.

Anläss­lich des 100. Todes­ta­ges von Lud­wik Rydy­gier hat der Senat der Repu­blik Polen einen Beschluss zum Geden­ken an den bedeu­ten­den Chir­ur­gen ver­ab­schie­det und das Jahr 2020 zum »Rydygier-Jahr« erklärt. Aus die­sem Anlass und auf Initia­ti­ve der Gebiets­kör­per­schaft der Woi­wod­schaft Kujawien-Pommern berei­te­te die Thor­ner Książ­ni­ca Koper­ni­kańs­ka, die Regio­na­le Öffent­li­che Biblio­thek, eine Son­der­aus­stel­lung vor, die vom Ver­fas­ser des vor­lie­gen­den Bei­trags kura­tiert wor­den ist. Eben­falls im Jahr 2020 began­nen – bis heu­te noch andau­ern­de – Reno­vie­rungs­ar­bei­ten auf dem Riediger-Gut in Dus­o­cin, wo Lud­wig 1850 zur Welt gekom­men war.

Mari­usz Balcerek

Über­set­zung aus dem Pol­ni­schen:
Anna Maria Władyka-Leittretter