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Der bedeutende Chirurg Ludwig Riediger bzw. Ludwik Rydygier–

geboren als Deutscher, gestorben als Pole

Kindheit und Schulzeit

Ludwig (Ludwik, Ludvig) Riediger, wie sein ursprüng­licher Name lautete, wurde wahrscheinlich am 21. August des Jahres 1850 geboren. Manche Quellen nennen zwar den 18. August, aber die ausge­wie­senen Biogra­phinnen und Biographen des berühmten Chirurgen – Stanisław Sokół, Antoni Czupryna und Anita Orzeł-Nowak – weisen darauf hin, dass der 21. August der Wahrheit am nächsten kommt. Riediger kam auf dem einige Kilometer nördlich von Graudenz gelegenen Gut Dossoczyn in Westpreußen (heute Dusocin) zur Welt. Seine Eltern waren Carl Ferdinand Riediger und Elisabeth, geb. König (Kenik). Außer Ludwig hatten die beiden vermutlich noch sieben weitere Kinder.

Drei Jahre nach Ludwigs Geburt veräu­ßerten die Riedigers das Anwesen in Dossoczyn und kauften ein Gut in Grabowitz in der Nähe von Preußisch Stargard. Dort wuchs der Junge auf und erhielt seine erste Schul­bildung. Trotz ihres deutschen Nachnamens fühlten sich Ludwigs Eltern stärker als Polen und erzogen ihre Kinder im Geist der polni­schen Sprache und Kultur. Dass Ludwig dabei das Erlernen der deutschen Sprache vernach­lässigt hatte, zeigte sich, nachdem er den Privat­un­ter­richt zu Hause abgeschlossen hatte.

Ludwigs erste Schule war das Gymnasium in Konitz. Die Unter­richts­sprache war Deutsch, was dem jungen Riediger Schwie­rig­keiten bereitete. Er hielt es dort nur ein Jahr aus, und sein Vater musste ihn an einer neuen Schule anmelden, und zwar am Collegium Marianum in Pelplin, an dem Polnisch die Unter­richts­sprache bildete. Dort wieder­holte Ludwig das Schuljahr und absol­vierte danach die anschlie­ßenden Jahrgänge; da das Collegium aber nicht über die letzten beiden Klassen verfügte, musste er, um das Abitur ablegen zu können, nochmals die Schule wechseln. Deshalb trat er nun in das renom­mierte König­liche Katho­lische Gymnasium in Kulm ein.

Studium und Namensänderung

1869 legte Ludwig Riediger die Reife­prüfung ab, die ihm die Tür zum Univer­si­täts­studium öffnete. Ursprünglich wollte der Absolvent eine militä­rische Laufbahn einschlagen, entschied sich dann aber für das Studium der Medizin. Um diesen Traum zu verwirk­lichen, musste Ludwig aller­dings die nötigen Geldmittel aufbringen. Deshalb schrieb er einen entspre­chenden Antrag an die »Wissen­schaft­liche Hilfs­ge­sell­schaft«, die Towar­zystwo Pomocy Naukowej (TPN) in Thorn. Die TPN war eine sozial­päd­ago­gische Organi­sation, die sich zum Ziel gesetzt hatte, begabte polnische Jugend­liche aus nicht vermö­genden Milieus in Preußen zu unter­stützen. Sie war zwischen 1848 und 1921 in Thorn aktiv und ermög­lichte in dieser Zeit vielen Polen Zugang zur akade­mi­schen Bildung. Ludwigs Antrag vom 11. Oktober 1869 trägt einen Geneh­mi­gungs­vermerk vom 16. November, unter­zeichnet von Stanisław Węclewski (1820–1893), der Polnisch­lehrer am Gymnasium in Kulm sowie Sekretär und Schatz­meister der TPN war.

Nachdem Ludwig Riediger das Stipendium erhalten hatte, konnte er sich für das Medizin­studium an der Univer­sität Greifswald einschreiben. Dort begegnete er vielen polni­schen Kommi­li­tonen. Er studierte bis 1872 an der Ostsee, wechselte kurz nach Berlin und dann nach Straßburg, bevor er schließlich nach Greifswald zurück­kehrte. Seine Studi­en­ergeb­nisse lagen im oberen Bereich der Noten­skala. Auf einem erhal­tenen Zeugnis aus dem Jahr 1871 erhielt er in den Fächern Anatomie, Psycho­logie, Physik, Chemie und Minera­logie das Prädikat »gut«. Schwerer tat er sich mit Botanik und Zoologie: In diesen Fächern erhielt er die Note »genügend«. 1873 bestand er in Greifswald das Staats­examen als Arzt. Ein Jahr später vertei­digte er an derselben Univer­sität seine Doktor­arbeit Experi­men­telle Beiträge zur Lehre von der Wirkung der Carbon­säure, die er unter der Betreuung von Professor Carl Hueter angefertigt hatte. Im Jahr 1878 habili­tierte er sich an der Univer­sität Jena mit der Schrift Eine neue Methode zur Behandlung von Pseudo­ar­throse.

Während seines Studiums in Greifswald hatte Ludwig aktiv am Univer­si­täts­leben teilge­nommen. 1870 unter­zeichnete er als Mitglied einer Gruppe von 19 Studenten eine Petition an die Univer­si­täts­be­hörden zur Geneh­migung der Satzung des »Polni­schen Akademiker-Kreises Polonia« (Koło Akade­mików Polaków Polonia). Zwei Jahre später begann Ludwig, mit dem Namen »Rydygier« zu unter­schreiben. Diese eigen­ständige Namens­än­derung und seine pro-polnischen Aktivi­täten brachten ihm adminis­trative Schwie­rig­keiten ein: Ihm wurden Geldbußen auferlegt, und er wurde sogar für ein Jahr vom Studium ausge­schlossen. Diese Strafen änderten jedoch nichts an seiner Einstellung, auch wenn er zunächst noch für eine gewisse Zeit zu seinem ursprüng­lichen Namen zurück­kehren musste. Auf seiner Disser­tation und seiner Habili­ta­ti­ons­schrift steht noch »Riediger«, aber auf anderen Veröf­fent­li­chungen – sowohl in deutscher wie auch in polni­scher Sprache – findet man dann stets den Namen »Rydygier«.

Kulm – wegweisende Operationen und Veröffentlichungen

Nach seinem Studium und mehreren Arztpraktika war Ludwig nach Kulm zurück­ge­kehrt, wohin inzwi­schen auch seine Eltern gezogen waren. Dort heiratete er, wahrscheinlich 1875 oder 1876, Maria Waleria, geb. Borkowska, eine fast 14 Jahre ältere, aller­dings wohlha­bende Frau. Diese Eheschließung ermög­lichte ihm 1878 die Gründung einer Privat­klinik für chirur­gische, Augen- und Frauen­krank­heiten. Nach der Auskunft damaliger Kenner war die Praxis von Dr. Rydygier modern ausge­stattet und beschäf­tigte gute Fachkräfte. Sie verfügte über 25 Betten und einen Opera­ti­onssaal. Jährlich wurden dort etwa 2.000 Patienten behandelt.

Ein Beweis für die Fortschritt­lichkeit ist die Tatsache, dass bereits 1880 eine Operation durch­ge­führt wurde, bei der ein Krebs­ge­schwür am Pylorus (dem »Pförtner«) des Magens entfernt wurde. Der verblei­bende Teil des Magens wurde durch Anastomose mit dem Zwölf­fin­gerdarm verbunden. Solch ein Eingriff war bis dahin weltweit erst ein einziges Mal durch­ge­führt worden, und zwar im Jahre 1879 von dem Franzosen Jules-Émile Péan, der die medizi­ni­schen Fachkreise aller­dings nur allgemein davon in Kenntnis gesetzt hatte. 

Obwohl sein Patient zwölf Stunden nach der Operation verstorben war, hatte Ludwik Rydygier eine Pionier­leistung erbracht und beschloss, das Verfahren ausführlich zu erörtern. Dabei konnte er noch weitere Innova­tionen hervor­heben, denn er hatte eine neue Art der Schnitt­technik entwi­ckelt und zudem spezielle Kompressen (»elastische Compress­orien«) verwendet. Der Artikel wurde im Dezember 1880 zunächst in polni­scher Sprache in der Zeitschrift Przegląd Lekarski [Ärzte­blatt] veröf­fent­licht. Einige Monate später erschien er unter dem Titel »Exstir­pation des carino­ma­tösen Pylorus. Tod nach zwölf Stunden« auch auf Deutsch.

Der polnische Artikel wurde vom Chirurgen Theodor Billroth (1829–1894) – vermutlich aufgrund der Sprach­bar­riere – nicht wahrge­nommen, denn er führte im Januar 1881 in Wien die dritte Operation dieser Art durch und beschrieb sie ebenfalls ausführlich. Der mehr als zwanzig Jahre ältere und längst etablierte Deutsch-Österreicher erfreute sich in der Welt der Medizin großer Anerkennung und wurde als Professor an der Univer­sität Wien viel eher wahrge­nommen als der noch weitgehend unbekannte Chirurg Rydygier aus der westpreu­ßi­schen Provinz­stadt Kulm. Deshalb wurde die Errun­gen­schaft der »Exstir­pation des carino­ma­tösen Pylorus« Theodor Billroth zugeschrieben, und bald setzte sich dafür die Bezeichnung »Billroth I‑Methode« durch, gegen die Ludwik und seine Freunde und Gefolgs­leute fast ein Viertel­jahr­hundert lang erfolglos ankämpften. Nur in Polen wird dieser Eingriff heute noch als »Rydygier-Methode« bezeichnet. 

Im November 1881 führte Rydygier in seiner Kulmer Klinik eine weitere bahnbre­chende Operation durch. Es handelte sich um die Entfernung eines Magen­ge­schwürs, und diesmal war es der erste Eingriff dieser Art weltweit. Noch im selben Jahr beschrieb Rydygier diesen Eingriff in einem polnisch­spra­chigen Artikel, der wiederum im Przegląd Lekarski [Ärzte­blatt] erschien und im folgenden Jahr auch auf Deutsch veröf­fent­licht wurde.

Bei der Lektüre dieses Textes erhalten wir einen Eindruck davon, wie damals noch mit perso­nen­be­zo­genen Daten umgegangen wurde (was uns heute, im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhun­derts, geradezu schockieren dürfte): 

Karoline Pfeing, 30 Jahre alt, aus Briesen, wurde am 16. November 1881 in unsere Privat­klinik aufge­nommen. Der Vater der Patientin lebt und ist über 70 Jahre alt, die Mutter ist nach einer Entbindung gestorben; die Geschwister sind gesund, namentlich ist der Patientin nicht bekannt, dass irgendein Famili­en­mit­glied je an einem ernst­lichen Magenübel gelitten hätte.

Die Patientin ist bis jetzt nie bettlä­gerig krank gewesen. Im 18. Lebensjahr wurde sie zum ersten Male menstruirt, die Menses kehrten mit Ausnahme einer einma­ligen längeren Unter­bre­chung regel­mässig alle 4 Wochen wieder. Im 24. Lebensjahr heira­thete sie und gebar 3 Mal, das letzte Mal im Februar 1880 ein todtes Kind; die beiden ersten Kinder starben auch kurz nach der Geburt.

Dieses Mal überlebte die Patientin den Eingriff und wurde am 4. Januar 1882 entlassen; zudem blieb der Anspruch, diese Operation als Erster durch­ge­führt zu haben, jetzt außer jedem Zweifel.

Von nun an führte Ludwik Rydygier eine Vielzahl weiterer bahnbre­chender Eingriffe durch, die bis heute mit seinem Namen verbunden geblieben sind. Seine Methoden finden immer noch vor allem in der Magen- und Darmchir­urgie, aber auch in der Kardio­logie, Urologie und Gynäko­logie Anwendung.

Krakau – auf dem Weg zu internationalem Renommee

1887 konnte sich Ludwik Rydygier bei einem Auswahl­ver­fahren für den Lehrstuhl für Chirurgie an der Jagiellonen-Universität in Krakau, der ältesten Univer­sität Polens, als Erster platzieren. Zu jener Zeit gehörte die Stadt zur österreichisch-ungarischen Habsbur­ger­mon­archie. Da unter den geltenden Bestim­mungen die poloni­sie­rende Änderung seines Namens nicht anerkannt worden wäre, kam es ihm zugute, dass er – zusammen mit seiner Frau und seinen Söhnen (Antoni Ludwik und Józef Aleksander) – bereits die bayerische Staats­bür­ger­schaft angenommen und dadurch das Recht erworben hatte, den polni­schen Hausnamen zu führen.

In den Jahren 1888/89 überwachte Rydygier in Krakau den Bau einer neuen chirur­gi­schen Klinik und war Dekan der medizi­ni­schen Fakultät. Zu dieser Zeit war diese Fakultät eine sehr moderne Einrichtung, in der eines­teils viele Patienten geheilt werden konnten und andern­teils  eine große Zahl von Medizin­stu­denten ausge­bildet wurde. Die Klinik verfügte über mehr als 60 Betten und drei Opera­ti­onssäle, von denen einer die Struktur eines Theatrum anato­micum aufwies, d. h. den Studie­renden wie in einem Amphi­theater 150 Sitz- und 70 Stehplätze bot, damit sie die Opera­tionen optimal zu sehen und zu verfolgen vermochten.

Während der Zeit, in der Rydygier an der Jagiellonen-Universität lehrte und die chirur­gische Klinik leitete, bildete er viele hervor­ra­gende Ärzte aus. Zu seinen Assis­tenten an der Klinik gehörten Aleksander Bossowski (1858–1921), einer der Pioniere der polni­schen Mikro­bio­logie; der Vorreiter der Ortho­pädie in Polen, Antoni Gabry­szewski (1864–1917); Wincenty Łepkowski (1866–1935), der sich hier große Verdienste um die Entwicklung der Zahnme­dizin erwarb; der Chirurg und Urologe Leon Kryński (1866–1937), der Arzt und Philan­throp Bronisław Kozłowski (1869–1935) sowie Karol Klecki (1866–1931), ein Wegbe­reiter in der Erfor­schung der extra­kor­po­ralen Gewebekultur.

In der Krakauer Klinik fand 1889 auf Initiative von Ludwik Rydygier der erste Kongress der polni­schen Chirurgen statt. Die Sitzungen dauerten drei Tage und brachten rund 60 Spezia­listen aus dem geteilten Polen zusammen. Die damals begründete Tradition solcher Zusam­men­künfte, bei denen die aktuellen und vordring­lichen Probleme der Chirurgie disku­tiert werden, wird von der Gesell­schaft der Polni­schen Chirurgen bis heute gepflegt.

Neben seiner Wissenschafts‑, Lehr- und Organi­sa­ti­ons­tä­tigkeit kämpfte Rydygier aller­dings auch gegen die Zulassung von Frauen zum Arztberuf. Seine konser­vative Gesinnung ließ Vertre­te­rinnen des weibliches Geschlecht nicht am OP-Tisch zu. In seinem Artikel »Über die Zulassung zum Medizin­studium«, den er 1895 in der schon mehrfach zitierten Fachzeit­schrift Przegląd Lekarski veröf­fent­lichte, lesen wir: 

Wenn man die Sache für bare Münze nimmt, ist die Gleich­stellung der Frau mit dem Manne Unsinn, weil sie den ewigen Gesetzen der Natur wider­spricht. Solange die Frau dazu bestimmt ist, Kinder zu gebären und ihre Säuglinge zu ernähren, wie es schon der Aufbau ihrer Organe zeigt, kann von einer Gleich­stellung mit dem männlichen Geschlecht keine Rede sein. So hat Gott die Dinge in der Natur geordnet oder – so sind die Dinge in der Natur geordnet, so dass die Rollen nicht nur bei den Menschen, sondern auch bei den Tieren und sogar bei den Pflanzen verteilt sind.

Przegląd Lekarski [Ärzte­blatt], Jg. 1895, Nr. 7, S. 99f.

So anachro­nis­tisch diese Ausfüh­rungen heute auch wirken mögen – Ludwik Rydygier vertrat zu jener Zeit eine Auffassung, die von den aller­meisten seiner Fachkol­legen geteilt und ähnlich apodik­tisch vorge­tragen wurde. Gerade im Bereich der Medizin und der Natur­wis­sen­schaften war Frauen deshalb in den meisten Staaten der Zugang zum Studium – und erst recht zu eigen­stän­digen Forschungen – noch für längere Zeit verwehrt. 

Lemberg und die Zeit des Ruhms

Nach zehnjäh­rigem Wirken in Krakau hatte Ludwik Rydygier alle beruf­lichen und wissen­schaft­lichen Ziele, die er sich gesteckt hatte, erreicht und suchte nun nach neuen Heraus­for­de­rungen. Dabei überraschte er viele mit seiner Entscheidung, nach Lemberg zu gehen, in eine Stadt, die als »große Schwester« Krakaus bekannt war, und an der neu eröff­neten Univer­sität die Leitung der Chirur­gi­schen Klinik zu übernehmen. Diese neue Einrichtung verfügte über vier Opera­ti­onssäle (von denen einer ebenfalls eine amphi­thea­tra­lische Bauform aufwies) und erreichte unter Rydygiers Leitung schnell ein allgemein anerkanntes hohes Niveau. 

Rydygier wurde zweimal zum Dekan der Medizi­ni­schen Fakultät gewählt, einmal zum Prorektor und im Studi­enjahr 1901/1902 sogar zum Rektor der Univer­sität. In dieser Funktion wurde er zugleich Abgeord­neter des Galizi­schen Landtags. Schon 1897, im Jahr seines Dienst­an­tritts in Lemberg, hatte ihm Kaiser Franz Joseph I. von Öster­reich den Titel eines Hofrats verliehen; ein Jahr später erhielt er von Papst Leo XIII. den Gregorius-Orden im Rang eines Komturs; und im Jahre 1903 erhob ihn der Kaiser in den Adels­stand. Von nun an führte er ein Wappen mit der – seinen Charakter trefflich wider­spie­gelnden – Devise: »Viel Feind, viel Ehr«.

Welch hohes Ansehen Ludwik Rydygier zu dieser Zeit auch in der medizi­ni­schen Wissen­schaft genoss, lässt sich daran ablesen, dass ihm 1903 der Lehrstuhl für Chirurgie an der Univer­sität Prag angetragen wurde. Bei den Bleibe­ver­hand­lungen erfüllte die Univer­sität Lemberg seine Forderung, die Klinik zu erweitern. So gab Rydygier der Weiter­ent­wicklung des eigenen Instituts und dem Wohl der Patienten und seiner Mitar­beiter den Vorzug gegenüber dem Prestige einer heraus­ra­genden neuen Position an der Univer­sitas Carolina: Er dankte den Böhmen für die Einladung, lehnte den Ruf aber mit der Begründung ab, dass er nicht über hinläng­liche Tschechisch-Kenntnisse verfügte.

Die letzten Lebensjahre (von 1914 bis 1920)

Dieses sprach­liche Defizit hinderte Ludwik Rydygier aller­dings nicht daran, während des Ersten Weltkrieges ein Lazarett im tsche­chi­schen Brünn zu leiten. Nach dem Ende des Krieges kehrte er nach Lemberg zurück, wo er 1918 die medizi­nische Versorgung der polni­schen Truppen organi­sierte, die die Stadt gegen die Angriffe der Ukrainer vertei­digten. Im Verlauf dieser Kämpfe wurde Rydygiers Frau verwundet und starb bald darauf an ihren Verlet­zungen, was für ihn ein harter Schlag gewesen sein muss.

Im 1919 wieder­her­ge­stellten polni­schen Staat wurde Rydygier im Rang eines Arztes und General­leut­nants in die Reserve der polni­schen Armee einbe­rufen. Für den damals fast 69-Jährigen war dies im Grunde die Erfüllung seines Jugend­traums, nach dem Schul­ab­schluss Offizier zu werden. Gleich­zeitig engagierte er sich voller Taten­drang für den Aufbau der medizi­ni­schen Fakultät an der neu gegrün­deten Univer­sität Posen. Dort bot er von sich aus an, den Lehrstuhl für Chirurgie zu übernehmen. 

Dies war nicht der einzige Wende­punkt in seinem Leben. Während seines Aufent­halts in seiner Heimat­region, wo er Leiter des Sanitäts­dienstes der polni­schen Armee wurde, heiratete er erneut, und zwar Adela Albertyna, die Lehrerin seiner Söhne. Deshalb plante er, dauerhaft dorthin zu ziehen, und wollte in Dirschau ein Institut für polnische Chirurgie gründen. Um diese Pläne in Angriff nehmen zu können, veräu­ßerte er seinen gesamten Besitz. Unglück­li­cher­weise wurde die Polnische Mark am Tag nach der Unter­zeichnung des Kaufver­trags abgewertet, wodurch Rydygier um den finan­zielle Ertrag seines Lebens­werks gebracht wurde. Dieser Schock war zu viel für den fast 70 Jahre alten Mann: Er starb am 25. Juni 1920 an einem Herzin­farkt. Seine letzte Ruhestätte fand er auf dem Lychakiv-Friedhof in Lemberg.

Rydygiers Nachleben

Ludwik Rydygier hatte drei Kinder, eine Tochter und zwei Söhne. Der älteste Sohn, Antoni Ludwik (1878–1966), wurde Arzt und Chirurg. Bezeich­nen­der­weise traten auch der Enkel Ludwik (1927–2001) sowie der Urenkel Ricardo (* 1956, Professor für Chirurgie in Curitiba, Brasilien) in die Fußstapfen ihres Groß- bzw. Urgroß­vaters, so dass sich geradezu von der Gründung einer regel­rechten Chirurgen-Dynastie sprechen lässt. Zur fortwäh­renden Wirkungs­ge­schichte tragen erst recht die Schüler des Hochschul­lehrers bei, die die nächsten Genera­tionen ausge­bildet und sie gelehrt haben, die Erinnerung an den großen Arzt, Chirurgen und Pädagogen wachzu­halten und immer weiter zu tradieren.

Wie bei jedem Wissen­schaftler beruht die Dynamik seines Nachlebens auch wesentlich auf den Methoden, die er einge­führt hat und die mit seinem Namen verbunden bleiben, sowie auf seinem Œuvre, das etwa 250, auf Polnisch und Deutsch, aber auch auf Franzö­sisch publi­zierte Titel umfasst und das Rydygier von 1873 bis 1920 stetig entfaltet hat.

Spuren der Erinnerung an Ludwik Rydygier finden sich an einer Vielzahl von Orten. In Polen tragen mehrere Kranken­häuser seinen Namen; in jeder größeren polni­schen Stadt ist ihm eine Straße gewidmet worden; und in Kulm, wo er sein Abitur ablegte und seine bahnbre­chenden Opera­tionen durch­führte, wurde ihm ein Denkmal errichtet. Zudem bietet das dortige »Museum des Kulmer Landes« in seiner Dauer­aus­stellung auch eine eigene Abteilung, in der das Leben und Schaffen Ludwik Rydygiers gewürdigt wird. Nicht zuletzt  können  inter­es­sierte Besucher der Stadt heute noch in der ul. Dworcowa 9A das Gebäude besich­tigen, in dem sich, worauf eine Gedenk­tafel hinweist, die berühmte Rydygier-Klinik befand.

Anlässlich des 100. Todes­tages von Ludwik Rydygier hat der Senat der Republik Polen einen Beschluss zum Gedenken an den bedeu­tenden Chirurgen verab­schiedet und das Jahr 2020 zum »Rydygier-Jahr« erklärt. Aus diesem Anlass und auf Initiative der Gebiets­kör­per­schaft der Woiwod­schaft Kujawien-Pommern bereitete die Thorner Książnica Koper­ni­kańska, die Regionale Öffent­liche Bibliothek, eine Sonder­aus­stellung vor, die vom Verfasser des vorlie­genden Beitrags kuratiert worden ist. Ebenfalls im Jahr 2020 begannen – bis heute noch andau­ernde – Renovie­rungs­ar­beiten auf dem Riediger-Gut in Dusocin, wo Ludwig 1850 zur Welt gekommen war.

Mariusz Balcerek

Übersetzung aus dem Polni­schen:
Anna Maria Władyka-Leittretter