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Das Neue Jerusalem auf drei Hügeln der Kaschubei

Der Kalvarienberg von Neustadt

Von Magdalena Pasewicz-Rybacka

Auf dem Gebiet der früheren Provinz Westpreußen gibt es eine Reihe mittelgroßer Städte, die sich durch eine jahrhundertealte Geschichte und bedeutende Bauwerke auszeichnen. Einer dieser Orte ist Neustadt, eine Stadt, die gut 50 Kilometer nordwestlich von Danzig liegt.

Die spirituelle Hauptstadt der Kaschubei

Neu­stadt ist ein dyna­mi­sches Wirt­schafts­zen­trum, beher­bergt die Kreis­ver­wal­tung und bil­det im Ein­zugs­ge­biet der Drei­stadt eine attrak­ti­ve Tra­ban­ten­stadt. Zugleich ist Neu­stadt auch bei Tou­ris­ten beliebt. Rei­sen­de kön­nen hier bei­spiels­wei­se das im 18. Jahr­hun­dert errich­te­te und spä­ter­hin umge­stal­te­te Schloss der Fami­li­en Prz­eben­dow­ski bzw. Key­ser­lingk besich­ti­gen, das heu­te das Muse­um für Kaschubisch-­Pommersche Lite­ra­tur und Musik beher­bergt, sowie den male­ri­schen Aleksander-Majkowski-­Park oder den reprä­sen­ta­ti­ven Markt­platz besu­chen. Die­se Sehens­wür­dig­kei­ten wer­den in ihrer Strahl­kraft aber noch deut­lich von dem Kal­va­ri­en­berg über­trof­fen, der sich mit sei­nen 25 Kapel­len auf den bewal­de­ten Hügeln rund um das his­to­ri­sche Zen­trum befindet.

Kal­va­ri­en­ber­ge, auf denen Kapel­len oder Kir­chen die Pas­si­ons­sta­tio­nen reprä­sen­tie­ren, wur­den ab dem 15. Jahr­hun­dert in ganz Euro­pa errich­tet. Dabei wur­de dar­auf geach­tet, dass ihre Lage so weit wie mög­lich Ört­lich­kei­ten in Jeru­sa­lem ähnel­ten, die aus der Bibel ver­traut waren; denn die Pil­ger­fahrt zu einem Kal­va­ri­en­berg war im spi­ri­tu­el­len Sin­ne ein Ersatz für eine Pil­ger­fahrt nach Jeru­sa­lem – vor allem in einer Zeit, in der der Zugang zur „hei­li­gen Stadt“ aus ver­schie­de­nen Grün­den unmög­lich war.

In Euro­pa sind knapp 2.000 sol­cher Anla­gen gebaut wor­den. Die meis­ten in Deutsch­land, Öster­reich, Ungarn und Polen. Der ältes­te pol­ni­sche Kal­va­ri­en­berg wur­de 1602 von dem Kra­kau­er Woi­wo­den Mikołaj Zebrzy­dow­ski gegrün­det und bil­de­te die Keim­zel­le der süd­polni­schen Klein­stadt Kal­wa­ria Zebrzy­dows­ka. Die Anla­ge in Neu­stadt folg­te nur ein hal­bes Jahr­hun­dert spä­ter; ihre ers­ten Kapel­len ent­stan­den Mit­te des 17. Jahr­hun­derts. Der Initia­tor war einer der bedeu­tends­ten Ver­tre­ter des hin­ter­pom­mer­schen Adels: Jakob von Wei­er (Jakub Wejher).

Die Erfüllung eines Schwurs

Jakob Wei­her wur­de 1609 als Sohn des Kul­mer Woi­wo­den Jan Wei­her und Anna Szc­za­wińs­kas, der Toch­ter eines Sta­ros­ten, gebo­ren. Der Stamm­sitz der Fami­lie befand sich ursprüng­lich in der Nähe von Würz­burg, aber schon in der zwei­ten Hälf­te des 14. Jahr­hun­derts sie­del­ten sich die Vor­fah­ren in Pom­mern an. Der Groß­va­ter, Ernest Wei­her (1517–1598), war 1560 in den Dienst des pol­ni­schen Königs getre­ten. Unter Sigis­mund August, aber auch nach dem Tod des letz­ten Jagiel­lo­nen hat­te er sich zahl­rei­che mili­tä­ri­sche Ver­diens­te erwor­ben. So nahm er z. B. an Ste­phan Bátho­rys 1579 begin­nen­den Feld­zü­gen gegen Russ­land teil. Die­se Erfol­ge brach­ten ihm auch irdi­sche Güter ein, so dass er in nur weni­gen Jahr­zehn­ten zu einem der reichs­ten Magna­ten im König­li­chen Preu­ßen auf­stieg. Gegen Ende sei­nes Lebens ent­sag­te er schließ­lich dem Pro­tes­tan­tis­mus und kon­ver­tier­te zum katho­li­schen Glauben.

Mit sei­ner unver­brüch­li­chen Loya­li­tät gegen­über den pol­ni­schen Köni­gen sowie mit sei­nem Katho­li­zis­mus hat­te Ernest Wei­her den nach­fol­gen­den Gene­ra­tio­nen unmiss­ver­ständ­li­che Ori­en­tie­rungs­punk­te vor­ge­ge­ben, die auch für sei­nen Enkel gül­tig blie­ben. Jakob ging in sei­nen jun­gen Jah­ren nach Mit­tel­eu­ro­pa und sam­mel­te hier in Diens­ten der Katho­li­schen Liga – bei­spiels­wei­se in der Streit­macht Albrechts von Wal­len­stein – viel­fäl­ti­ge mili­tä­ri­sche Erfah­run­gen. Dabei gelang­te er auch nach Mal­ta, wo er zum Rit­ter des Johan­ni­ter­or­dens geschla­gen wur­de. Aus die­sem Grund nahm er das Mal­te­s­er­kreuz in sein Wap­pen – sowie spä­ter­hin auch in das­je­ni­ge von Neu­stadt – auf.

Als jun­ger, aber poli­tisch und mili­tä­risch bereits sehr erfah­re­ner Mann kehr­te Jakob Wei­her 1633 nach Polen zurück und zog sogleich – ganz wie Jahr­zehn­te zuvor sein Groß­va­ter – in einen Krieg gegen Mos­kau, dies­mal aber im Rah­men des Russisch-­Polnischen Krie­ges (1632–1634), und der Feld­herr hieß nun­mehr Wła­dysław IV. Wasa. Wäh­rend der Bela­ge­rung einer klei­nen Fes­tung namens Biała (im heu­ti­gen Bela­rus) wur­de er im März 1634 bei der Explo­si­on einer Petar­de unter Trüm­mern und Erd­reich ver­schüt­tet. In die­ser ver­zwei­fel­ten Situa­ti­on gelob­te er, dass er, falls er über­le­ben wür­de, zu Ehren des hei­li­gen Fran­zis­kus und der hei­li­gen Drei­fal­tig­keit eine Kir­che zu bau­en. Offen­sicht­lich traf die­ses Ver­spre­chen des jun­gen Adli­gen auf Wohl­ge­fal­len, denn er wur­de aus der töd­li­chen Gefahr errettet.

Sei­nen Eid ver­gaß er nicht – 1643, in dem Jahr, in dem er auch das Amt des Woi­wo­den von Mari­en­burg über­nahm, grün­de­te er, auf sei­nen hin­ter­pom­mer­schen Besit­zun­gen eine Stadt, die ursprüng­lich Nowa Wola Wejhe­rows­ka hieß, und errich­te­te dort die Pfarr­kir­che zur Hl. Drei­fal­tig­keit. Nahe­bei erbau­te er zudem ein Klos­ter für den Franziskaner-Orden. Von der Pas­si­on Chris­ti ergrif­fen, beschloss er schließ­lich, in sei­ner Stadt einen Kal­va­ri­en­berg anzu­le­gen und ihn mit auf­wän­dig gestal­te­ten Sta­ti­ons­ka­pel­len aus­zu­stat­ten. Die ers­ten die­ser baro­cken Bau­wer­ke, von denen eini­ge im 18. Jahr­hun­dert im Sti­le des Roko­ko umge­stal­tet wur­den, ent­stan­den 1649 – und damit begann die Geschich­te eines kaschu­bi­schen Wall­fahrts­or­tes, die bis heu­te fort­ge­schrie­ben wird.

Das Neue Jerusalem

Die meis­ten der ins­ge­samt 25 Kapel­len wur­den zu Jakob Wei­hers Leb­zei­ten oder kurz nach sei­nem frü­hen Tod im Jah­re 1657 errich­tet. Die Stif­ter waren neben dem Initia­tor auch Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge und eini­ge sei­ner Freun­de. Man­che Kapel­len sind in ihrer Form ein­fach gehal­ten, ande­re dür­fen archi­tek­to­ni­sche Schmuck­stü­cke genannt werden.

Gemein­sam lie­gen sie an einem aus­ge­dehn­ten Pas­si­ons­weg, der sich nicht auf den „Kal­va­ri­en­berg“ im enge­ren Sin­ne beschränkt: Der Cal­va­riae locus [Ort des Schä­dels] bil­det die latei­ni­sche Über­set­zung der ara­mäi­schen Orts­be­zeich­nung „Gol­go­ta“, so dass ein „Kal­va­ri­en­berg“ in der Regel die bis zu 15 Sta­tio­nen des Kreuz­wegs, von der Ver­ur­tei­lung Chris­ti bis zu sei­nem Tode am Kreuz bzw. bis zur Grab­le­gung, umfasst. Jakob Wei­her ent­wirft aber einen Weg, der über drei Hügel ver­läuft, und zwar – im Sin­ne der Topo­gra­phie Jeru­sa­lems – über den Öl- und den Zions­berg und erst dann zum Kal­va­ri­en­berg. Selbst das Flüss­chen, das aus dem Wis­pau­er See (Jezio­ro Wyspo­wo) gespeist wird, die Stadt in nörd­li­cher Rich­tung durch­quert und dann in die Rhe­da ein­mün­det, trägt den Namen „Cedron“: Es ver­läuft zwi­schen dem ers­ten und dem zwei­ten Hügel und ver­mag dadurch schlüs­sig an das Tal des Baches Kidron (oder Kedron) zu erin­nern, das die Jeru­sa­le­mer Alt­stadt im Wes­ten vom öst­lich gele­ge­nen Ölberg trennt. Fol­ge­rich­tig heißt die sechs­te Weg­sta­ti­on, die die Pil­ger nach der Über­que­rung des Flüss­chens Cedron errei­chen, auch „Ost­tor Jerusalems“.

Die Weit­läu­fig­keit der Neu­städ­ter Anla­ge lädt jen­seits der Wall­fahr­ten auch Wan­de­rer oder Spa­zier­gän­ger dazu ein, neben den Kapel­len die Schön­heit der Natur zu genie­ßen. Die Rou­te führt durch Wäl­der vol­ler Buchen, Eichen, Eschen, Kie­fern, Lin­den, Erlen und Hain­bu­chen, die im Ver­bund mit den in die Land­schaft inte­grier­ten his­to­ri­schen Gebäu­den sehr ein­drucks­vol­le, je nach Jah­res­zeit wech­seln­de pit­to­res­ke Bil­der ent­ste­hen lassen.

Zu den archi­tek­to­nisch beson­ders bemer­kenswerten Kapel­len gehört die­je­ni­ge, die den „Begeg­nun­gen mit der Mut­ter“ (Spot­ka­nia z Mat­ką) gewid­met ist. Ihre Stif­te­rin war Jakob Wei­hers Ehe­frau Anna Eli­sa­beth, die aus dem Uradels­ge­schlecht der von Schaff­gotsch stamm­te. Aller­dings erleb­te sie die Fer­tig­stel­lung der Kapel­le nicht, weil sie schon am 8. April 1650 bei einer Ent­bin­dung starb. Auch ihr Kind über­leb­te die Geburt nur für weni­ge Mona­te. Ein­ge­weiht wur­de die Kapel­le erst am 20. Juni 1654. Die Mes­se wur­de von Pater Ata­na­zy Kar­to­s­zyn gehal­ten, wäh­rend Jakob Wei­her selbst das Amt des Lit­ur­gen über­nahm. Bei der Betrach­tung des Gebäu­des fällt sogleich die auf­wän­dig aus­ge­stal­te­te Fas­sa­de ins Auge, dabei ins­be­son­de­re die mit Rosen-Motiven reich ver­zier­ten Pilas­tern. Damit wird auf die Lau­re­ta­ni­schen Lita­nei (den hl. Rosen­kranz) Bezug genom­men, in der Maria als „geheim­nis­vol­le Rose“ ver­klärt wird. So ver­wun­dert es nicht, dass sich die abs­trak­te Kon­tur die­ser sym­bo­lisch hoch auf­ge­la­de­nen Blu­me auch im Grund­riss des Gebäu­des wiederfindet.

Ein gera­de­zu monu­men­ta­les, zwei­ge­schos­si­ges Gebäu­de, die Kir­che zu den Drei Kreu­zen, erhebt sich auf dem Gip­fel des Kal­va­ri­en­bergs. Sei­ne Stif­te­rin war die mit Jakob Wei­her ver­wand­te Anna Wejherów­na, die Wit­we des Woi­wo­den Andrzej Grud­ziń­ski. Neben dem beein­dru­cken­den Por­tal weist die Kir­che an der Fas­sa­de ein zunächst wohl über­ra­schen­des bau­li­ches Merk­mal auf: Durch eine der Sei­ten­wän­de läuft ein bedroh­lich schei­nen­der Riss. Er gibt aber kei­nen Bau­scha­den zu erken­nen; viel­mehr soll den Gläu­bi­gen hier gleich­sam hand­greif­lich das Gesche­hen ver­sinn­bild­licht wer­den, das sich nach dem Zeug­nis des Evan­ge­lis­ten Mat­thä­us beim Tode Jesu ereig­net hat: „Da riss der Vor­hang im Tem­pel von oben bis unten ent­zwei. Die Erde beb­te und die Fel­sen spal­te­ten sich“ (Mt 27,51).

Bald fällt der Blick auf eine wei­te­re Kapel­le, die beson­de­re Auf­merk­sam­keit ver­dient: das „Grab Chris­ti“. Sie wur­de von der – eben­falls mit Jakob Wei­her ver­wand­ten – Anna Kon­stanc­ja Wejherów­na, der Ehe­frau des Pose­ner Kas­tel­lans Fran­cis­zek Czarn­kow­ski, gestif­tet. Als Bau­ma­te­ri­al dien­te behaue­ner Sand­stein, der in Kra­kau her­ge­stellt wur­de und dann auf der Weich­sel nach Dan­zig und von dort auf dem Land­weg nach Neu­stadt trans­por­tiert wer­den muss­te. Des­halb ist dies Bau­werk in der gesam­ten Regi­on das Ein­zi­ge in die­ser Art. Zudem wirkt es mit sei­nen regel­mä­ßig und in glei­cher Höhe auf­ge­schich­te­ten Sand­stein­blö­cken streng und fei­er­lich. Das Dach wird von einer präch­ti­gen Later­ne gekrönt, in der sich eine Skulp­tur des auf­er­stan­de­nen Chris­tus befin­det. – War­um sich die­ses auf­fäl­li­ge und mit gro­ßem Auf­wand errich­te­te Gebäu­de in Neu­stadt fin­det, wird jedem Besu­cher des ein­gangs schon genann­ten Kal­va­ri­en­ber­ges von Kal­wa­ria Zebrzy­dows­ka schlag­ar­tig klar, denn an die­sem Ort, der frei­lich güns­ti­ger Wei­se im Umland von Kra­kau liegt, steht ein eben­falls aus behaue­nem Sand­stein erbau­tes „Grab Chris­ti“: Die­ses Gebäu­de gab Jakob Wei­her offen­bar den Anstoß, es als Modell zu neh­men und es im Rah­men sei­nes eige­nen Vor­ha­bens so getreu wie mög­lich kopie­ren zu lassen.

Der „Tanz“ der heiligen Bilder

Der Kal­va­ri­en­berg von Neu­stadt ist natur­ge­mäß nicht nur eine tou­ris­ti­sche Attrak­ti­on, son­dern auch eine reli­giö­se Stät­te. Jedes Jahr rei­sen Hun­der­te von Pil­ger­grup­pen zu den Kapel­len auf den drei Hügeln. Die meis­ten Gläu­bi­gen besu­chen das „Kaschu­bi­sche Jeru­sa­lem“ wäh­rend der Kirchweih-Feste, die fünf­mal im Jahr ver­an­stal­tet wer­den: jeweils am Sonn­tag nach Chris­ti Him­mel­fahrt, der Hei­li­gen Drei­fal­tig­keit, der Hei­lung der Kran­ken, der Him­mel­fahrt der Jung­frau Maria und der Erhö­hung des Hei­li­gen Kreuzes.

Zu den Höhe­punk­ten die­ser Pro­zes­sio­nen gehö­ren die soge­nann­ten Ver­nei­gun­gen der „fere­tro­ny“. Es wird ange­nom­men, dass die­se außer­ge­wöhn­li­che Tra­di­ti­on, die heu­te in der gan­zen Kaschub­ei sehr beliebt ist, ihren Aus­gangs­punkt in Neu­stadt genom­men hat, und zwar höchst­wahr­schein­lich am Ende des 17. Jahrhunderts.

„Fere­tron“ bezeich­net ein Gestell, das von vier Per­so­nen getra­gen wird und auf dem von zwei Sei­ten gemal­te Bil­der in einem Schmuck­rah­men oder geschnitz­te Skulp­tu­ren ange­bracht sind. Für gewöhn­lich zeigt der Fere­tron Jesus Chris­tus oder die Jung­frau Maria, er kann aber auch den Schutz­pa­tro­nen oder ‑patro­nin­nen von ein­zel­nen Pfar­rei­en oder bestimm­ten Beru­fen gewid­met sein.

Die „Ver­nei­gun­gen“ nun bil­den eine Form der Anbe­tung vor einem Altar, einem Kreuz oder einem ande­ren sakra­len Objekt. Die klas­si­sche Ver­si­on umfasst die fol­gen­den Ele­men­te: Die vier Per­so­nen, die das Gestell hal­ten, neh­men vor dem Hei­lig­tum Auf­stel­lung, nei­gen den Fere­tron drei­mal nach vor­ne hin­ab, ver­sinn­bild­li­chen dar­auf­hin durch Bewe­gun­gen vor­wärts, zur Sei­te und rück­wärts das Kreuz­zei­chen, hal­ten das Gestell sodann waa­ge­recht und las­sen es, die Voll­kom­men­heit Got­tes sym­bo­li­sie­rend, die Form eines Krei­ses beschrei­ben, bis letzt­lich eine noch­ma­li­ge Ver­beu­gung die gesam­te Sequenz beschließt.

Die­se tra­di­tio­nel­len Ele­men­te kön­nen Pil­ger­grup­pen aber durch­aus modi­fi­zie­ren: Sie wäh­len eine ande­re Abfol­ge der cho­reo­gra­phi­schen Figu­ren oder ent­wi­ckeln zusätz­li­che Moti­ve und stel­len der­art ihren Ein­falls­reich­tum unter Beweis. Die „Ver­nei­gun­gen“ ins­ge­samt wer­den – zuwei­len auch von einem Musik­ensem­ble beglei­tet – in einem erstaun­lich hohen Tem­po aus­ge­führt, das eine gro­ße kör­per­li­che Leis­tungs­fä­hig­keit vor­aus­setzt, zumal der Fere­tron über eini­ges Gewicht ver­fü­gen kann: Man­che wie­gen sogar mehr als 100 kg. Des­halb nimmt es nicht wun­der, dass die­se Dar­bie­tun­gen von den Umste­hen­den oft­mals mit hef­ti­gem Applaus bedacht werden.

Ein beson­de­res Ereig­nis, zu dem sich die Gläu­bi­gen in gro­ßen Scha­ren ver­sam­meln, ist die Pro­zes­si­on, bei der in der Kar­wo­che das Mys­te­ri­um der Lei­den Chris­ti gefei­ert wird. Hier ver­bin­den sich die Ele­men­te des Gebets und der Kon­tem­pla­ti­on mit den­je­ni­gen eines Pas­si­ons­spiels. An die­ser thea­tra­li­schen, zwei­stün­di­gen Ver­ge­gen­wär­ti­gung des Kreuz­we­ges sind meh­re­re Dut­zend Schau­spie­ler und Sta­tis­ten betei­ligt. Das leid­vol­le Gesche­hen und die Unmit­tel­bar­keit sei­ner Prä­sen­ta­ti­on beein­dru­cken die Pro­zes­si­ons­teil­neh­mer stets in hohem Maße, und die Inten­si­tät die­ses spi­ri­tu­el­len Erleb­nis­ses wird zudem durch die beglei­ten­de Musik, die spe­zi­ell für die Insze­nie­rung kom­po­niert wur­de, und nicht zuletzt durch die raue Schön­heit der Natur im Vor­früh­ling noch­mals verstärkt.

Seit dem 18. Jahr­hun­dert wer­den für die Pil­ger spe­zi­el­le Gebet­bü­cher her­aus­ge­ge­ben, die sie auf ihrem Weg beglei­ten und ihnen an den Weg­sta­tio­nen das Beten erleich­tern sol­len. Ins­be­son­de­re die älte­ren die­ser „kal­wa­ry­jki“ sind, da sie ein­zig­ar­ti­ge Doku­men­te der kaschu­bi­schen Volks­re­li­gio­si­tät bil­den, schon längst zum Gegen­stand der his­to­ri­schen und sprach­wis­sen­schaft­li­chen For­schung geworden.

Der Besuch des Kalvarienberges von Neustadt

Der gesam­te Pas­si­ons­weg erstreckt sich über eine Län­ge von 4,6 km und kann in etwa zwei­ein­halb Stun­den bewäl­tigt wer­den. Dane­ben gibt es aller­dings auch die von Tou­ris­ten in der Regel bevor­zug­te Mög­lich­keit, eine deut­lich kür­ze­re Rou­te zu wäh­len, die nur den eigent­li­chen „Kreuz­weg“ auf dem Kal­va­ri­en­berg umfasst und die Besu­cher folg­lich an den 15 Kapel­len* vom Palast des Pila­tus bis zum Grab Chris­ti entlangführt.

Die Anla­ge ist frei zugäng­lich und lässt sich mit­hin auf eige­ne Faust bege­hen. Dann ist es zwar nicht mög­lich, das Inne­re der Kapel­len, die Altä­re mit ihren Gemäl­den und Skulp­tu­ren, zu besich­ti­gen, aber gleich­wohl lohnt es sich natür­lich, auf dem Wald­weg über die Neu­städ­ter Hügel zu spa­zie­ren und dabei die Gebäu­de und deren sym­bol­träch­ti­ge Archi­tek­tur zu betrachten.

Tou­ris­ten, die einen tie­fe­ren Ein­blick in die künst­le­ri­schen Details der Innen­aus­stat­tung gewin­nen möch­ten, soll­ten sich für die Teil­nah­me an einem betreu­ten Rund­gang ent­schei­den. Patres des Franziskaner-Ordens, der tra­di­tio­nell – und so auch in Neu­stadt – die Ein­rich­tung von Kal­va­ri­en­ber­gen för­dert und die bestehen­den Anla­gen betreut, bie­ten eben­so wie fach­kun­di­ge, vom Frem­den­ver­kehrs­amt akkre­di­tier­te Füh­rer Rund­gän­ge an – die aller­dings nur von Grup­pen, nicht aber von Ein­zel­per­so­nen gebucht wer­den können.

Nach dem Gang ent­lang dem Kreuz­weg gehört es zum tou­ris­ti­schen Stan­dard­pro­gramm, auch der von Jakob Wei­her gestif­te­ten, der Hl. Anna geweih­ten Kir­che des Fran­zis­ka­ner­klos­ters einen Besuch abzu­stat­ten. Die Aus­stat­tung des Got­tes­hau­ses stammt haupt­säch­lich aus der zwei­ten Hälf­te des 18. Jahr­hun­derts; ein wah­rer his­to­ri­scher Schatz aber ist hin­ter dem Hoch­al­tar ver­bor­gen und soll­te unbe­dingt in Augen­schein genom­men wer­den. Es han­delt sich um ein 1658 ent­stan­de­nes Dop­pel­por­trät Jakob Wei­hers und sei­ner (ers­ten) Frau Anna Eli­sa­beth Schaff­gotsch, in des­sen Hin­ter­grund ein zeit­ge­nös­si­sches Bild der damals neu ent­stan­de­nen Stadt und der sie umge­ben­den Land­schaft erscheint. Schließ­lich bie­tet die zugäng­li­che Kryp­ta der St. Anna-Kirche auch noch eine Gele­gen­heit, dem Grün­der und Wohl­tä­ter Neu­stadts die Reve­renz zu erwei­sen – und ange­sichts der Sar­ko­pha­ge von Jakob Wei­her und eini­ger sei­ner Fami­li­en­mit­glie­der die End­lich­keit des mensch­li­chen Lebens zu bedenken.

Im Anschluss an alle Besich­ti­gun­gen soll­ten die Besu­cher noch eini­ge Zeit in der Stadt ver­wei­len und nicht zuletzt auch in einem der ein­la­den­den Restau­rants am Markt­platz die viel­ge­stal­ti­gen Ein­drü­cke nach­wir­ken las­sen. Bei Spei­sen aus der regio­na­len kaschu­bi­schen Küche oder einem Bier aus der hei­mi­schen Braue­rei kann zudem das Bau­ensem­ble des his­to­ri­schen Zen­trums in beson­ders ange­neh­mer Wei­se betrach­tet wer­den. Dabei wird es unwei­ger­lich zu einer wei­te­ren Begeg­nung mit Jakob Wei­her kom­men, denn die Bür­ger Neu­stadts haben ihm dort im Jah­re 1999 ein impo­san­tes Denk­mal gesetzt. Die auf einem hohen Sockel ste­hen­de Sta­tue zeigt den Grün­der der Stadt und des Kal­va­ri­en­ber­ges als selbst­be­wuss­te und macht­vol­le aris­to­kra­ti­sche Per­sön­lich­keit, die anschei­nend mit Stolz auf sein Lebens­werk blickt. Die Rei­sen­den, die die­se Stadt schon genau­er ken­nen­ge­lernt haben, dürf­ten solch einen Aus­druck des Stol­zes schwer­lich für unbe­grün­det halten.


* Nach der pol­ni­schen Tra­di­ti­on umfasst der „eigent­li­che“, auf den Kal­va­ri­en­berg beschränk­te Kreuz­weg vom Palast des Pila­tus bis zum Grab Chris­ti nur 14 Sta­tio­nen. Aus die­sem Grun­de wird der Palast des Hero­des (die Kapel­le Nr. 12) auf dem Plan zwar mit­ge­zählt, aber fak­tisch nicht berück­sich­tigt: Wäh­rend der Kreuzweg-Prozession machen die Gläu­bi­gen hier kei­nen Halt.