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Das Märchen vom Danziger Goldwasser, vom Riesen Tullatsch – und von vielem anderen

Das Leben und Werk der »Danziger Märchenfrau«

Von Joanna Szkolnicka

Gera­de die Vor­weih­nachts­zeit weckt bei vie­len Men­schen das inne­re Kind, das sich nach etwas Magi­schem, Mär­chen­haf­tem und Fabel­haf­tem sehnt – auch wenn man im All­tag ein durch­aus nüch­ter­ner Mensch ist und auf die inzwi­schen infla­tio­när ver­brei­te­te Flos­kel, ande­ren ein »magi­sches« Weih­nachts­fest zu wün­schen, all­er­gisch reagiert. Des­halb fügt sich ein Bei­trag über Elsa Faber, die »Dan­zi­ger Mär­chen­frau«, wohl gut in die Rubrik Zum Jah­res­aus­klang ein. Wie aber soll­te man solch eine Erzäh­lung über das Leben einer Mär­chen­frau begin­nen? Wohl eben so, wie vie­le Mär­chen beginnen.

Es war ein­mal ein Mäd­chen, das in einem Schlöss­chen wohn­te – und zwar im Mormonen-Schlösschen –, einem idyl­li­schen, von Bäu­men umge­be­nen reprä­sen­ta­ti­ven Gebäu­de, das mit einem Dach­rei­ter ver­ziert war: Dort befand sich in der Oliv­aer Rosen­gas­se die Pen­si­on, in der Fami­lie von Bockel­mann ihre Som­mer­fe­ri­en ver­brach­te. In der Nähe befand sich eine Mal­schu­le, und da es an Model­len fehl­te, muss­ten Elsa und ihr Bru­der posie­ren. Damit sie still­hiel­ten, erzähl­te ihnen ihre Mut­ter immer wie­der Märchen …

So hat­te das Mäd­chen schon vie­le Geschich­ten gehört, als sie im Ers­ten Welt­krieg ihren Dienst als Kran­ken­schwes­ter für die ver­wun­de­ten Sol­da­ten auf­nahm. Und dort begann sie dann im Laza­rett, neben ihren übli­chen Tätig­kei­ten Mär­chen zu erzäh­len, was aller­dings zunächst noch auf wenig Gegen­lie­be stieß: »Schwes­ter Elsa, bei Ihnen piept es wohl, wird sind doch kei­ne Kin­der!« Letzt­lich aber wur­de Elsa, damals noch Fräu­lein von Bockel­mann, zu ver­schie­de­nen Sta­tio­nen eines Kran­ken­hau­ses als Mär­chen­er­zäh­le­rin geschickt.

Nach dem Krieg, in dem sich gera­de jun­ge Frau­en stark eman­zi­piert hat­ten, woll­te Elsa die­sen »beruf­li­chen« Wer­de­gang fort­set­zen, denn sie plan­te, begin­nend mit der Dan­zi­ger Nie­de­rung, in Ost- und West­preu­ßen von Dorf zu Dorf zu wan­dern und ihre Geschich­ten über Prin­zen und Prin­zes­sin­nen, Zwer­ge, Rie­sen und Engel­chen zu erzäh­len. Das Vor­ha­ben stieß jedoch auf den ent­schie­de­nen Wider­stand ihres Vaters Karl Albert von Bockel­mann, eines respek­ta­blen Dan­zi­ger Bür­gers – Geo­gra­phen, Bota­ni­kers, Pro­fes­sors der Tech­ni­schen Hoch­schu­le Dan­zig und Vor­sit­zen­den der Dan­zi­ger Kolo­ni­al­ge­sell­schaft –, der nicht akzep­tie­ren konn­te, dass sei­ne Toch­ter mit einem Ruck­sack und einer Lau­te allein wie eine Vaga­bundin über holp­ri­ge Dorf­stra­ßen geht und in Schul­ge­bäu­den, Fischer­hüt­ten oder Müh­len über­nach­tet. Schließ­lich gelang es der eigen­wil­li­gen jun­gen Frau aber, die Erlaub­nis zu bekom­men – wohl auch dank der Für­spra­che ihrer Mut­ter, die der men­no­ni­ti­schen Fami­lie Loe­wans ent­stamm­te und von Anfang an die Bestre­bun­gen ihrer Toch­ter unter­stütz­te. Der Mut­ter wid­me­te Elsa die um 1921 in Leip­zig her­aus­ge­ge­be­nen Mär­chen und dem Vater die Samm­lung Zwölf Mär­chen für Kin­der, die 1928 erschien.

Die Anfän­ge waren aller­dings tat­säch­lich schwer; häu­fig klopf­te Elsa ver­geb­lich an Schul­tü­ren. Im Lau­fe der Zeit wur­de die jun­ge Mär­chen­er­zäh­le­rin aber bekann­ter und fand eine grö­ße­re Reso­nanz, zumal auch die Zei­tun­gen began­nen, von ihr und ihrer Tätig­keit zu berich­ten. Von nun an »ver­schloss sich kei­ne Tür mehr«, wie sie nach Jah­ren in ihren Erin­ne­run­gen schrieb. Seit­dem brauch­te sich Elsa nie mehr um eine Schlaf­stel­le zu küm­mern, weil sich die ver­schie­de­nen Wohl­tä­tig­keits­or­ga­ni­sa­tio­nen, von denen sie nun ein­ge­la­den wur­de, dar­um küm­mer­ten: es kam sogar vor, dass sie sich ein­mal für meh­re­re Tage im Mari­en­bur­ger Schloss auf­hal­ten konn­te. Ihr Vater sah ihre Tätig­keit aller­dings nach wie vor mit erheb­li­chen Vor­be­hal­ten. Sei­ne Mei­nung dazu änder­te sich erst, als sei­ne Toch­ter eine Ein­la­dung nach Ber­lin erhielt und über ihren Mär­chen­a­bend in einer Ber­li­ner Zei­tung berich­tet wurde.

Nun­mehr hat­te sie ein ers­tes, wich­ti­ges Ziel ihrer bis­he­ri­gen beruf­li­chen Bemü­hun­gen erreicht – erst recht aber konn­te sie nach die­sen Erfol­gen jetzt die Frei­heit und Unab­hän­gig­keit genie­ßen, die sie bis­lang immer ersehnt hat­te: »Es ist köst­lich, ein­mal das Leben in die Hand zu neh­men und zu sagen: Ich gehö­re mir jetzt allein an« – schrieb sie, auf die­se Zeit zurück­bli­ckend, zehn Jah­re vor ihrem Tod. Auf die­sem Wege erleb­te sie auch aller­lei aben­teu­er­li­che oder skur­ri­le Situa­tio­nen. So geschah es bei­spiels­wei­se ein­mal, dass ein Leh­rer, der die Vor­be­rei­tung ihres Mär­chen­a­bends über­nom­men hat­te, dafür mit einem Anschlag­zet­tel warb, auf dem er einen »Bun­ten Abend – nur für Erwach­se­ne« ankün­dig­te. Als die ver­dutz­te Mär­chen­er­zäh­le­rin ihn frag­te, war­um er nicht bloß »Mär­chen und Lie­der zur Lau­te« geschrie­ben hät­te, erwi­der­te er: »Fräu­lein, weil wir dann ein lee­res Haus hät­ten – ich bin Fach­mann«. Der Saal war tat­säch­lich bre­chend voll.

In Dan­zig kam es zu einer Begeg­nung mit der damals schon über­re­gio­nal bekann­ten Mär­chen­er­zäh­le­rin Lisa Tetz­ner, die in Dör­fern und Klein­städ­ten ganz Mittel- und Süd­deutsch­lands auf­trat. Als sie im Haus der Fami­lie von Bockel­mann in der dama­li­gen Lang­gas­se 56 zu Gast war, konn­te sie der um vier Jah­re älte­ren Elsa von Bockel­mann wich­ti­ge Anre­gun­gen geben; denn sie hat­te sich auf den Beruf der Mär­chen­er­zäh­le­rin dadurch vor­be­rei­tet, dass sie in der Ber­li­ner Schau­spiel­schu­le Max Rein­hardts Kur­se in Sprech­erzie­hung und Stimm­bil­dung besucht und an der Ber­li­ner Uni­ver­si­tät bei Emil Milan stu­diert hat­te, einem Thea­ter­schau­spie­ler, Rezi­ta­tor und Regis­seur, der dort Vor­trags­kunst unter­rich­te­te und ihre Nei­gung zum Vor­trag von Mär­chen auch per­sön­lich förderte.

Trotz ihrer Erfol­ge gelang­te Elsa aller­dings zu der Über­zeu­gung, dass »eigent­lich das Mär­chen­er­zäh­len als Beruf zu scha­de ist«, und hei­ra­te­te (ver­mut­lich um die Jah­re 1922 bis 1924) den aus dem Elsass stam­men­den Ober­leh­rer und spä­te­ren Direk­tor des Dan­zi­ger St. Johannis-Gymnasiums Walt­her Faber, der sei­ne Frau, was in die­ser Zeit nicht selbst­ver­ständ­lich war, in ihren Ambi­tio­nen unter­stütz­te. Mit die­ser Hei­rat wur­de sie zur Schwä­ge­rin des Aben­teu­rers, Wel­ten­bumm­lers, Jour­na­lis­ten und Rei­se­buch­au­tors Kurt Faber (1883–1929), der 1902 als blin­der Pas­sa­ger mit der trans­kon­ti­nen­ta­len Eisen­bahn bis nach San Fran­cis­co gelangt war oder auch wie ein Zwangs­ar­bei­ter auf einem Wal­fän­ger im Nord­meer gear­bei­tet hat­te. Er reis­te nach Süd­ame­ri­ka, Indi­en und Chi­na und besuch­te Gold­schürfer sowie die Inuit.

Sei­ne Aben­teu­er­lust wur­de Kurt Faber zum Ver­häng­nis: 1929 erfror er an den Ufern eines Flus­ses in Alas­ka. Über die Bezie­hung von Elsa Faber zu ihrem Schwa­ger ist nichts bekannt; in jedem Fall aber gab es vie­le Gemein­sam­kei­ten und Affi­ni­tä­ten. Auch sie war ein unab­hän­gi­ger Geist und ver­füg­te über eine unbän­di­ge Fan­ta­sie wie eine aus­ge­präg­te lite­ra­ri­sche Bega­bung. Viel­leicht waren dies auch gera­de Eigen­schaf­ten, die ihren zukünf­ti­gen Ehe­mann anzo­gen: Walt­her Faber war sei­nem Bru­der sehr ver­bun­den. Nach des­sen tra­gi­schem Tod gab er pos­tum die nach­ge­las­se­nen Schrif­ten her­aus, und im Vor­wort zu einer die­ser Publi­ka­tio­nen äußer­te er sich über die Stadt Mühl­hau­sen, in der er und sein Bru­der auf­ge­wach­sen waren und wo die »üppi­ge Fan­ta­sie« des spä­te­ren Wel­ten­bumm­lers »reich­li­che Nah­rung« gefun­den habe: »Rings­um geheim­nis­vol­le Ecken, bemoos­te Höfe, ver­träum­te Gär­ten mit selt­sa­men Blu­men und Bäu­men: ein Para­dies für Kin­der.« Klingt die­se Schil­de­rung nicht nahe­zu wie die Cha­rak­te­ri­sie­rung eines Märchenlandes?

Die ers­te Samm­lung von Mär­chen, die auf Dan­zi­ger Moti­ven basie­ren, erschien 1921 unter dem Titel Dan­zi­ger Gold­was­ser und ande­re Mär­chen, die Elsa als unver­hei­ra­te­te Frau noch unter ihrem Mäd­chen­na­men ver­öf­fent­lich­te. Spä­ter­hin nutz­te sie den Dop­pel­na­men Faber von Bockel­mann. Schon damals muss die Dan­zi­ger Schrift­stel­le­rin über ein gewis­ses Renom­mee ver­fügt haben, denn der links­li­be­ra­le Poli­ti­ker und Sena­tor für Kul­tus im Senat der Frei­en Stadt Her­mann Strunk hat­te sich bereit­erklärt, die Gedicht­samm­lung mit einem Vor­wort zu eröffnen.

Mit ihren Tex­ten trat die Mär­chen­er­zäh­le­rin in die Fuß­stap­fen von Dan­zi­ger Autoren des 19. Jahr­hun­derts wie Karl F. Ott­mann oder Edu­ard Lud­wig Gar­be. Zudem ent­sprach ihr Schaf­fen in ganz beson­de­rem Maße den poli­ti­schen Bedürf­nis­sen der Epo­che, die Peter Oli­ver Loew in sei­ner Mono­gra­phie Das lite­ra­ri­sche Dan­zig 1793 bis 1945: Bau­stei­ne für eine loka­le Kul­tur­ge­schich­te (Frank­furt a. M. 2009, S. 173) fol­gen­der­wei­se umriss:

Bald nach dem ers­ten Welt­krieg soll­te sich der Bestand an Dan­zi­ger Sagen stark ver­grö­ßern. Hin­ter­grund war der gro­ße Bedeu­tungs­ge­winn der Hei­mat­kunst für die städ­ti­sche Gesell­schaft – in einer Zeit, als durch die Nie­der­la­ge im Krieg, die ter­ri­to­ria­len Ver­lus­te und die Ver­un­si­che­rung der Bevöl­ke­rung die Rück­be­sin­nung auf die Bestand­tei­le der Nati­on, auf die Hei­mat Sinn­stif­tung verhieß.

In die­ser Atmo­sphä­re wur­de vom Senat der Frei­en Stadt Dan­zig im Jahr 1923 ein Wett­be­werb aus­ge­schrie­ben, in dem die bes­te loka­le Sage ermit­telt wer­den soll­te. Elsa Faber gewann den zwei­ten Preis (wäh­rend der ers­te an die Elb­in­ge­rin Ger­trud Liczewski-Horn ging). In der von Elsa Faber ein­ge­reich­ten Erzäh­lung para­phra­siert die ­Autorin ein Motiv aus den Erin­ne­run­gen von Johan­na Scho­pen­hau­er: Der Spiel­mann Han­nes geht in der Nacht wage­mu­tig über die von wil­den Hun­den bewach­te Spei­cher­in­sel und über­lebt, indem er den Tie­ren auf sei­ner Gei­ge vorspielt.

In der Sage über das »Dan­zi­ger Gold­was­ser«, der die Samm­lung von 1921 ihren Titel ver­dankt und die – so Loew – zu den bes­ten ihrer Art zählt, wur­de die Ent­de­ckungs­ge­schich­te des berühm­ten Gewürz­li­körs erklärt. Er soll­te ein heil­sa­mes Geschenk des Got­tes Nep­tun für die Ein­woh­ner der Stadt sein, die von einer geheim­nis­vol­len Krank­heit befal­len waren – nach­dem sie zuvor aller­dings den Mee­res­gott belei­digt hat­ten. Aus Hof­fart und Über­mut hat­ten sie gol­de­ne Mün­zen in das Becken sei­nes Brun­nens gewor­fen, die er ver­är­gert mit sei­nem Drei­zack in win­zi­ge gol­de­ne Blätt­chen zer­schla­gen hat­te. – In einer der ande­ren, spä­ter ver­öf­fent­lich­ten Sagen wur­de bei­spiels­wei­se erklärt, war­um der Turm der Mari­en­kir­che kei­ne Spit­ze hat: Gera­de als man sich an den Bau der Turm­spit­ze machen woll­te, tauch­te in Dan­zig ein Rie­se namens Tul­latsch auf, der den noch unvoll­ende­ten fla­chen Turm für einen Stuhl hielt und sich dar­auf nie­der­ließ. Da er aber ein gut­mü­ti­ger Rie­se war, wei­ger­te er sich nicht, das beque­me Sitz­mö­bel wie­der zu ver­las­sen und bescher­te den Dan­zi­gern rie­sen­gro­ße Spiel­zeug­fi­gu­ren aus Stein, die sich spä­ter­hin vor­züg­lich zur Gie­bel­ver­zie­rung der Dan­zi­ger Bür­ger­häu­ser nut­zen lie­ßen. In einer ande­ren Sage wie­der­um – »Geis­ter­spuk auf dem Lan­gen Markt« – sind es gera­de die­se Skulp­tu­ren, die durch die Stadt eilen, um an einem gemein­sa­men Fest im Artus­hof teilzunehmen.

Zu ihren ande­ren, nicht auf Dan­zig bezo­ge­nen Mär­chen ließ sich Elsa Faber von Bockel­mann durch das Schaf­fen ihrer Lieblings­autoren wie der Gebrü­der Grimm, Sel­ma Lager­löf, Oskar Wil­de oder des Chir­ur­gen und Mär­chen­dich­ters Richard von Volk­mann inspi­rie­ren. Sie han­deln von Prin­zen und Prin­zes­sin­nen, die zuwei­len so klein sind, dass sie nur als »ein hal­bes Men­schen­kind« gel­ten kön­nen, dabei trotz­dem klug und lus­tig, wenn auch – wie wohl die Autorin selbst – »bloß ein biss­chen sehr eigen­sin­nig« sind; aber auch von Hexen, die nie­der­träch­ti­ge Kin­der im Wald töten, aber nicht ein­mal bis vier zäh­len kön­nen; von guten oder bösen Feen sowie magi­schen Gegen­stän­den wie Glücks- und Pech­pan­tof­feln. Man­che Mär­chen, z. B. »Wie Gän­se­blüm­chen und Gras­halm Hoch­zeit mach­ten«, wur­den schließ­lich in gereim­ten Ver­sen geschrieben.

1945 muss­te Elsa Faber mit ihrer Fami­lie – inzwi­schen war sie Mut­ter drei­er Töch­ter – Dan­zig ver­las­sen. Nach der Flucht wohn­te sie zunächst in Helm­stedt, danach in Göt­tin­gen. Nun ver­öf­fent­lich­te sie ihre Tex­te vor­nehm­lich in Hei­mat­zei­tun­gen. So erschien die bereits erwähn­te Sage »Geis­ter­spuk auf dem Lan­gen Markt« 1950 im ers­ten Jahr­gang des Westpreußen-Jahrbuchs. – 1980 starb Elsa Faber von Bockel­mann hoch­be­tagt, in ihrem 91. Lebens­jahr, in Göttingen.