Von Bettina Schlüter
Wälder entfalten eine ganz eigene Magie. Sie sind seit jeher Orte von Legenden und Märchen. Sie beherbergen mythische und sagenhafte Wesen, die auch heute noch die Phantasie anregen.
Und sie bilden Rückzugsgebiete für eine Vielfalt von Lebensformen: für Tiere und Pflanzen, aber auch für den Menschen, der in ihnen ein Gegengewicht zu seinem urbanen Alltag finden mag. Wälder vermitteln darüber hinaus einen eigentümlichen Sinn von Zeit. Als stille Zeugen einer Vergangenheit scheinen sie unberührt von allen Veränderungen, von allen historischen Wirrnissen und menschlichen Eingriffen – ein Trugschluss, dem man gerne für eine Weile erliegt.
Betritt man heute den Wald von Wirthy (auf Polnisch: Wirty), südwestlich von Pr. Stargard in der Gemeinde Hoch Stüblau (Zblewo), so mögen beim Anblick der alten Bäume die Gedanken fast unwillkürlich zurück in die Vergangenheit gleiten – hin zu jenem Moment, in dem vor nunmehr 230 Jahren Menschen dieses Gebiet erstmals in Pflege genommen haben. An der Straße von Bordzichow (Borzechowo) nach Stargard wurde im Jahre 1793 ein Forsthaus errichtet, das später um ein Wirtschaftsgebäude ergänzt wurde. Diese kleine Ansiedlung, auf die der Name Wirthy (von mhd. Wirt) zurückgeht, bildet den Ausgangspunkt einer bemerkenswerten Entwicklung, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Entstehung des Arboretums geführt hat – der heute ältesten forstbotanischen Anlage Polens.
Wichtigster Initiator einer systematisch betriebenen Anpflanzung unterschiedlichster Baumarten ist Adam Puttrich. 1831 im schlesischen Nieder Bielau geboren, wird er 1867 zum Oberförster von Wirthy ernannt. Gleich zu Beginn seiner Amtszeit, die über drei Jahrzehnte bis zum Jahr 1901 andauern wird, legt er auf einer Waldlichtung eine Versuchsfläche für verschiedene Baumarten an, aus der bereits zwei Jahre später eine Königliche Baumschule für Obstbäume und Sträucher hervorgeht. Schnell wird nicht nur das Ursprungsgebiet auf fast acht Hektar erweitert, sondern es treten auch neue Aufgaben hinzu: Über die im staatlichen Auftrag durchgeführte Kultivierung und Optimierung des Obstanbaus hinaus experimentiert Puttrich nun vermehrt mit der Anpflanzung exotischer Baumarten aus dem nordamerikanischen und japanischen Raum. Unterstützung erhält er hier von dem Forstwissenschaftler Adam Friedrich Schwappach, der die Akklimatisierungsbedingungen importierter Baum- und Pflanzenarten erforscht. Dem aufmerksamen Waldgänger begegnen Spuren dieser alten Versuchsflächen noch in Gestalt verschiedener Tannen- und Fichtenarten, wie etwa der Kalifornischen Tanne, der Nikko-Tanne oder der Sitka-Fichte, die sich unter die heimischen Eichen, Kiefern und Hainbuchen mischen. Einzelne Exemplare, die die Zeit überdauert haben, sind mittlerweile über 150 Jahre alt und erreichen eine Höhe von 30 Metern sowie einen Stammumfang von zweieinhalb Metern.
Das für ein Arboretum charakteristische Ineinandergreifen von Kultivierung, Bewahrung und wirtschaftlicher Nutzung, von botanischen Experimenten und wissenschaftlicher Auswertung lenkt auch den Blick von Hugo Conwentz auf Wirthy. Conwentz, 1855 in der Nähe von Danzig geboren, verschreibt sich früh dem Landschafts- und Naturschutz und prägt angesichts verschiedener vom Aussterben bedrohter Pflanzenarten erstmals den Begriff des »Naturdenkmals«. In seinen 1895 veröffentlichten Beobachtungen über seltene Waldbäume in Westpreussen finden die großen Elsbeerenbestände von Wirthy Erwähnung, in anderen Schriften auch die Ende des 19. Jahrhunderts bereits akut vom Aussterben bedrohte europäische Eibe (slaw. Cis, lat. Taxus baccata), deren Pflege bis heute in Wirthy große Aufmerksamkeit zuteil wird.
Der Weg durch den Wald, dessen vom Menschen mitgestaltete Geschichte ihm nichts von seiner Eindrücklichkeit nimmt, führt durch leicht welliges Gelände und über gewundene Pfade bis an den Borzechower See. Hier öffnet sich ein wunderschöner Blick auf das gegenüberliegende Ufer und die kleine Insel Starościńska. Das Seeufer bildet die natürliche südöstliche Grenze des Arboretums, von dem aus die Besucher über verschiedene, sich verzweigende Wege zurückgeleitet werden in einen Park, der dem Waldgebiet auf seiner nördlichen Seite vorgelagert ist und der mit dem offiziellen Besucherzugang den eigentlichen Ausgangspunkt für alle weiteren Erkundungen bildet. Dieses großflächige Gelände besitzt seit dem Jahre 2005 den Status eines botanischen Gartens, und sein sichtbar von Menschenhand gestalteter Charakter weckt die Neugier, sich den übersichtlich und gut zugänglich angelegten Pflanzen einzeln zuzuwenden. Neben den über 700 Gehölzarten des Arboretums konkurrieren hier, beschriftet und teils mit weiterreichenden Erläuterungen versehen, die verschiedensten einheimischen wie auch exotischen Arten um die Aufmerksamkeit. Der Botaniker mag hier viele Stunden verbringen, den interessierten Besucher lenken gut beschilderte Pfade zu den schönsten Attraktionen.
Einen Blickfang des Parks bildet eine Allee aus alten Tannen und Eiben, die Conwentz bereits in seinem 1900 veröffentlichten Forstbotanischen Merkbuch bewundernd erwähnte. Der größte Teil dieses Parks, in dem Bäume, Sträucher, Blumen und Wiesenflächen sich auf immer neue und abwechslungsreiche Weise harmonisch miteinander verbinden, entstand jedoch erst ab den 1950er Jahren. In dieser Zeit beginnt die polnische Direktion, die in den drei vorausgehenden Jahrzehnten vernachlässigten Flächen Stück für Stück zu rekultivieren, großflächig auszubauen und um neue Elemente zu bereichern. Gut sichtbares Zeugnis hiervon ist ein Alpengarten, den Jozef Pozorski zwischen 1952 und 1954 anlegt und den er über seine zwanzigjährige Amtszeit als Forstinspektor hinweg stetig um neue Felsen- und Steingewächse erweitert. Heute umfassen Park und Wald eine Gesamtfläche von siebzig Hektar und beherbergen neben der obligatorischen Samenschälanlage eine Saatgutkontrollstation, die überregionale Aufgaben übernimmt. Die Forschungsstation Wirthy kooperiert mit verschiedenen Universitäten und internationalen Organisationen zum Schutz der Artenvielfalt.
Einen ganz besonderen Reiz, dem sich wohl kaum ein Besucher entziehen kann, übt aber jener Bereich aus, in dem Parklandschaft und Wald aufeinandertreffen und eine neue, nahezu zauberhaft-phantastische Symbiose eingehen. Kleine Ansammlungen von Blumen säumen diesen Grenzstreifen und stehen bereits im Schatten der ersten Bäume des Waldes, der sich nach hinten verdichtet, aber an seinem lichten Rand noch das flutende Sonnenlicht durchlässt. Östlich davon schließt sich ein kleiner See an. An dessen zur Parkseite hin gelegenem Ufer kündigen mächtige Vorboten das Arboretum an, auf der anderen Seite verschmilzt der Uferbereich über eine kleine Lichtung hinweg nahtlos mit dem Wald. Hier lohnt es sich, einen Moment zu verharren, denn die spiegelnde Wasseroberfläche des Teichs gibt erst auf den zweiten Blick das vielfältige Leben preis, das sich hier zwischen den Wasserpflanzen, auf und unter dem Wasser entwickelt.
Auch wenn das Arboretum Wirthy ganzjährig geöffnet ist und die Jahreszeiten Park und Wald immer wieder eine neue Gestalt verleihen, so empfiehlt sich doch ein Besuch an einem sonnigen Tag, um all diese Eindrücke ganz zur Geltung gelangen zu lassen. Ein ganz besonderes Erlebnis für all diejenigen, die der polnischen Sprache mächtig sind, stellt jedoch die Möglichkeit dar, einmal im Jahr zur Nacht der Museen am großen »Tabor« – der Versammlung der Geschichtenerzähler Polens – teilzunehmen, ihren phantastischen Waldgeschichten und Legenden am Ufer des Sees zu lauschen und den Spuren dieser Erzählungen im Wald von Wirthy nachzugehen.