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Ein formbarer, gar leerer Raum

Betrachtete das Deutsche Kaiserreich Osteuropa als ein Kolonialgebiet?

Die Geschichte Osteu­ropas und der Kolonia­lismus sind Themen, die beide viel Diskus­si­ons­bedarf mit sich bringen. Gemeinsam disku­tiert werden sie aber selten – genau das unter­nimmt jedoch Christoph Kienemann mit seinem Buch Der koloniale Blick gen Osten. Der Grund dafür findet sich in der zentralen These des Histo­rikers: Osteuropa sei im Deutschen Kaiser­reich ganz ähnlich gesehen worden wie etwa Afrika und Gegen­stand langan­hal­tender kolonialer Fantasien gewesen.

Wer angesichts der provo­kanten These hier ein politi­sches Pamphlet erwartet, sieht sich getäuscht. Kiene­manns Buch ist eine exakt analy­sie­rende wissen­schaft­liche Arbeit, mit der der Autor an der Univer­sität Oldenburg promo­viert worden ist und deren diffe­ren­zierte Überle­gungen nicht leicht mitzu­voll­ziehen sind. Kienemann bedient sich der Methode der sogenannten Diskurs­analyse, mit der gewis­ser­maßen der „Raum des Sagbaren“ vermessen wird: Welches Wissen galt zu einer bestimmten Zeit als anerkannt, welche Inter­pre­ta­tionen des Weltge­schehens wurden allgemein als schlüssig akzep­tiert? Tatsächlich sind die Paral­lelen zwischen dem Blick auf „den Osten“ und der Darstellung der übersee­ischen Koloni­al­ge­biete frappierend. Wie Kienemann mit einer Fülle von Belegen aus dem Schrifttum des Kaiser­reichs aufzeigt, tat sich nicht nur die Presse mit dieser Ideologie hervor. Gerade auch die deutsche Wissen­schaft wurde zum entschei­denden Stich­wort­geber, wenn es um die Darstellung Osteu­ropas als eines herren­losen Gebietes ging, das die Deutschen zur Koloni­sation regel­recht aufrufe.

„Der Osten“ wird in den Quellen als ein „formbarer Raum“ geschildert oder gar als weitgehend leer, erscheint also ähnlich, wie man Nordamerika zu dieser Zeit gesehen hat. Bereits der mittel­al­ter­liche Landes­ausbau – also das Urbar­machen von Boden und das Anlegen von Infra­struktur – wurde ohne Vorbe­halte als ein deutscher Koloni­sa­ti­ons­prozess begriffen und konnte so auch im ausge­henden 19. Jahrhundert zur Legiti­mation der deutschen Ambitionen in Osteuropa dienen. Während die deutschen Akteure ihrer Nation eine beständige „Fähigkeit zur Innovation“ zuschrieben, verharre „der Osten“ ansonsten in einer „dauernden Stagnation“. Das alles wurde laut Christoph Kienemann gleichsam von oben herab beschrieben – ein charak­te­ris­ti­sches Kennzeichen eines „kolonialen Blicks“: „Der Osteu­ro­pa­diskurs spricht über die Gesell­schaften dieser Region, ohne sie selbst zu hören.“

Während alle diese Diffe­renzen zunächst als Ausdruck eines „Kultur­ge­fälles von West nach Ost“ darge­stellt werden, verschieben sich um 1900 die Gewichte hin zu rassis­ti­schen Argumen­ta­tionen, wonach die Slawen biolo­gisch auf einer niedri­geren Stufe stünden. Daher wurden mit Blick auf Polen –  nicht anders als im Falle der afrika­ni­schen Kolonien – „Mischehen“ zwischen Deutschen und den „Anderen“ abgelehnt, aus Furcht davor, die deutsche Kultur könne herab­ge­zogen werden auf das Niveau der Kolonisierten.

Dass Osteuropa und „Übersee“ in einen gemein­samen Rahmen eingefügt worden sind, erklärt sich auch durch das Profil mancher publi­zis­ti­scher Akteure. Beispiels­weise setzte sich der Autor Ernst von der Brüggen gleicher­maßen für die Koloni­sation des Nahraums im Osten wie für den Erwerb von Kolonien in der Ferne ein. – Eine eigen­tüm­liche Zurück­haltung stellte sich beim deutschen Blick auf Osteuropa bemer­kens­wer­ter­weise ein, wenn es um das Verhältnis zum bereits grassie­renden Antise­mi­tismus ging. Kienemann kann zeigen, dass die Juden in Osteuropa hier zum Teil noch als Träger von „deutscher Sprache und deutscher Gesittung“ einge­schätzt wurden. So konnten sich deutsche Natio­na­listen noch dazu genötigt sehen, den Antise­mi­tismus zu beklagen, da dieser doch der „deutschen Sache“ schade.

Zuletzt wendet sich Kienemann in seiner Analyse noch dem Zweiten Weltkrieg sowie Flucht und Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa zu. Er beschreibt, dass schon nach 1918/19 deutsche Minder­heiten in Osteuropa, für die sich das Kaiser­reich gar nicht zuständig gefühlt hatte, „zu einem Mittel der deutschen Außen- und Revisi­ons­po­litik“ gemacht worden seien. Nach dem Verlust der übersee­ischen Kolonien im Zuge des Versailler Vertrages konnte der Osten erneut – nicht zuletzt in Hitlers Mein Kampf – „zu einem Zukunfts- und Sehnsuchtsraum“ werden. Wenn das Verhältnis zum „Osten“ im deutschen kollek­tiven Bewusstsein ein koloniales war, dann kommt die auch von anderen Forschern bereits berührte Frage auf, ob die Vertreibung der Deutschen von dort als „Dekolo­ni­sa­ti­ons­er­fahrung“ gelten kann. Kienemann führt dazu verschiedene Reden auf dem ersten Bundes­kon­gress der Verei­nigten Ostdeut­schen Lands­mann­schaften an, abgehalten 1951 in der Frank­furter Pauls­kirche, die genau das bestä­tigen: Die Vertreibung, heißt es dort, stehe für den Abbruch eines jahrhun­der­te­langen erfolg­reichen Koloni­sa­ti­ons­pro­jektes, so dass Osteuropa nun zwangs­läufig dem Niedergang preis­ge­geben sei.

Christoph Kiene­manns Der koloniale Blick gen Osten kommt einer Führung durch den ideolo­gi­schen Maschi­nenraum des deutschen Kaiser­reichs gleich. Mag sich das Buch auch vor allem an eine Fachöf­fent­lichkeit richten  –  es liefert dennoch aufschluss­reiche Beiträge zu Debatten, die die Öffent­lichkeit noch eine Weile beschäf­tigen werden.

 Alexander Kleinschrodt

Christoph Kienemann
Der koloniale Blick gen Osten. Osteuropa im Diskurs des Deutschen Kaiser­reiches von 1871
Paderborn: Schöningh, 2018
310 S., Hardcover, € 69,90
ISBN 978–3‑506–78868‑9