Von Marek F. Jagodziński
Die Siedlung der Wikinger
Dass der Handelsplatz Truso von den Wikingern gegründet worden ist, haben die Ergebnisse archäologischer Ausgrabungen in reichem Maße bestätigt. Sie sind insbesondere durch die Schriftenreihe des Archäologisch-Historischen Museums in Elbing (die Studia nad Truso/Truso Studies), aber auch durch eine umfangreiche Monographie bekanntgemacht worden, in der die gemeinsame deutsch-polnische Erforschung von Truso während der Jahre von 2004 bis 2008 dokumentiert worden ist. An dieser Stelle sei eigens darauf hingewiesen, dass der Begriff „Wikinger“ hier in seiner ganz allgemeinen Bedeutung verwendet wird: als Bezeichnung für die Angehörigen der skandinavischen Völker (Dänen, Schweden und Norweger), nicht aber verengt auf die Vorstellung von waghalsigen Seefahrern, die im Mittelalter raubend und brandschatzend die Küstenbewohner des nördlichen Europa überfielen. (Solche Raubzüge wurden übrigens auch von Slawen und Balten unternommen.)
EINE ÜBERLEGENE KULTUR Wenn von „Langschiffen der Wikinger“ gesprochen wird, können dabei gleichwohl auch mit Recht Raubüberfälle der Schrecken verbreitenden skandinavischen Seeräuber assoziiert werden. Für den christlichen Teil Europas – die angelsächsischen Königreiche in Britannien oder das Karolinger-Reich – waren diese Züge stets eine große militärische Bedrohung, zumal die Angreifer über schnelle Verkehrsmittel sowie eine neuartige Organisation ihrer Mannschaften und eine höchst effektive Militärtaktik verfügten: Diese Kämpfer lassen sich geradezu mit den Angehörigen von Spezialeinheiten heutiger Armeen vergleichen.
Die territorialen Erwerbungen der Wikinger spiegeln sich in der Namensgebung einzelner Länder und Territorien wider. Im Karolinger-Reich war die „Normandie“ das Gebiet der „Nordmänner“– wie die aus dem Norden stammenden Dänen genannt wurden. Auf den britischen Inseln wiederum gilt dies z. B. für Danelow, ein Gebiet, das von Dänen besiedelt wurde, während im Osten der Name „Ruś“ vom Wort „Rhos“ abgeleitet worden ist, das zur Bezeichnung von Schweden verwendet wurde: Vor allem deren Anwesenheit dominierte in diesem Teil Europas die Erfahrung mit den „Wikingern“.
Mit ihren hoch entwickelten Schiffen, die beinahe zum Symbol der Wikingerzeit wurden, gelang es den Skandinaviern, eine höchst erfolgreiche Eroberungspolitik durchzusetzen und das Gesicht Europas – und in gewisser Weise auch der ganzen damals bekannten Welt – grundlegend zu verändern. Drachenschiffe, Langschiffe (im Altnorwegischen „langskip“ genannt) sowie Knarr-Boote („knörr“) – Hochseeschiffe, deren Merkmale große Ladekapazität und Seetüchtigkeit waren – wurden zum Träger neuer, auf wirtschaftliche Verbindungen zielender Ideen. Es wäre keinesfalls abwegig, die Wikingerzeit als eine erste Welle einer „europäischen Globalisierung“ zu bezeichnen, die umfangreiche Gebiete – von den Britischen Inseln im Norden bis nach Nordruthenien im Osten – umfasste. In den letzten Jahrzehnten des 9. Jahrhunderts entwickelten sich nun ähnliche oder gar gleiche Mechanismen des Warenhandels und des Gewerbes sowie übereinstimmende Gestaltungsmerkmale der Wirtschaftsräume und politischen Strukturen. Ein wichtiges Anzeichen für diese Veränderungen bilden eigenständige Zentren, die im Netz der Handelsstraßen des Ostseeraumes als Knotenpunkte dienten.
Neben dem von den dänischen Wikingern gegründeten Handelsplatz Haithabu, der slawischen Ansiedlung Wollin sowie den schwedischen Wikingersiedlungen Birka, Staraja Ladoga und Weliki Nowgorod in Nord-Ruthenien gehört zu diesen Zentren auch Truso. Dies waren allesamt Seehandelsplätze, die unweit von der offenen See entfernt lagen und durch Land- und Wasserwege günstig vernetzt waren. Die dort ansässigen Ethnien besaßen ähnliche oder gleiche Gesellschaftsstrukturen, befanden sich auf derselben Stufe der wirtschaftlichen Entwicklung und ähnelten einander auch weitgehend in Hinsicht auf die Gewerbestruktur, das Herstellungspotential und die Eigentumsverhältnisse. An diesen Orten herrschte ein einheitliches System des Warenhandels, dessen wichtigste Elemente silberne Münzen (sog. „Dirhams“) aus dem arabischen Kalifat, genaue zweischalige Waagen und normierte Sätze von Kugelzonen- und Kubooktaeder-Gewichten waren.
DIE SIEDLUNG TRUSO UND IHRE HANDWERKER Truso wurde direkt am Ufer des Drausensees gegründet, der damals erheblich größer war als heute. In seiner Blütezeit umfasste der Handelsplatz das Gebiet von rund 20 Hektar. Bewohnt war er – mit Ausnahme der Randzone, in der allem Anschein nach Prußen oder Ostslawen ansässig waren – von Skandinaviern, insbesondere Dänen. Ein sicheres Indiz dafür ist die Bebauung der Hafen- und der Zentralzone, die deutlich mit derjenigen der Haupthäfen Jütlands – Haithabu und Ribe – übereinstimmt. Die Hauptgebäude, die häufig mit weiteren Bauwerken jeweils zu einem Gehöft vereinigt wurden, waren ihrerseits Teile einer regelmäßigen Bebauung, die aus einheitlichen Gebäudereihen und längs der Häuserzeilen verlaufenden Straßen bestanden. Die in dieser Zone entdeckten Artefakte sind ebenfalls fast ausschließlich skandinavischer Herkunft.
Die in Truso tätigen Schmiede stellten in ihren Werkstätten eiserne Werkzeuge und Waffen her, wobei das dabei verwendete Eisenerz entweder aus den hiesigen Rohstofflagern gefördert wurde oder eine Einfuhrware war. Unter ihren Erzeugnissen gab es Messer, die unter Verwendung der sog. „Sandwich-Technik“ hergestellt wurden sowie Sicheln, Schlüssel, Pfeil- und Spießspitzen wie auch Schwerter. Daneben produzierten sie auch verschiedene Verbindungselemente wie Nieten, Nägel, Draht, Kettenglieder und Haken.
In Truso waren auch Werkstätten vorhanden, die sich mit der Horn- und Geweihbearbeitung befassten. Hergestellt wurden aus diesem Stoff neben allerlei Fassungen und Belägen auch Spielsteine für das Strategie-Brettspiel „Hnefatatl“ und – vor allem – Kämme. Es ist anzunehmen, dass diese Produzenten sowohl lokale Kunden als auch weit entfernte Märkte bedienten.
Hiesige Feinschmiede und Juweliere stellten vielerlei Schmuckstücke her, die in Hinsicht auf ihren Herstellungstechnik und Ornamentik ein typisches Beispiel für die Technik und den Stil der skandinavischen Kultur bilden. Zu nennen sind hier silberne und bronzene Scheibenfibeln, bronzene Ringfibeln und gleicharmige sowie Oval- und Kleeblattfibeln, bronzene Nadeln und bronzene Ketten, die zum Befestigen von Nadelbüchsen an der Kleidung dienten. Zudem entstanden verschiedenartige Amulette, silberne und bronzene Ringe oder Anhänger, die mit dem Odin‑, Thor- und Loki-Kultus verbunden waren.
In Truso gab es auch Vertreter des Glasgewerbes. Dies belegen Spuren von Glaswerkstätten mit Feuerstellen, halbfertigen Glasperlen, typischen Produktionsabfällen und Glasscherben rings herum. Zerbrochenes Geschirr sowie gläserne Mosaikwürfel, die man aus dem Rheinland oder dem Byzantinischen Reich importierte, wurden in verschiedene Arten von Glasperlen umgewandelt, die sich in Hinsicht auf ihre Herstellungstechnik in gezogene, gewickelte und gepresste sowie Blasglasperlen untergliedern lassen.
Eine besonders umfangreiche Fundgruppe in Truso bildet der Bernstein, aus dem mannigfache Erzeugnisse gefertigt wurden. Bislang wurden schon mehrere Dutzend Kilogramm dieses Materials entdeckt. Ein großer Teil davon sind Produktionsabfälle sowie unvollendete oder beschädigte und auf unterschiedlichen Produktionsstufen verworfene Stücke. Aus Bernstein wurden Perlen verschiedener Größen, Spielfiguren und Anhänger hergestellt, darunter oftmals religiöse Symbole wie der heidnische Thor-Hammer oder aber auch solche des neuen Glaubens wie das Kreuz.
Bekanntlich entstand Truso in einem Grenzgebiet, das im frühen Mittelalter vom Elbingfluss (Ilfing), dem Drausensee und der Sorge markiert wurde und in dem slawische und baltische Elemente miteinander in Berührung kamen. Die Gründung solcher Handelsplätzen in Kontaktgebieten ist eine vertraute Erscheinung; dies bestätigen andere Ansiedlungen dieser Art: Haithabu – einer der zentralen Orte der Wikingerzeit – lag im deutsch-dänischen Grenzgebiet.
Bei dieser Beschreibung fällt auf, dass wir in Bezug auf Truso von ganzen Völkergruppen – Slawen und Balten – sprechen, während im Falle von Haithabu konkrete Nationen wie Deutsche und Dänen benannt werden. Dieser Antagonismus resultiert aber wohlgemerkt nicht aus Differenzen in der zivilisatorischen Entwicklung der beiden Teile Europas, sondern vielmehr aus den sehr unterschiedlichen Möglichkeiten, die jeweiligen Territorien differenziert zu erforschen, denn im Gegensatz zum Nordwesten Europas liegen in Bezug auf den Nordosten kaum glaubwürdige schriftliche Quellen aus der Wikingerzeit vor. Immerhin verfügt die Wissenschaft über ein Dokument, das bei der spärlichen Überlieferungslage auch weiterhin das wichtigste Zeugnis aus dieser geschichtlichen Phase bildet: den Bericht über eine Seereise nach Truso, der am königlichen Hof von Wessex niedergeschrieben wurde.
Das Truso Alfreds des Großen
Diese Überschrift mag auf den ersten Blick etwas befremdlich wirken, sie weist aber mit Recht darauf hin, dass der Name dieses Seehandelsplatzes ausschließlich dank Alfred dem Großen (848/849–899), dem König der West-Sachsen (bzw. späterhin Angelsachsen), überliefert wurde. Dieser Herrscher von Wessex hat sich seinen ehrenvollen Beinamen nicht nur durch die siegreichen Kämpfe gegen die Wikinger und als weitblickender Staatsmann verdient, sondern ging – obwohl er sein Schwert über lange Zeit nicht ruhen lassen konnte – auch in die Geschichte ein als Mäzen der Kultur und Literatur sowie als Förderer der englischen Sprache und ihrer Verbreitung. In seiner Regierungszeit florierten Kunst und Gewerbe. Er versammelte an seinem Hof zahlreiche Gelehrte, vor allem aus dem karolingischen Reich, von denen er sich in Bildungs- und Religionsfragen beraten ließ. Unter seiner Regierung entstanden die ersten Aufzeichnungen der „Angelsächischen Chronik“ (Anglo-Saxon Chronicle), und der König trug, nachdem er selbst noch Latein gelernt hatte, persönlich zu den Übersetzungen lateinischer Schriften ins (Alt-)Englische bei.
Eines dieser Werke war die von Paulus Orosius 417 verfasste und gegen heidnische Vorstellungen („adversum paganos“) gerichtete Abhandlung Historiae adversum paganos libri VII. In sieben Büchern („libri VII“) bietet Orosius historische Schilderungen und Interpretationen („historiae“). Dabei gibt er in der Einleitung eine Chorographie, eine Beschreibung des Erdraumes, in seinem Falle somit eine (kurze) geographische Schilderung der damals bekannten Welt. Sie vermochte lediglich den damaligen Kenntnisstand widerzuspiegeln und beschränkte sich deshalb – was hier von besonderer Bedeutung ist – auf die Gebiete, die unmittelbar an das Römische Reich angrenzten. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die zwischen Rhein und Weichsel gelegenen Regionen keine Berücksichtigung fanden. Diese Defizite hinderten bezeichnenderweise freilich nicht, dass die Historiae mehrere Jahrhunderte lang als grundlegende Quelle zur räumlich-politischen Gestaltung Europas und dessen ethnischer Verhältnisse gelten konnten.
Die Entwicklung von Forschungsinteressen konnte durch die Umstände, die zwischen 871, dem Beginn von Alfreds Regierungszeit, und 886 an seinem Hof herrschten, nicht gerade begünstigt werden, denn dies war nämlich die Zeitspanne, in der die West-Sachsen ihre schweren Kämpfe gegen die Dänen zu bestehen hatten. Wessex war auf englischem Boden das einzige Königreich, das die Wikinger abwehrte – Northumbria, Ostanglien und der östliche Teil von Mercia wurden allesamt von nacheinander einfallenden dänischen Heeren erobert.
Was also konnte Alfred dazu bewegt haben, einen seiner Höflinge gerade in dieser Zeit (zwischen 880 und 890) auf eine weite und gefährliche Reise nach Truso zu entsenden? Wulfstan (so lautete der Name des Gesandten) war allem Anschein nach ein Angelsachse und – wie eine gründliche Analyse von Alfreds Schrifttum zeigt – eine wichtige Person am königlichen Hofe. Er erstattete nicht nur einen Bericht über seine Seefahrt nach Truso und die von den Ästiern (verschiedenen Gruppen der Balten, in diesem Falle den Prußen) bewohnten Gebiete, sondern hatte auch Anteil an der Fassung der an Alfreds Hofe übersetzten Chorographie des Paulus Orosius.
Dass das dort entworfene Bild Europas wesentlich ergänzt werden musste, stellte Wulfstan während seiner Reise anhand etlicher Beobachtungen fest. Die umfangreichen Eizugsgebiete von Elbe, Oder und Weichsel waren im 6. bis 7. Jahrhundert von den Slawen besiedelt worden. Vom Samland strömten zur selben Zeit Gruppen von Balten in westlicher Richtung und ließen sich dann auf dem Gebiet der Elbinger Höhe und am östlichen Rande des Sorge-Tals nieder. Diese Verschiebungen zeichnete Wulfstan penibel auf und gab Alfred dadurch die Möglichkeit, sich ein zutreffendes aktuelles Bild der ethnischen Verhältnisse im Ostseeraum zu verschaffen.
Wulfstan sagte, dass er von Haedhum [Haithabu] fuhr, dass er in sieben Tagen und Nächten in Truso war, dass das Schiff den ganzen Weg unter Segel lief. Wendenland war ihm zur rechten [Steuerbord] und zur linken [Backbord] war ihm Langeland und Laaland und Falster und Schonen, und diese Länder gehören alle zu Dänemark.
Und dann war uns Bornholm [der Burgunden Land] zur linken, und sie haben für sich selbst einen König. Dann nach Bornholm waren für uns die Länder, die Bleckingen und Möre und Oeland und Gotland heißen, zur Linken, und diese Länder gehören zu Schweden. Und Wendenland war uns den ganzen Weg zur Rechten bis zur Weichselmündung [„Wislemudha“].
Die Weichsel ist ein sehr großer Fluss und sie trennt Witland und Wendenland, und [dieses] Witland gehört den Esten. Und die Weichsel fließt aus Wendenland heraus und fließt in das Frische Haff [„Estmere“], und das Frische Haff ist wenigstens [sicherlich] 15 Meilen breit. Dann kommt der Elbing [„Ilfing“] von Osten in das Frische Haff aus dem See [„mere“], an dessen Gestade Truso steht, und es kommen zugleich heraus in das Frische Haff der Elbing von Osten aus dem Estenlande und die Weichsel vom Süden aus dem Wendenlande, und dann nimmt die Weichsel dem Elbing seinen Namen und fließt aus dem Haff [„mere“] nordwestlich in die See [„sae“] und daher heißt man es Weichselmündung.
Ungeachtet der erheblichen Erweiterung der Kenntnisse stellt sich allerdings die Frage, ob allein der Wunsch nach einem vollständigeren Bild von Mittel- und Ostmitteleuropa der Beweggrund gewesen sein mag, aus dem heraus Wulfstan nach Truso und in das Ästierland geschickt wurde? Beim Versuch, zu einer Antwort zu gelangen, kommen durchaus auch politische Motive zum Vorschein und lassen das Bedürfnis nach einer deutlichen Horizonterweiterung, die Alfred, dem wissensdurstigen Gelehrten auf dem Königsthron, freilich auch nicht abgesprochen werden sollte, stärker in den Hintergrund treten.
Bemerkenswert ist, dass – abgesehen vom Namen des Handelsplatzes – so gut wie keine Angaben zu Truso selbst überliefert worden sind, während nicht nur die Seefahrt präzise festgehalten wird, sondern Wulfstan – sogar vom heutigen Standpunkt aus gesehen – sehr fundiert von den Ästiern berichtet: von ihren Kenntnissen, Sitten, ihrer Wirtschaft, ihrem Glauben und insbesondere ihrer Siedlungsstruktur. Dies könnte den Schluss nahelegen, dass Alfred in der Zeitspanne, in der Wessex massiv von den Dänen bedroht wurde, nach Mitteln suchte, die Gefahr abzuwehren – und dass er auch deshalb Wulfstan nach Truso, ins slawisch-baltische Grenzgebiet, entsandte, damit er dort die dänische Siedlungstätigkeit erkundete. Das hieße letztlich, dass die Unternehmung eine quasi nachrichtendienstliche Dimension gewänne. Unter dieser Voraussetzung könnten Wulfstans Ausführungen über die umwallten Siedlungen der Ästier in einen Zusammenhang gebracht werden mit vergleichbaren Anlagen, den „Boroughs“ (Burgen), die Alfred in seinem Reich systematisch errichten ließ und die neben anderen militärischen Neuerungen der Landesverteidigung wesentlich dazu beitrugen, dass die Wikinger nicht nur im Osten vom Gebiet der Ästier, sondern auch im Westen vom Königreich Wessex ferngehalten wurden.