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Aufgeräumte Erinnerungen

Von Tilman Asmus Fischer

Die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung präsentiert seit dem 21. Juni die Dauerausstellung ihres Dokumentationszentrums. Die Stärken ihres Konzeptes sind ebenso deutlich wie dessen Grenzen

„Kunst auf­räu­men“ lau­tet das Pro­gramm, mit dem Ursus Wehr­li seit gut zwan­zig Jah­ren Erfol­ge fei­ert und aus dem neben diver­sen Büchern und Büh­nen­pro­gram­men sogar eine Brief­mar­ke der Schwei­ze­ri­schen Post her­vor­ge­gan­gen ist: Der Schwei­zer Künst­ler und Kaba­ret­tist nimmt sich bekann­ter wie unbe­kann­te­rer Kunst­wer­ke an und sor­tiert ihre Ele­men­te nach for­ma­len Kri­te­ri­en. Dadurch eröff­net er neue Per­spek­ti­ven auf Bekann­tes und erprobt ‚Ord­nun­gen‘, bei denen je zu fra­gen ist, inwie­weit sie den Kunst­wer­ken inhä­rent sind oder ex post auf die­se ange­wen­det wer­den. An das Œuvre Wehr­lis mag sich erin­nert füh­len, wer am Ende eines Rund­gangs durch die Dau­er­aus­stel­lung des unlängst eröff­ne­ten Doku­men­ta­ti­ons­zen­trums der Stif­tung Flucht, Ver­trei­bung, Ver­söh­nung (SFVV) im Ber­li­ner Deutsch­land­haus vor einer gro­ßen Wand­vi­tri­ne zu ste­hen kommt. Die­se ver­sam­melt 251 Expo­na­te der frü­he­ren Altvater-Heimatstube. Einst­mals in Gärt­rin­gen von hei­mat­ver­trie­be­nen Sude­ten­deut­schen zusam­men­ge­tra­ge­ne und aus­ge­stell­te Stü­cke, hin­ter denen indi­vi­du­el­le Geschich­ten und Bedeu­tun­gen ste­hen, sind hier platz­öko­no­misch nach The­men­ge­bie­ten (Kru­zi­fix neben Kru­zi­fix, Werk­zeug neben Werk­zeug, Berg­kris­tall neben Berg­kris­tall, etc.) sor­tiert zu sehen. In Ana­lo­gie zu Wehr­lis Ansatz könn­te die Vitri­ne den Titel „Erin­ne­run­gen auf­räu­men“ tra­gen – und gewis­ser­ma­ßen scheint dies als Mot­to auf die Dau­er­aus­stel­lung in Gän­ze zuzu­tref­fen. Hier­in lie­gen sowohl die Stär­ken als auch die Gren­zen der in den ver­gan­ge­nen Jah­ren – von Fach­krei­sen wie der Medi­en­öf­fent­lich­keit – äußerst vehe­ment dis­ku­tier­ten Gedenk­stät­te in der Bundeshauptstadt.

Erinnerungstransfer 

Zunächst zu den Stär­ken: Die Dau­er­aus­stel­lung eröff­net neue Per­spek­ti­ven auf den The­men­kom­plex von Flucht und Ver­trei­bung der Deut­schen am Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges. Dies ver­mag sie in dem Sin­ne, dass sie einen wich­ti­gen Bei­trag zu einem sich bereits seit Jah­ren voll­zie­hen­den Trans­for­ma­ti­ons­pro­zess leis­tet, der dadurch bedingt ist, dass zum einen die Erfah­run­gen von und Erin­ne­run­gen an Flucht und Ver­trei­bung von nur noch einer immer klei­ner wer­den­den Grup­pe von Zeit­zeu­gen selbst ver­mit­telt wer­den kön­nen. Zum ande­ren befin­den sich auch die von eben­die­sen Betrof­fe­nen geschaf­fe­nen Insti­tu­tio­nen, Medi­en und For­ma­te – lands­mann­schaft­li­che Orga­ni­sa­tio­nen, Muse­en, Samm­lun­gen, Peri­odi­ka, Hei­mat­tref­fen – in einem Pro­zess der Über­ga­be an Gene­ra­tio­nen Nach­ge­bo­re­ner, für die der Bezug auf die Hei­mat­ge­bie­te und das his­to­ri­sche Schick­sal des Hei­mat­ver­lus­tes nicht mehr selbst­ver­ständ­lich ist. Dies erfor­dert eine Erklärungs- und Ver­stän­di­gungs­leis­tung: Das mate­ri­el­le wie imma­te­ri­el­le Flucht­ge­päck ist zu erfas­sen, zu bewah­ren und in einer Wei­se zu prä­sen­tie­ren, die auch für künf­ti­ge Gene­ra­tio­nen anschluss­fä­hig ist.

Dies zu leis­ten, ist das ent­schei­den­de Ver­dienst der SFVV. Sie macht im Haupt­teil der Dau­er­aus­stel­lung im zwei­ten Ober­ge­schoss des Deutsch­land­hau­ses anhand indi­vi­du­el­ler Bei­spie­le anschau­lich, was die Zwangs­mi­gra­ti­on der Deut­schen aus den his­to­ri­schen Reichs- und Sied­lungs­ge­bie­ten bedeu­te­te. Sie ord­net die­se exem­pla­ri­schen Schick­sa­le in ihre Vor- und Nach­ge­schich­te ein – also den Natio­nal­so­zia­lis­mus bzw. den Zwei­ten Welt­krieg und die Nach­kriegs­zeit von der Ver­trie­be­nen­in­te­gra­ti­on bis hin zur Ver­stän­di­gung mit den Völ­kern Ost­mit­tel­eu­ro­pas. Bereits im ers­ten Ober­ge­schoss fin­det eine Ein­ord­nung in den Gesamt­zu­sam­men­hang euro­päi­scher Zwangs­mi­gra­tio­nen im lan­gen zwan­zigs­ten Jahr­hun­dert statt, und es wer­den Bezü­ge her­ge­stellt zu gegen­wär­ti­gen For­men von Flucht und Vertreibung.

Individualisierung

Die Art und Wei­se, in der die Dau­er­aus­stel­lung Erin­ne­run­gen ‚auf­räumt‘  – also in einer zugäng­li­chen Wei­se (ein-)ordnet und prä­sen­tiert  – hat jedoch auch deut­li­che Gren­zen: Die wohl wich­tigs­te kann dar­in gese­hen wer­den, dass die Anschau­lich­keit deut­scher Flucht‑, Vertreibungs- und Aussiedlungs-Schicksale den Preis hat, dass durch die star­ke Indi­vi­dua­li­sie­rung der Prä­sen­ta­ti­on der Blick auf ver­all­ge­mei­ner­ba­re Phä­no­me­ne bis­wei­len ver­lo­ren geht. So, wie die Ein­zel­ex­po­na­te der Altvater-Heimatstube für sich neben­ein­an­der prä­sen­tiert wer­den, ohne dass sie jedoch durch eine Rah­mung in ein Ver­hält­nis zuein­an­der gesetzt wür­den, wird die Zwangs­mi­gra­ti­on der Deut­schen gleich­falls über Ein­zel­schick­sa­le the­ma­ti­siert, die als sol­che neben­ein­an­der­ste­hen. Die­se machen für sich und in ihrer Gesamt­heit durch­aus deut­lich, wie facet­ten­reich die Erfah­run­gen sein konn­ten, die sich mit Flucht und Ver­trei­bung ver­ban­den. Jedoch bleibt dem Besu­cher, der ohne Vor­kennt­nis­se die Aus­stel­lung besucht, ver­schlos­sen, in wel­cher Wei­se die bio­gra­fi­schen Ein­zel­fäl­le für die Gesamt­heit des deut­schen Ver­trei­bungs­schick­sals reprä­sen­ta­tiv sind oder in wel­cher Wei­se in ihnen Spe­zi­fi­ka ein­zel­ner Regio­nen oder Pha­sen der Zwangs­mi­gra­ti­on zum Aus­druck kommen.

So prä­sen­tiert die Aus­stel­lung etwa das Schick­sal des 1935 im ost­preu­ßi­schen Ins­ter­burg gebo­re­nen Wer­ner Kaschä­rus, der nach Kriegs­en­de, von sei­ner Mut­ter getrennt, nach Lett­land gelang­te, wo er von einer Bäue­rin auf­ge­nom­men wur­de und auf­wuchs. Dass es sich bei Kaschä­rus um ein „Wolfs­kind“ han­delt, wird nicht expli­ziert; dass er damit für eine spe­zi­fi­sche Opfer­grup­pe unter ande­ren steht, erfährt der Besu­cher nicht. Dies ist umso erstaun­li­cher, als die­se Grup­pe spä­tes­tens seit dem Kino­film Wolfs­kin­der (2013) und dem Medi­en­echo auf die Ver­öf­fent­li­chun­gen von Chris­to­pher Spatz in der brei­te­ren Öffent­lich­keit durch­aus einen Begriff dar­stellt, auf den sich in ver­ständ­nis­för­dern­der Wei­se Bezug neh­men ließe.

Leerstellen

Pro­ble­ma­ti­scher mag frei­lich das Resul­tat des Aus­le­se­pro­zes­ses sein, das in den meis­ten Fäl­len mit dem Auf­räu­men ein­her­geht. Nun befin­det sich Ursus Wehr­li in der glück­li­chen Lage, dass die Betrach­ter sei­ner auf­ge­räum­ten Kunst­wer­ke just erwar­ten, alle Ele­men­te des ursprüng­li­chen Bil­des auch in sei­ner geord­ne­ten Ver­si­on wie­der­zu­fin­den. Wer jedoch Geschich­te und mit ihr ver­bun­de­ne Erin­ne­run­gen „auf­räumt“, ist ange­sichts der zu prä­sen­tie­ren­den Mas­se an Infor­ma­ti­on und des Ziels der Über­sicht­lich­keit gezwun­gen, aus­zu­wäh­len und Schwer­punk­te zu set­zen. Dabei wird feh­len­de Detail­ge­nau­ig­keit im Diens­te der Muse­ums­di­dak­tik dem Kura­tor am Ende wohl auch noch gedankt. Doch besteht die Gefahr, als Detail zu fas­sen und aus­zu­blen­den, was womög­lich mehr als ein Rand­phä­no­men ist. Dies gilt zum einen für die Ver­sen­kung der Wil­helm Gustl­off am 30. Janu­ar 1945. Dass das größ­te Unglück der See­fahrts­ge­schich­te – wel­ches zudem pars pro toto für die Flucht über die Ost­see steht – erst als Gegen­stand der Erin­ne­rungs­kul­tur der Nach­kriegs­zeit in den Blick genom­men wird, jedoch im Aus­stel­lungs­teil zu Flucht und Ver­trei­bung selbst unter­be­lich­tet bleibt, erscheint fragwürdig.

Bedenk­li­cher ist die Aus­spa­rung sexua­li­sier­ter Gewalt im Kon­text von Zwangs­mi­gra­tio­nen. Zwar wird die­ses Phä­no­men in der all­ge­mei­nen Ein­füh­rung des ers­ten Ober­ge­schos­ses ange­spro­chen – ange­sichts von ca. 1,4 Mil­lio­nen durch Ange­hö­ri­ge der Roten Armee ver­ge­wal­tig­ter Frau­en unter den deut­schen Opfern von Flucht und Ver­trei­bung stellt sich jedoch durch­aus die Fra­ge, wes­halb die­ser Pro­ble­ma­tik nicht in her­vor­ge­ho­be­ner Wei­se nach­ge­gan­gen wird. Dies umso mehr, als es an die­ser Stel­le gegol­ten hät­te, eine Opfer­grup­pe zu Wort kom­men zu las­sen, aus deren Rei­hen – aus mehr als ver­ständ­li­chen Grün­den – nur die wenigs­ten bereit waren, über das Erleb­te zu spre­chen. War­um, so lie­ße sich zuge­spitzt fra­gen, scheint den Machern der Aus­stel­lung die Fra­ge geschlecht­li­cher Iden­ti­tät im Kon­text von Flucht und Ver­trei­bung der­art bedeut­sam zu sein, dass sie sich – ent­ge­gen der zumin­dest noch in Gel­tung ste­hen­den Kon­ven­tio­nen ande­rer gro­ßer Kul­tur­ein­rich­tun­gen – für eine gegen­der­te Spra­che in den Text­ta­feln ent­schei­den, wenn ande­rer­seits eine en mas­se auf­ge­tre­te­ne Form geschlechts­spe­zi­fi­scher Gewalt inhalt­lich nur eine Neben­rol­le spielt?

Potenziale

Trotz der Leer­stel­len des Ver­suchs, in der Dau­er­aus­stel­lung Erin­ne­rung „auf­zu­räu­men“ – deren Iden­ti­fi­zie­rung sich selbst­ver­ständ­lich den Inter­essen und Per­spek­ti­ven des jewei­li­gen Betrach­ters ver­dankt –, eröff­net das Doku­men­ta­ti­ons­zen­trum in sei­ner Gän­ze den­noch die Mög­lich­keit einer umfas­sen­den wie detail­ge­nau­en Beschäf­ti­gung mit der deut­schen Ver­trei­bungs­ge­schich­te. (Dar­über hin­aus ist das Doku­men­ta­ti­ons­zen­trum übri­gens nicht nur ein Ort der Wis­sens­ver­mitt­lung, son­dern bie­tet auch Gele­gen­heit zum Inne­hal­ten und zur Refle­xi­on mit tran­szen­den­ten Bezü­gen. Hier­zu dient der im Ein­gangs­be­reich befind­li­che Raum der Stille.)

Schließl­lich bie­tet das Haus zum einen eine Spe­zi­al­bi­blio­thek sowie ein Zeit­zeu­gen­ar­chiv mit einem Lese­saal, der für wis­sen­schaft­li­che Recher­chen eben­so zur Ver­fü­gung steht wie für ver­tie­fen­de Lek­tü­ren und fami­li­en­kund­li­che For­schun­gen. Zum ande­ren darf dar­auf gehofft wer­den, dass über das im Früh­jahr anlau­fen­de Pro­gramm an Son­der­aus­stel­lun­gen Aspek­te ver­tieft wer­den, durch die die Dau­er­aus­stel­lung – zumal hin­sicht­lich ihres Schwer­punk­tes: „Flucht und Ver­trei­bung der Deut­schen am Ende des Zwei­ten Welt­kriegs“ – in sinn­vol­ler Wei­se ergänzt wird. Den Auf­takt wird die Aus­stel­lung Unser Mut. Juden in Euro­pa 1945–48 machen. Hier­bei han­delt es sich um eine Wan­der­aus­stel­lung des Jüdi­schen Muse­ums Frank­furt. So span­nend und wich­tig das The­ma ist: Den pro­gram­ma­tisch bedeut­sa­men Bereich der Son­der­aus­stel­lun­gen mit einer Leihaus­stel­lung zu eröff­nen, ver­spielt die Chan­ce, in mar­kan­ter Wei­se deut­lich zu machen, wel­che Akzen­te der Haus­herr selbst, also das Team der SFVV, in sei­nem Doku­men­ta­ti­ons­zen­trum mit selbst­ku­ra­tier­ten Aus­stel­lun­gen zu set­zen bestrebt ist. Dies erfah­ren zu kön­nen, darf somit auch noch etwas län­ger mit Inter­es­se abge­war­tet werden.