Ein ausgeblendetes Kapitel der Alltagsgeschichte
Von Adrian Mitter
Im Sommer 1930 verhandelte die Danziger Strafkammer wegen »gewerbsmäßigen Bandenschmuggels« gegen neun Angeklagte. Die acht Männer und eine Frau hatten zu nächtlicher Stunde auf Fischerbooten Waren über den Fluss Nogat nach Danzig eingeschmuggelt. Nachdem die Stadt und ein Teil ihres Umlandes zur Freien Stadt erklärt worden waren, verlief entlang des Gewässers eine internationale Grenze zwischen dem Deutschen Reich und der Freien Stadt Danzig. Auch westlich und südlich der Stadt dauerte es nicht sonderlich lange, bis die Danziger auf Steinsäulen trafen, die die Grenze zum polnischen Staatsgebiet markierten.
Aufgrund der erdrückenden Beweislast stand die Schuld der Angeklagten im Schmuggelprozess schnell fest. Der Kopf der Bande und seine rechte Hand wurden zu satten Geldstrafen (36.000 bzw. 18.000 Gulden) sowie Haftstrafen verurteilt. Doch was war eigentlich des Nachts auf die Fischerboote verladen und nach Danzig gebracht worden? Es waren weder Drogen, Waffen, Falschgeld noch Zigaretten oder sonstige Güter, die heutzutage üblicherweise mit Schmuggel in Verbindung gebracht werden. Die Bande schmuggelte Spielzeug, das nicht unter der Hand, sondern in lokalen Geschäften verkauft wurde. Aufgrund der Zollbestimmungen der Freien Stadt Danzig fielen bei der Einfuhr von Spielwaren horrende Zölle an. Für einen Metallbaukasten beispielsweise betrug der Zoll allein 85 Danziger Gulden. Selbst die Vorarbeiter der Danziger Werft konnten sich bei einem Stundenlohn von unter einem Gulden solch ein Geschenk für ihre Kleinen vermutlich nicht leisten. Mit Murmeln, Blechschiffchen, Mundharmonikas und anderen Favoriten der Danziger Kinder sah es bei den Zöllen nicht anders aus.
Die Danziger Schmugglergesellschaft
In der Freien Stadt Danzig war Schmuggel allgegenwärtig; er wurde, beispielsweise durch den Kauf von geschmuggelten Waren, von weiten Teilen der Bevölkerung toleriert, wenn nicht selbst ausgeübt. Der Ethnologe Matthias Wagner bezeichnet eine solche Gemeinschaft treffend als »Schmugglergesellschaft«. Der Danziger Journalist Friedrich von Wilpert stellte sogar fest, dass die Danziger Schmuggel als eine Art »Sport« betrachteten: »Manche betrieben diesen ›Sport‹ aus reiner Leidenschaft, und niemand kam auch nur auf den Gedanken, er begehe eine strafwürdige Tat. Wer einmal gefasst wurde, der schimpfte auf die Polen, zahlte die Strafe und beschloss, nächstens noch vorsichtiger ans Werk zu gehen.«
Man könnte argumentieren, dass es Schmuggel überall gibt, wo Ländergrenzen verlaufen. Von Wilpert präzisierte in seinen Memoiren allerdings des Weiteren: »Infolge der komplizierten Verkehrsverhältnisse im Verein mit den prohibitiven polnischen Zollgesetzen wurden die meisten Danziger systematisch zu Schmugglern erzogen.« Die Mehrheit der Danziger Einwohner wurde aber nach dem Ersten Weltkrieg nicht allein zu Schmugglern, nur weil Danzig nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrages zur semiautonomen Freien Stadt erklärt worden und nun von Grenzen umgeben war. Es war zunächst vor allem die Not der Nachkriegsjahre, die dafür sorgte, dass der Schmuggel blühte. Als Stadtstaat war Danzig nicht in der Lage, sich selbst mit Lebensmitteln und Brennstoffen zu versorgen; so trafen die Hungerjahre die Stadt mit äußerster Härte, zumal auch in Deutschland und Polen Nahrungsmittelengpässe auftraten. Auch deshalb hatten weder der polnische noch der deutsche Staat ein ausgeprägtes Interesse daran, Danzig zu beliefern, und die lokale politische Lage überforderte den Völkerbund und seine Vertreter heillos.
Die Danziger blieben somit weitestgehend auf sich allein gestellt. Der einzige Weg, um an Nahrungsmittel zu kommen, war für die Einwohner Danzigs oftmals eine Reise ins deutsche und polnische Umland. Sogenannte Hamsterfahrten, bei denen die Stadtbewohner aufs Land fuhren, um sich bei den Bauern mit Lebensmitteln einzudecken, waren im Danziger Gebiet deshalb in der Regel mit illegalem Grenzübertritt und Schmuggel verbunden.
Überlebensstrategie oder Profitgier?
Angesichts der Lebensmittelknappheit in Polen griffen die Soldaten, die nun die Grenzen nach Danzig bewachten, hart durch. Selbst in der lokalen polnischsprachigen Gazeta Gdańska gab es deshalb gegen dieses Konfiszieren von Lebensmitteln an der Grenze wütende Proteste. Überdies kontrollierte auch die Danziger Bürgerwehr innerhalb der Stadtgrenzen. Preise für Lebensmittel erreichten ungeahnte Höhen, denn auch die in der Stadt stationierten englischen und französischen Truppen mussten versorgt werden und konnten mit ihren Devisen fast jeden Preis zahlen. Ähnliche Vorteile hatten die Auswanderer, die im Lager Troyl, oftmals mit Geld ihrer nordamerikanischen Verwandten ausgestattet, auf die Fahrt über den Atlantik warteten.
Während der Großteil der Bevölkerung hungerte, blieben die Danziger Restaurants bestens versorgt, und angesichts des dortigen Angebots zweifelte der spätere Völkerbundkommissar Reginald Tower anfänglich an der Lebensmittelknappheit. Die Danziger Bevölkerung hingegen konnte bestimmte Lebensmittel wie Fleisch und Butter nur auf Schwarzmärkten erstehen, wo die Bauern die knappen Waren jedoch zu Preisen anboten, die sich einfache Arbeiter nicht leisten konnten.
Die explodierenden Preise machten nicht nur die lokalen Landwirte reich, sondern führten auch dazu, dass Lebensmittelschmuggel, der weit über den Eigenbedarf hinausging, für organisierte Banden aus dem deutschen und polnischen Umland zu einem einträglichen Geschäft wurde. Tödliche Schießereien zwischen Schmugglern und der polnischen Grenzbewachung waren in den Nachkriegsjahren nicht selten, und Kugeln trafen auch manches Danziger Fischerboot, das sich in polnische Hoheitsgewässer verirrte. In großem Stil wurden außerdem Hilfsgüter verschoben, die eigentlich für die notleidende polnische Bevölkerung bestimmt waren und aus Übersee im Danziger Hafen eintrafen. Statt nach Polen wurden die Wagons in andere Länder umgeleitet, wo man hohe Preise für Massengüter wie Getreide und Kohlen zahlte.
Als der Dollar stieg
Ein weiterer Faktor, der dem Schmuggel in Danzig zusätzlichen Auftrieb gab, war die einsetzende Hyperinflation. Im Stadtstaat blieb bis 1923 die Papiermark der Weimarer Republik die offizielle Währung. Der Wertverlust der Mark verteuerte nicht nur die Lebensmittel und Brennstoffe, sondern machte die illegale Einfuhr von Devisen und Edelmetallen zu einem lukrativen Geschäft. Durch die Inflation verlor nicht nur die deutsche, sondern auch die polnische Mark gegenüber anderen Währungen rasant an Wert. In Polen wurde deshalb die Währungsausfuhr verboten, um den Kurs zu stabilisieren. Die Bewohner versuchten trotzdem, sowohl polnische als auch deutsche Mark, die in den ehemaligen preußischen Gebieten noch vorhanden waren, nach Danzig einzuschmuggeln, um sie gegen Devisen oder Edelmetalle einzutauschen.
Die Danziger Börse im Artushof war in der Nachkriegszeit der einzige Ort außerhalb Polens, an dem die polnische Währung gehandelt werden konnte, und ab 1922 waren dort auch amerikanische Dollar und britische Pfund zu haben. Neben der offiziellen Börse im Artushof entstand auf der Langgasse eine illegale Börse, die sogenannte »Schwarze Börse«, und Wechselstuben schossen wie Pilze aus dem Boden. Zur Hochzeit der Inflation war Danzig ein internationaler Finanzplatz, und Devisenhändler strömten aus Polen und dem Deutschen Reich in den Stadtstaat – sehr zum Missfallen der polnischen Regierung, die im Sommer 1923 sogar alle Telefonverbindungen zwischen Polen und der Freien Stadt für einige Tage unterbrach, um gegen die Spekulationen vorzugehen. Die Ära des Devisen- und Nahrungsmittelschmuggels endete schließlich im Herbst 1923 mit der Einführung einer eigenen Danziger Währung, des Gulden, der an das britische Pfund gekoppelt war.
Der Danziger Schriftsteller Felix Scherret hat diese turbulente Inflationszeit im Roman Der Dollar steigt verewigt. Auch der Protagonist dieses Buches, Alfred Arp, spekuliert an der Börse und verdient sich einen Teil seines Geldes als Schmuggler. Er bringt Kokain aus Polen im Tank seines Autos versteckt nach Danzig. Kokain, das in den Zwanzigern noch auf Rezept in Apotheken erhältlich war, spielte unter den Schmuggelgütern der Zwischenkriegszeit freilich nur eine sehr untergeordnete Rolle.
Spiritus für Skandinavien
Es war das Verbot einer anderen Droge, das Danzig in den Zwanzigern zur Drehscheibe für internationalen Schmuggel machte – die Alkoholprohibition in den skandinavischen Ländern. Noch vor den Vereinigten Staaten führte Finnland 1919 ein totales Alkoholverbot ein, Schweden erschwerte durch das Bratt-System den Kauf für alle Einwohner und verbot den Konsum für bestimmte Personengruppen komplett, während Norwegen zeitweise den Verkauf von Getränken mit mehr als 20 Prozent Alkoholgehalt untersagte. Getrunken wurde natürlich trotzdem, vor allem geschmuggelter Alkohol aus Mitteleuropa.
Für die Schmuggler war Danzig sehr günstig gelegen zwischen den Absatzmärkten im Norden und den großen Herstellerländern im Süden und Westen. Auch wenn die eine oder andere Flasche »Danziger Goldwasser« den Weg nach Finnland fand, war es vor allem Spiritus, der geschmuggelt wurde. Dessen Vorteile lagen auf der Hand: Durch den hohen Alkoholgehalt von über 95 Prozent nahm Spiritus wenig Platz auf den Booten ein und konnte teuer verkauft werden. Die nordischen Verbraucher verdünnten den Spiritus und mischten sich dann das Getränk ihrer Wahl zurecht. Außerdem war Spiritus nach dem Ersten Weltkrieg sehr günstig von den nationalen Alkoholmonopolen zu bekommen, denn fast jedes Land hatte einen Produktionsüberschuss, so auch Polen, Deutschland und die Tschechoslowakei. Die lokalen Danziger Spritwerke in Neufahrwasser produzierten bei weitem nicht so günstig.
Nur während der Anfangsjahre um 1920 fand der Schmuggel in kleinerem Format direkt mit schnellen Booten von Küste zu Küste statt. Der Danziger Hafen bot den Vorteil einer Freizone, die aus Lagerflächen bestand, die nicht Teil des Danziger Zollgebiets waren. Durch die Freizone sollte vor allem der Transithandel über Danzig erleichtert werden, indem man den Kaufleuten ermöglichte, Waren ohne Zollabfertigung einzuführen, umzupacken und weiter ins Ausland zu verschiffen. Für die normale Wirtschaft hatte die Freizone nur untergeordnete Bedeutung. Die Schmuggler hingegen vermochten immens davon zu profitieren, denn der in Kesselwagen über den Schienenweg eintreffende Spiritus konnte in Danzig in Blechkanister umgefüllt und verschifft werden. Dieses Prozedere war nach der lokalen Gesetzgebung legal, und Firmen wie die Holm Export und Handelsgesellschaft mit Sitz am Kohlenmarkt entstanden, die sich nur mit dem Alkoholexport zu Schmuggelzwecken befassten.
Die Holm Export ließ den Spiritus auf große Schiffe verladen, und die Schiffsmakler gaben in den Registern sogar offen die Zielhäfen in den Prohibitionsländern an. Statt diese anzusteuern, blieben die Schiffe aber außerhalb der Hoheitsgewässer für Wochen und Monate wie eine Art schwimmender Verkaufsstand liegen. Im Jahr 1924 dokumentierte ein lokaler Alkoholgegner, dass ein Spiritusschiff ostwärts von Kiel nach Danzig segelte und später, ohne seine Ladung gelöscht zu haben, gar weiter westwärts nach Hamburg fuhr. Bei solchen Fahrten war der Zweck, unterwegs Spiritus zu verkaufen, offensichtlich. Im selben Jahr verzeichneten die Register des Danziger Hafens Schiffe, die mit Alkohol beladen aus Finnland nach Danzig fuhren. Das bedeutete freilich nicht, dass Alkohol aus einem Prohibitionsland importiert wurde. Vielmehr brachten diese Schiffe lediglich unverkauften Spiritus zurück.
Aufgrund der unterschiedlichen Lieferanten, Abnehmer und beteiligten Personen waren die Schmuggelnetzwerke international. Sowohl Danziger als auch polnische, deutsche und andere Nationalitäten organisierten und stellten die Besatzungen der Schiffe. Über die Hintermänner und die Finanzierung des Schmuggels ist wenig bekannt. Wenn diese einmal ans Licht kommen, dann wirken sie im Rückblick überraschend, denn sie legen häufig nahe, dass auch ehrbar anmutende Danziger Bürger involviert waren. Dies lässt sich am Beispiel eines Schmiedemeisters ablesen, der 1930 heimlich 4.400 Gulden aus der Kasse der Schmiedeinnung entwendet hatte, um sie in ein Schmuggelschiff zu investieren. Nachdem das Schiff jedoch von Grenzbeamten aufgespürt und konfisziert worden war, konnte der Schmied das Geld nicht mehr ersetzen: Der Diebstahl und dessen Hintergründe flogen auf.
Torpedos, Schnellboote und fremde Flaggen
Vor Finnland waren es vor allem lokale estnische und finnische Schmuggler, die den Spiritus von den Schiffen kauften und sich mit dem finnischen Grenzschutz ein Versteckspiel lieferten. Dazu wurden auf beiden Seiten vielerlei Tricks angewandt. Schon auf den Mutterschiffen wurden die Spirituskanister beispielsweise in einer Reihe aneinander gebunden, um sie wie eine Art Torpedo unter dem Wasserspiegel – und für die Zöllner aus größerer Distanz mithin unsichtbar – hinter dem Boot herzuziehen, anstatt die Kanister an Deck verladen zu müssen. Bei dieser Technik bestand zudem noch eine Chance, die »Torpedos« noch rechtzeitig über Bord zu werfen, wenn sich ein Zollboot näherte. Mit Hilfe einer anderen Erfindung vermochte man den Alkohol dann mit etwas Glück auch in der Ostsee wiederzufinden: Eine herkömmliche Boje wurde mit Salz beschwert und an den Torpedo gebunden. Durch das zusätzliche Gewicht versank die Boje zunächst mit den Kanistern und war für die Grenzer nicht erkennbar. Nachdem sich das Salz aufgelöst hatte, kam der Schwimmkörper aber wieder an die Wasseroberfläche und erleichterte die Suche für die Schmuggler. Eine große Rolle spielte nicht zuletzt die Bootsgeschwindigkeit. Hier fand zwischen den Schmugglern und dem Grenzschutz ein regelrechtes Wettrüsten statt, wobei Letzterer auch konfiszierte Schmuggelboote nutzte.
In Estland und Finnland gibt es in der Populärliteratur und im Film zahlreiche romantisierende Darstellungen des Alkoholschmuggels. In Wirklichkeit schreckten die organisierten Banden aber keineswegs vor Waffengewalt zurück, und die sogenannten Syndikate lieferten sich erbitterte Revierkämpfe. Durch die niedrigen Spirituspreise waren auch Länder Ziel der Schmuggler, in denen es kein Alkoholverbot gab, beispielsweise die baltischen Staaten. Hier operierte ein Danziger Schmuggelschiff, das den harmlos anmutenden Namen Willi trug, aber durch seine Panzerung eher einem Kriegsschiff glich. Vor der litauischen Küste kam es Anfang 1926 zwischen der Besatzung und dem Grenzschutz zu einer Schießerei. Gegen die Maschinengewehre der Grenzer halfen weder Panzerung noch Pistolen, und der Kapitän und ein weiteres Crewmitglied wurden erschossen. Solche Todesfälle schreckten die Schmuggler aber nicht sonderlich ab. 1930 wurde das Danziger Schmuggelschiff Anni sogar von mehreren Flugzeugen der lettischen Armee bombardiert, nachdem es diese beschossen hatte, und die Besatzung musste sich ergeben.
Die nordischen Länder versuchten verständlicherweise, den Alkoholexport zu unterbinden. Dazu wurde nach zähem Ringen – die anderen Staaten fürchteten eine Störung des regulären Handels – 1925 in Helsinki ein Abkommen geschlossen und von den Anrainerstaaten, darunter auch Danzig, sukzessive ratifiziert. Der Vertrag verbot den Alkoholexport aus den Ostseeländern für kleinere Schiffe mit weniger als 100 Nettoregistertonnen (NRT) und erschwerte den Transport für größere Schiffe. Die finnischen Anstrengungen erwiesen sich allerdings als vergeblich, denn nun wurden die Schmuggelschiffe noch größer und fuhren unter Flaggen von Ländern, die das Abkommen nicht unterzeichnet hatten. Ein Teil dieser Staaten hatte nicht einmal einen direkten Meereszugang. Für die Registrierung war dies aber gar nicht notwendig; dazu bedurfte es nur eines Konsulats, und Danzig hatte als Freie Stadt Dutzende davon. Die Schiffe registrierte man z. B. in Ländern wie der Türkei, der Tschechoslowakei, Ungarn oder Panama. – Erst das Ende der Prohibition in Finnland 1931 brachte einen merklichen Abschwung des Alkoholschmuggels, bedeutete aber nicht dessen Ende.
Sprit aus dem Freihafen und Schuhe aus Marienburg
Der Schmuggel hatte für Danzig vielerlei negative Auswirkungen. So führten die niedrigen Spirituspreise im Freihafen dazu, dass Alkohol auch nach Danzig selbst eingeschmuggelt wurde. Der Danziger Grenzschutz verfügte nur über zwei Motorboote und konnte die Küste des Stadtstaates nicht kontrollieren. Die Danziger Zollbeamten waren auch nicht sonderlich motiviert, denn die Danziger Zolldirektion wurde von Polen verwaltet, während den Großteil der Angestellten deutsche Danziger bildeten. Diese sahen in der polnischen Kontrolle, die durch einige wenige leitende Beamten ausgeübt wurde, eine Bevormundung. Nicht selten standen auch Danziger Zollbeamte vor Gericht, weil sie selbst am Schmuggel beteiligt waren und sich zu bereichern gesucht hatten.
Aus den Zolleinnahmen erhielt Danzig nur einen geringen Teil, und dieser wurde durch den Schmuggel noch geschmälert. Als der Freistaat 1930 die Alkoholsteuer von vier auf acht Gulden erhöhte, sank der Alkoholkonsum nach amtlichen Statistiken um 70 Prozent. Eher unwahrscheinlich, dass so viele Danziger abstinent wurden. Weit wahrscheinlicher ist wohl, dass danach nochmals verstärkt geschmuggelter Alkohol konsumiert wurde. So berichtete der Danziger Bowke Brunon Zwarra in seinen Erinnerungen, dass er sich mit Alkohol- und Tabakschmuggel aus dem Freihafen gern etwas dazuverdient habe.
Für die Danziger blieb der Schmuggel aller Arten von Gütern nach den Hungerjahren der Nachkriegszeit eine Selbstverständlichkeit. Auch die Produzenten stellten sich darauf ein. In den Schuhgeschäften der Innenstadt wurden stets die neuesten Modelle deutscher Firmen ausgestellt, nur kaufte laut den Erinnerungen Friedrich von Wilperts fast niemand dort ein. Stattdessen waren die Preise nicht nur in Danziger Gulden, sondern auch in Reichsmark angegeben, weil die Hersteller wussten, dass die Einwohner sowieso nach Marienburg oder Elbing fahren würden, um die Schuhe dort günstiger zu kaufen. Die Ladenbesitzer hielten hier feines Sandpapier bereit, damit die Danziger Kunden ihren Schuhen ein leicht gebrauchtes Aussehen verschaffen konnten, bevor sie wieder in die Freie Stadt zurückkehrten. Als ähnlich trickreich erwiesen sich deutsche Pharmahersteller, deren Medikamente in Polen nicht zugelassen waren, aber in Danzig verkauft werden durften. Sie vertrieben ihre Produkte über Versandapotheken in der Freien Stadt an polnische Kunden, denn der Paketverkehr zwischen Danzig und Polen wurde nicht kontrolliert.
Schmuggelnde Senatoren und verschwiegene Danziger
Bei all seiner Alltäglichkeit hatte Schmuggel in Danzig verschiedene Facetten und Motivationen: Hunger, Armut, Geldgier und kriminelle Energie, vielleicht sahen viele Danziger den Schmuggel auch als eine Art Protest gegen die ungewollte Freistaatlichkeit und Abtrennung vom Deutschen Reich. Und warum sollte sich der Normalbürger zurückhalten, wenn sogar Danziger Spitzenpolitiker mit Diplomatenpässen schmuggelten? Die öffentliche Empörung blieb weitgehend aus, als der deutschnationale Senator und spätere Senatspräsident Ernst Ziehm mit Koffern voller Einkäufe, die er nicht beim Zoll deklariert hatte, im Fernzug von Berlin nach Danzig ertappt wurde.
Die polnischen Zollbeamten, die jenseits der Freistadtgrenzen ihren Dienst taten, wurden von den Danzigern dagegen als Feindbild betrachtet. Dies machten sich die Nazis zu Nutze, und der polnische Grenzschutz wurde im Laufe der 1930er Jahre immer mehr zur Zielscheibe ihrer Propaganda. Nachdem die überwiegende Mehrheit der Freistadtbewohner 1933 nationalsozialistisch gewählt hatte, schlug diese Diskreditierung der polnischen Grenztruppen in offene Gewalt um. Aus dem Deutschen Reich wurden Waffen zur Ausrüstung lokaler Nazi-Gruppen nach Danzig geschmuggelt, die noch vor Kriegsbeginn polnische Grenzposten angriffen, um so Konflikte im Grenzgebiet weiter anzuheizen. In Kalthof wurde das Wohngebäude polnischer Grenzer angezündet, und es gab bei Schusswechseln und Überfällen Tote auf beiden Seiten, wobei die Aggressionen eindeutig von Seiten getarnter Danziger SA-Einheiten ausgingen. Der polnische Grenzschutz zog sich aus Kalthof zurück, und die Grenze nach Ostpreußen stand dort offen für den Transport schwerer Waffen und Soldaten für den zu Kriegsbeginn geplanten Angriff auf polnische Institutionen in Danzig.
Aus historischer Perspektive ist die Erforschung von Schmuggel schwierig, denn nachdem die Schmuggler die Grenze erfolgreich passiert haben, bleibt er schließlich in der Regel geheim. Nur wenn Schmuggel misslingt, findet er den Weg in die Akten und kann derart zum Gegenstand der Forschung werden. Zudem haftet dem Schmuggel im öffentlichen Diskurs immer etwas Unmoralisches an, so dass die Danziger, ob sie nun Deutsch, Polnisch, Kaschubisch oder eine andere Sprache sprachen, ungern von sich aus zugeben wollten, dass sie die ganze Zwischenkriegszeit hindurch Schmuggel betrieben haben: In der Regel schmuggelten immer nur die anderen. Dass der Schmuggel in der Freien Stadt Danzig allgegenwärtig war, spiegeln aber unzweideutig die vielen Zeitungsartikel wider, die in den Danziger Gazetten jener Zeit erschienen sind.
Daraus erklärt sich vielleicht auch, warum in dieser Zeitung, die seit 1949 vielerlei Arten von Erinnerungen an die Freistadtzeit enthielt, Schmuggel bisher schwerlich als Teil des Danziger Alltags thematisiert wurde und es dem Danziger Historiker Marek Andrzejewski vorbehalten geblieben ist, in den 90er Jahren überhaupt erste Forschungen zu diesem Kapitel der Alltagsgeschichte anzustellen.