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»FLUGT« – ein neues Museum in Oksbøl

Am 29. Juni wurde im dänischen Oksbøl ein nationales „Flucht-Museum“, das Refugee Museum of Denmark, eingeweiht, das dieses Thema, ausgehend von der Zeit am Ende des Zweiten Weltkrieges, als zehntausende Ostdeutsche dorthin kamen, bis in die Gegenwart hinein verfolgt.

Zur Reali­sierung dieses ehrgei­zigen Projekts haben sich gewichtige Förderer zusam­men­ge­funden. Zu ihnen gehören das König­reich Dänemark, die Bundes­re­publik Deutschland, die Kommune Varde und das Bundesland Schleswig-Holstein sowie eine Reihe von Organi­sa­tionen und Stiftungen, darunter der Jyllands-Postens Fond, der Volksbund Deutsche Kriegs­grä­ber­für­sorge oder die Hermann-Niermann-Stiftung. Welche große Bedeutung dieser neuen Einrichtung zugemessen wird, zeigte sich nichts zuletzt darin, dass die Eröffnung in Anwesenheit des deutschen Vizekanzlers Robert Habeck und einer Vielzahl geladener Gäste durch Königin Marga­rethe II. vorge­nommen wurde und auch bei der inter­na­tio­nalen Presse auf breite Aufmerk­samkeit stieß.

Oksbøl liegt an der dänischen Westküste in der Nähe von Esbjerg, und das Museum befindet sich auf einem früheren Militär­ge­lände, auf dem die Wehrmacht nach dem Überfall auf Dänemark im April 1940 ein großes Lager errichtet hatte. 1945 waren es dann vor allem Deutsche, die mit Schiffen über die Ostsee nach Dänemark gerettet wurden. Allein nach Oksbøl kamen 36.000 von ihnen, zumeist Frauen und Kinder.

Das Museum besteht aus zwei langge­streckten, im rechten Winkel zuein­ander stehenden Backstein­ge­bäuden des ehema­ligen Lager­kran­ken­hauses, die durch einen ausschwin­genden licht­durch­flu­teten Kuppelbau aus hellem Holz und Glas verbunden werden. Dieses Haus ist eines der inzwi­schen zehn Varde-Museen (Warde­mu­seerne) und ist – ebenso wie das 2017 innerhalb dieses Verbundes neu eröffnete und höchst erfolg­reiche Tirpitz-Museum – von dem namhaften Kopen­ha­gener Archi­tek­turbüro Bjarke Ingels Group (BIG) entworfen worden.

Die insgesamt 14 Redne­rinnen und Redner, die bei der Eröff­nungs­feier das Wort ergriffen, vermit­telten vielfältige Eindrücke von den histo­ri­schen und politi­schen Dimen­sionen eines Museums, das sich dezidiert dem Thema „Flucht“ zuwendet. Aus der Perspektive des Zeitzeugen sprach beispiels­weise Jörg Baden, einer der ehema­ligen deutschen Flücht­linge in Oksbøl; er bedankte sich für die humane Behandlung, „die die deutschen Flücht­linge durch Dänemark und das dänische Volk erfahren haben“ und die vor dem „Hinter­grund des brutalen Regimes von Nazideutschland“ in einem „krassen Gegensatz“ gestanden habe.

Rahima Abdullah, die 2015 selbst aus dem Krieg in Syrien nach Dänemark kam und sich als stell­ver­tre­tende Leiterin des Jugend-Netzwerks im dänischen Flücht­lingsrat (Danish Refugee Council Youth) prominent an der öffent­lichen Debatte über Flücht­linge und soziale Ungleichheit beteiligt, nahm demge­genüber das heute universell erschei­nende Schicksal von flüch­tenden Menschen in den Blick und plädierte dafür, dass die europäi­schen Gesell­schaften dieser Entwicklung mit einer noch größeren Offenheit begegnen sollten:

Draußen in der Welt, aber auch hier in Dänemark erleben wir manchmal, dass Flucht und Schutz­be­dürf­tigkeit unter­schiedlich bewertet werden. Aber in den großen Krisen des Lebens sind wir doch alle gleich. Dieses Museum hilft zu zeigen, dass sich Menschen auf der Flucht im Prinzip in nichts unter­scheiden. Alle haben die gleichen Gefühle und die gleiche Angst. Wir alle haben gemeinsam, dass wir bei Einbruch der Dunkelheit Sicherheit und Frieden suchen.

Katja Keul MdB schließlich, die im Dezember 2021 zur Staats­mi­nis­terin für inter­na­tionale Kultur­po­litik bei der deutschen Bundes­mi­nis­terin des Auswär­tigen ernannt worden ist, soll hier als dritte exempla­rische Stimme ebenfalls noch zitiert werden. Sie wandte sich in ihrer Ansprache der Spätphase des Zweiten Weltkrieges zu und schil­derte, dass schon bevor die Wehrmacht das Land verließ, der Zuzug von letztlich 250.000 Flücht­lingen nach Dänemark einsetzte, dass viele Tausende zuvor bei der Überfahrt umkamen und dass die Unter­bringung und Versorgung dieser großen Zahl von Menschen eine erheb­liche Heraus­for­derung für die aufneh­mende Gesell­schaft gewesen seien. Da sich derartige Probleme zunehmend auch in der Gegenwart stellten und innerhalb der EU noch einer Lösung harrten, kündigte sie an, dass es bald neue „Impulse für eine europäische Flücht­lings­po­litik“ geben solle, die „unseren Werten und unserer Verant­wortung gerecht“ werden.

Nach der offizi­ellen Eröffnung bestand für die geladenen Gäste und die Presse­ver­treter eine Gelegenheit, die Ausstellung in Augen­schein zu nehmen. Dem Grund­konzept des Museums folgend, will sie am histo­ri­schen Ort des Lagers Oksbøl Einblicke in eines der schwersten und meist­dis­ku­tierten Themen unserer Zeit vermitteln. Dabei sollen vor allem Geschichten einzelner Menschen erzählt werden, die jeweils in ihrem konkreten Lebens­umfeld erscheinen und von ihrem indivi­du­ellen Schicksal, aber auch von ihren Träumen und Hoffnungen für die Zukunft berichten. So begegnen den Besuchern Menschen, die im Lauf der Zeit aus Ländern wie Russland, Deutschland, Ungarn, Vietnam, Chile, dem Libanon, Iran, Bosnien, Syrien und Afgha­nistan nach Dänemark geflohen sind.

In einem der beiden Museums­ge­bäude sind Fotos und Gegen­stände aus dem Alltag der Flücht­linge darge­stellt. Hinge­zogen wird man zu einem gleich­zeitig auf drei Wände proji­zierten Film mit Origi­nal­auf­nahmen aus dem Lager: vom Eintreffen der Flücht­linge und Impfak­tionen an Kindern über die Werkstätten und die Essens­ver­sorgung bis zu Auffüh­rungen im eigenen Lager-Theater. Wer diese Bilddo­ku­mente anschaut, bekommt eine deutliche Ahnung davon, dass Oksbøl mit diesem Lager in der Nachkriegszeit immerhin die fünfgrößte Stadt Dänemarks gewesen ist.

Im anderen Gebäude wird die Perspektive auf die vielfäl­tigen Flucht­be­we­gungen der folgenden Jahrzehnte geweitet. So erscheinen z. B. an den Wänden Projek­tionen von verschie­denen Routen, auf denen Menschen in dieser Zeit versucht haben, Bedro­hungen zu entgehen und ihr Leben zu retten; Abbil­dungen veran­schau­lichen die Wohnsi­tua­tionen in Notun­ter­künften, oder Fotografien zeigen die oftmals erschre­ckenden Zustände in Flücht­lings­lagern. Vor allem aber soll den Besuchern die Möglichkeit eröffnet werden, mit Hilfe inter­ak­tiver Medien selbst tiefer in das Thema einzu­tauchen und sich über indivi­duelle Schicksale und Lebens­welten zu infor­mieren. Der syste­ma­tische Blick auf die neuere Geschichte folgt dabei leitenden Frage­stel­lungen, die jeweils auf zentrale Momente einer Flucht verweisen: Fliehen? – ­Sicherheit? –Alltag? – Zuhause?

Grund­sätz­liche Aspekte eines Flücht­lings­schicksals suchen auch acht kunstvoll gestaltete lebens­große Kupfer­draht­fi­guren zu versinn­bild­lichen, die Menschen in existen­zi­ellen Situa­tionen zeigen. Eine dieser Figuren stellt übrigens ein Kind dar, das nach einem damaligen Bildnis des heute 82-jährigen Zeitzeugen Jörg Bade model­liert worden ist.

Die darge­stellten histo­ri­schen Zusam­men­hänge münden letztlich in die unmit­telbare Gegenwart: Die betrifft zum einen den russi­schen Angriffs­krieg gegen die Ukraine, der bisher rund fünf Millionen Menschen in die Flucht getrieben hat, von denen wiederum etwa 30.000 nach Dänemark gekommen sind. Zum anderen wird auch die gerade in Dänemark kontrovers geführte Diskussion über eine angemessene Flücht­lings­po­litik, bei der die Regierung eine rigide ableh­nende bzw. abweh­rende Haltung vertritt, keineswegs ausge­spart. Diese Debatten werden in die Ausstellung integriert, indem auf einem großen Tisch Zeitungs­ar­tikel ausgelegt sind, die die unter­schied­lichen, wenn nicht gegen­sätz­lichen Positionen repräsentieren.

Nach ihrem Rundgang werden die Besucher gerne noch einmal den hellen Kuppelbau auf sich wirken lassen und sicherlich auch die Angebote des dort großzügig einge­rich­teten und gut sortierten Museums­shops wahrnehmen – in jedem Falle aber werden sie, wenn sie beispiels­weise hören, dass gegen­wärtig weltweit etwa 100 Millionen Menschen auf der Flucht sind, darin in Zukunft nicht mehr nur einen zwar beunru­hi­genden, aber doch abstrakt wirkenden statis­ti­schen Wert sehen, sondern zugleich eine Vorstellung davon entwi­ckeln können, was solch ein Schicksal für einzelne der davon betrof­fenen Menschen bedeutet.

Hans-Peter Goergens