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„Neuer und Alter Kunst- und Tugend-Kalender / Auff das 1722. Jahr Christi“

Der Danziger Kalendermacher Paul Pater

Vom Abreiß­ka­lender über den Dreimo­nats­ka­lender bis zur Kalen­der-­App – es kommt wohl niemand ohne solch ein Hilfs­mittel aus, das zuver­lässig einen Rahmen für die indivi­duelle Lebens- und Arbeits­planung aufspannt. Dass Kalender dafür die notwen­digen Infor­ma­tionen bereit­halten, ist seit langem selbst­ver­ständlich geworden; und auch deren Verfer­tigung bereitet wohl keine Schwie­rig­keiten, sondern wird heute gewiss schon weitgehend von einem Compu­ter­pro­gramm erledigt. Vor diesem Hinter­grund erscheint es angeraten, einmal um drei Jahrhun­derte zurück­zu­blicken: Zu dieser Zeit waren die Kalen­der­macher höchst begabte und universell gebildete Männer, deren komplexe Arbeit großen Respekt verdient. Einer von ihnen war der in Menhardsdorf, in der damals oberunga­ri­schen Zips, geborene Paul Pater (1656–1724), dessen Lebensweg ihn 1688 zunächst nach Thorn geführt hatte. Am dortigen Akade­mi­schen Gymnasium unter­richtete er Mathe­matik, Geographie, Astro­nomie, klassische Sprachen und Logik. Dabei legte er beson­deren Wert auf die angewandte Mathe­matik, vor allem Mechanik, Optik, Chrono­logie, Statistik sowie die Archi­tektur von Forti­fi­ka­tionen. Nicht zuletzt verfasste er mehrere Schau­spiele, die am Theater des Gymna­siums aufge­führt wurden. Offenbar war Pater somit hervor­ragend als Kalen­der­schreiber befähigt, denn er verfügte gleicher­maßen über die Kompe­tenzen des Mathe­ma­tikers, des Astro­nomen, dem zu dieser Zeit auch alle wesent­lichen Kennt­nisse der Astro­logie zu Gebote standen, und des humanis­tisch gebil­deten sprach­ge­wandten Dichters.

In der Thorner Zeit, vermutlich ab 1690, begann Paul Pater mit der Konzeption seiner Kalender, die er sowohl in deutscher als auch in polni­scher Sprache veröf­fent­lichte, und muss sich bald ein großes Renommee erworben haben, denn im Januar 1703 erhielt er von König August II. das Privi­legium, Kalender für Preußen zu drucken. – Im Herbst des gleichen Jahres wurde Thorn von schwe­di­schen Truppen erobert; Pater entschloss sich, die Stadt zu verlassen, und ging nach Danzig. Am hiesigen Akade­mi­schen Gymnasium wurde er 1705 als Professor für Mathe­matik einge­stellt und setzte seine Karriere als Kalen­da­rio­graph äußerst erfolg­reich fort. Nun trat er zugleich als Verleger auf und gründete sogar eine Druckerei: Alle Tätig­keiten von der ersten Konzeption bis zur Distri­bution des fertigen Produkts waren jetzt in seiner Person vereinigt.

Die hohe Kunst der Kalen­der­macher sowie die Attrak­ti­vität ihres Produkts für die Käufer dürften schlag­artig verstehbar werden, wenn die Inhalts­über­sicht der Ausgabe für das Jahr 1722 in den Blick rückt. Dort wird vom Autor angekündigt – und markt­ge­recht angepriesen –, dass die Leser eine auf ihre Bedürf­nisse hin zugeschnittene Auswahl aus dem vielfäl­tigen, gegen­wärtig verfüg­baren Weltwissen erwarten dürfen:

Worinnen gantz gewisse Dinge /  von dem Lauff der Sonnen / Monds und dessen Vierteln vorher gesagt /  auch ungewisse von der zukünff­tigen Witter= und Verän­derung der Lufft gemuth­masset werden :  Mit unter­mengten außerle­senen Politi­schen Regeln u. Sprich­wörtern / die Sitten / Regiments und Hauß-Lehre betreffend /  nach Anleitung der Sonntägl. Evangelien /  zu frucht­barer Anhörung Göttl. Worts /  so wol auch seltsamen Kunst=Stücken /  anmut­higen und recht nützlichen Fragen /  sammt wol probierten /  leichten und wolfeilen Hauß=Artzney=Mitteln.

Inson­derheit aber von vielen listigen Betrü­gereyen /  welche sich unter den gemeinen Mann /  und bey grossen Herren in der Welt zugetragen. Aus glaub­wür­digen Scribenten mit Fleiß zusammen getragen […]

Alle für den „gemeinen Mann“ relevanten Dimen­sionen des Kosmos, der Natur und des mensch­lichen Lebens – der Lauf der Gestirne, der Wechsel und die Charak­te­ristika der Jahres­zeiten, die staat­liche und sittliche Ordnung, die Erhaltung der Gesundheit – werden ebenso bedacht wie die christ­liche Heils­bot­schaft oder der Bericht von seltsamen bzw. kuriosen Phäno­menen; nicht zuletzt werden auch Geschichten aus aller Welt, in diesem Falle von „listigen Betrü­gereyen“ erzählt, die eines­teils unter­halten, andern­teils aber als abschre­ckende Exempla auch belehren und die „Tugend“ fördern sollen. An diesem Punkt zeigt sich, dass die Kalen­der­schreiber neben allen anderen Quali­fi­ka­tionen auch profes­sio­nelle Redak­teure sein mussten, die aus den dynamisch anwach­senden aktuellen Wissens­be­ständen „mit Fleiß“ passende Fragmente auswählten, sie neu arran­gierten und dabei in der Lage sein mussten, kritisch die Glaub­wür­digkeit der „Scribenten“ zu beurteilen.

Um dieses weitrei­chende Angebot den Lesern übersichtlich unter­breiten zu können, entwarf Paul Pater für die zwölf Doppel­seiten des Kalenders ein komplexes zweifar­biges Druckbild, in dem die Wochen des jewei­ligen Monats horizontal vonein­ander getrennt werden und jeder Woche zudem der Sonntagsname sowie eine Perikope aus dem Neuen Testament zugeordnet sind. Die senkrechten Spalten nennen zunächst die Wochentage, an deren Stelle aber auch Hinweise auf die Mondphasen oder auf hervor­ge­hobene kirch­liche Feste bzw. auf Tage wie den Beginn eines Quatember rücken können. Sodann erscheint die „neue“ Zahlen­folge der Kalen­dertage mit zugehö­rigen Einträgen aus dem Heili­gen­ka­lender. Diese Spalte wird unmit­telbar im „alten“ Stil wiederholt, wobei diese Daten nun um elf Tage zurück­ge­setzt erscheinen: In refor­mierten und luthe­ri­schen Gebieten war die grego­ria­nische Kalen­der­reform von 1582 erst im Jahre 1700 – und regional noch nicht einmal einheitlich – umgesetzt worden. Deshalb war es beim großen Verbrei­tungsraum des Kalenders, der nach der Angabe auf dem Titel­blatt „Pomerania“, „Prussia“ und „Polonia“ umfasste, sowie beim nicht zu unter­schät­zenden Behar­rungs­ver­mögen langfris­tiger Gewohn­heiten offenbar angeraten, die Ordnung des julia­ni­schen Kalenders weiterhin mit anzugeben.

Die nun folgende Spalte verknüpft zwei Arten lebens­prak­ti­scher Ratschläge. Zum einen werden dort jeweilige Planeten-Konstellationen, die astro­lo­gisch relevanten „Aspecte“, aufge­führt und im Sinne eines Horoskops inter­pre­tiert. An dieser Stelle ist es für den Nutzer notwendig, die Legende und die Erläu­te­rungen zu befragen, die im unteren Teil eines eigenen, dem Kalen­darium vorge­schal­teten Blattes gegeben werden: Dort sind die Symbole der Gestirne und deren Relationen verzeichnet, und dort lässt sich dann auch ablesen, an welchen Tagen z. B. ein Aderlass, ein Haarschnitt oder das Schlagen von Bauholz besonders empfeh­lenswert sind.

Zum anderen werden als handlungs­lei­tende Maximen einer klugen Lebens­führung für jede Woche mehrere Sprich­wörter genannt, die jeweils an die Themen der Perikopen angelehnt sind. Die Flucht nach Ägypten ruft beispiels­weise die folgende Kette hervor: „Furcht macht Flucht. Furcht und Angst /  machen auch einen alten Mann lauffend. Die Flucht ist oftmals der Schlüssel zu grösserer Ehre. Furcht macht Füsse.“ Und der Kalen­der­macher assoziiert, um ein weiteres Beispiel zu nennen, anlässlich des Weinwunders bei der Hochzeit zu Kana: „Der beste Hausrath ist ein fromm Weib /  nur daß sie gar düne gesäet sind. Wer Hauß=Fried haben will /  der thue was die Frau will. Ein frommes Weib ist Golds werd.“

Die letzte, schmale Spalte auf dieser ersten der beiden Monats­seiten verzichtet auf die sonst durch­gängige vertikale Wochen­glie­derung; ihre Dispo­sition folgt statt­dessen den Mondphasen. Dort werden in Kurzform Wetter-Prognosen genannt, die im folgenden zweiten Teil des Kalenders, dem „Progno­sticon“, ausführ­licher begründet werden. So lautet solch eine Kurzversion im zweiten Eintrag auf der hier vorlie­genden Seite: „Das letzte Viertel drohet mit scharfen Nordwinden u. Schne­ge­stöber; doch in den letzten Tagen etwas bequemer.“ – Die anschlie­ßende Seite hält dann die Zeiten des Sonnenauf- und des Sonnen­un­ter­gangs, die Länge der Tage sowie die Mondphasen fest und lässt überdies Raum für gelegent­liche Zusatz­be­mer­kungen, vor allem aber für eigene Notate.

Am Fuß der Doppel­seite ist jeweils noch eine separate Textrubrik angebracht. Dort werden auf der linken Seite, bezogen auf das in diesem Jahr gewählte Leitthema Wasser, Meeres­tiere und Schiff­fahrt, in didak­ti­scher Absicht Fragen formu­liert wie: „Kan auch ein Schiff die gantze Welt umfahren?“ oder (im Mai) „Wen haben die Fische beym Leben erhalten?“ – bei deren Beant­wortung der Leser dann über wissens­werte, oftmals auch erstaun­liche Phänomene bzw. Zusam­men­hänge aufge­klärt wird. Auf der gegen­über­lie­genden, rechten Seite finden die Rezep­turen der angekün­digten „Hauß=Artzney=Mittel“ ihren Ort, die (wiederum im vorlie­genden Textbei­spiel) „Für die Wehtage der Augen /  u. allerley Gebrechen derselben“ einge­setzt werden können oder (im Juli) „Vor den Husten etliche sehr bewehrte Mittel“ bieten.

Auf diese 24 Seiten des tabel­la­ri­schen Kalenders folgt das bereits erwähnte „Progno­sticon“, das weitere 15, eng bedruckte Seiten umfasst. Zwei Drittel dieses Teils bieten jeweils für die vier Jahres­zeiten zusam­men­fas­sende Vorher­sagen des Wetters sowie – in einem eigenen Absatz – der erwart­baren Vorgänge und Gefahren „In Politi­schen Staats=Händeln“. In den übrigen Abschnitten spricht der Verfasser „Vom Sonn= und Mondfins­ter­nissen“, „Vom Zu- und Misswachs der Erden : auch Säen und Pflantzen“, „Von Krieg und Frieden“ und „Von Seuchen und Kranck­heiten“, bevor auf der Schluss­seite des gesamten Bandes auch noch eine Übersicht über die Markttage in allen Städten Westpreußens gegeben wird.

Durch­setzt ist das „Progno­sticon“, und zwar mindestens zur Hälfte des zur Verfügung stehenden Raums, mit Erzäh­lungen von den „listigen Betrügern“, die aus unter­schied­lichen Kultur­kreisen und Epochen stammen und immer wieder die aus dem Alten Testament vertraute Figur bestä­tigen, dass derjenige, der anderen eine Grube gräbt, sehr leicht – wenn nicht in aller Regel – selbst hineinfällt.

Die einge­hendere Betrachtung des Neuen und Alten Kunst= und Tugend=Kalenders /  Auff das 1722. Jahr Christi dürfte anschaulich gemacht haben, welche Bedeutung solch einer Publi­kation in einer Zeit zugekommen ist, in der sie neben der Bibel und dem Gesangbuch in den Haushalten breiter Bevöl­ke­rungs­schichten den einzigen verfüg­baren Lesestoff bot. Diesen Bedarf wusste der Kalen­der­macher Paul Pater offenbar optimal zu befrie­digen: Sein Konzept war derart beliebt und erfolg­reich, dass der Kunst= und Tugend=Kalender auch nach dem Tode des Autors noch über viele Jahrzehnte weiter­ge­führt wurde. Die letzte Auflage erschien erst im Jahre 1812.

Diese erstaun­liche Wirkungs­ge­schichte beruht anscheinend auf einer perfekten Kombi­nation von vielfäl­tigen und verläss­lichen Infor­ma­tionen, die inter­essant vermittelt sowie abwechslungsreich-unterhaltsam aufbe­reitet werden und dadurch maßgeblich das Ziel auch schon der frühen Aufklärung verfolgen: die Überwindung des Obskuren, des Aberglaubens und aller unreflek­tierten Vorur­teile zu fördern. Wie intensiv sich Paul Pater darum bemüht, dass seine Leser sich eigen­ständig in der Natur und Geschichte orien­tieren, zeigt das bereits zitierte Blatt mit den Legenden. Es gibt nicht nur Auskunft über den Kosmos und die Grund­lagen der astro­lo­gi­schen Deutungen, sondern setzt das Jahr 1722 in Relation zu einer Vielfalt von mythi­schen und histo­ri­schen Einsatz- und Wende­punkten. So erfahren die Leser beispiels­weise, dass „Von Erschaffung der Welt“ 5.671 Jahre, „Von Ankunfft des Türki­schen Abgotts Mahomet“ 1.130 oder seit der Einführung des „verbes­serten“ Kalenders 23 Jahre vergangen seien, und gewinnen dadurch die Möglichkeit, die kultu­relle Vielschich­tigkeit und geschicht­liche Verän­der­barkeit der Welt wahrzunehmen.

Die gesamte aufklä­re­rische Praxis des Kalen­der­ma­chers wird letztlich aller­dings von der unver­brüch­lichen christ­lichen Überzeugung getragen, dass alle Prozesse ihren Sinn allein aus der göttlichen Heils­ge­schichte der Menschen beziehen und alles vom Willen und Segen des Höchsten abhängt. An einem zentralen Ort, im unteren Teil der Inhalts­über­sicht, hebt dies gleich zu Beginn die emble­ma­tische, an 1 Kor 3, 6 anknüp­fende Darstellung einer Garten­szene hervor: Sie zeigt den Apostel Paulus, der soeben einen Baum gepflanzt hat, sowie ein Spruchband mit dem Satz: „arescit nisi desuper“ (Das vom Menschen Gepflanzte vergeht, wenn Gott es nicht gedeihen lässt). Dabei darf als sicher angenommen werden, dass Paul Pater diese Figur des Apostels nicht ohne Bedacht gewählt hat: Das segens­reiche Wirken seines Namens­pa­trons beim „Einpflanzen“ christ­licher Glaubens­ge­wissheit sollte von den Lesern zugleich als Sinnbild seines eigenen aufklärerisch-didaktischen Bemühens verstanden werden.

Joanna Szkolnicka / Erik Fischer