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„Nebelkinder“ – Zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Kriegsenkel geraten in den Schatten konfektionierter Literatur

Geschichte ist „in“, Filme und Serien mit histo­ri­schen Themen boomen, und nicht zuletzt in der Literatur sind Werke mit biografisch-historischem Charakter seit einigen Jahren ein absoluter Trend. Vor allem Autorinnen veröf­fent­lichen, inspi­riert durch Erzäh­lungen und Erinne­rungen von Großeltern, Müttern, Tanten oder Bekannten, Romane, in denen sich die Kompo­nenten Familie, Liebe, Schicksal mit realen Ereig­nissen mischen, unterlegt mit zeitge­schichtlich bedeut­samen Themen des 20. Jahrhun­derts wie Natio­nal­so­zia­lismus, Krieg, Heimat­verlust, Neuanfang in einem der beiden deutschen Staaten.

Eine „berüh­rende Famili­en­ge­schichte“ über drei Genera­tionen – so die Verlags­werbung – bietet auch Stefanie Gregg mit Nebel­kinder an, eine litera­rische Aufar­beitung der Flucht­er­leb­nisse ihrer schle­si­schen Großmutter und deren Nachfahren. Mit der Titelwahl orien­tieren Gregg und der Aufbau-Verlag sich dabei an dem von Sabine Bode geprägten Begriff, welcher die psycho­lo­gische Proble­matik der trans­ge­ne­ra­tio­nalen Weitergabe von Traumata in der Folge von Krieg, Flucht und Vertreibung bezeichnet. In wechselnden Kapiteln erzählt der Roman von Käthe und Selma, die mit ihren Kindern im Januar 1945 Breslau verlassen und in Bayern neu anfangen müssen, sowie auf einer Gegen­warts­ebene von Käthes Tochter Anastasia und der Enkelin Lilith.

Die dreizehn­jährige Anastasia, die sich in Bayern entscheidet, ihren Namen zu Ana zu verkürzen, ist es, die die Familie zusam­menhält, während die Mutter depressiv-melancholische Züge entwi­ckelt und in der Hoffnung, es könne alles wieder wie früher werden, erstarrt. Schon auf der Flucht mit der wohl letzten Möglichkeit, aus Breslau heraus­zu­kommen, übernimmt das Mädchen anstelle der Mutter Verant­wortung. Die Proble­matik des Ankommens bzw. Angenom­men­seins in der neuen Heimat – für die Andreas Kossert den treffenden Ausdruck „kalte Heimat“ gefunden hat – vernach­lässigt der Roman aller­dings fast vollständig, auch wenn die Schlesier in der bayri­schen Provinz schon wegen ihrer Sprache auffallen, wie überall Notquar­tiere beziehen müssen und kaum das Aller­not­wen­digste zum Leben haben. Die wenigen, gelegentlich einge­streuten schle­si­schen Begriffe, die in der Restfa­milie Verwendung finden, wirken geradezu unpassend und deplat­ziert, von echter Tradi­ti­ons­pflege weit entfernt. Wenn die höhere Tochter Käthe aus Breslau bei aller Passi­vität und Verschlos­senheit plötzlich als Bayerin auftreten will und darauf besteht, dass die Töchter zum Katho­li­zismus konver­tieren, „um in Bayern angenommen zu werden“, erscheint dies doppelt unglaub­würdig, war doch das Festhalten an der vertrauten Konfession nach dem Verlust der Heimat in der Regel ein zentraler Aspekt von Verbun­denheit, welcher sehr bewusst und ausdauernd gepflegt wurde.

Beinahe wie nebenher wird die Rückkehr des Vaters aus ameri­ka­ni­scher Kriegs­ge­fan­gen­schaft erzählt; weder der durchaus schwierige Neubeginn als Familie, die Front­er­fah­rungen noch seine Tätigkeit als Richter in der NS-Zeit werden mit mehr als zwei, drei Sätzen thema­ti­siert. Die Weigerung des Vaters, einen Prozess im strikt natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Sinne zu entscheiden, führte seinerzeit zur Versetzung an die Front, jedoch nicht an die gefürchtete Ostfront, sondern nach Italien. In dieser rückbli­ckend erzählten Szene findet die einzige direkte Begegnung mit Gedan­kengut des „Dritten Reiches“ statt, auffallend in ihrer relativen Harmlo­sigkeit. Andere, das Leben, Denken und Fühlen der Menschen im Natio­nal­so­zia­lismus prägende Elemente wie die zahlreichen Vorgaben und Anord­nungen der Partei, die allge­gen­wärtige Propa­ganda und Kontrolle, später die kriegs­be­dingten Einschrän­kungen und Gefahren, dann der pädagogisch-pragmatisch durch die Besat­zungs­mächte bestimmte Nachkriegs­alltag werden in wenigen dürren Sätzen abgehandelt oder überhaupt nicht einbe­zogen. Ebenso sind die Währungs­reform und ihre Folgen für die Bevöl­kerung der Autorin kaum eine Notiz wert. Bemer­kenswert neben­sächlich bleibt die Rolle des Vaters weiterhin, lediglich als Verdiener ist er von Bedeutung. Seine Verar­bei­tungs­stra­tegien des erlebten Grauens werden kaum angedeutet, spielen für Frau und Töchter offenbar keine wirkliche Rolle. Nur die weiblichen Mitglieder der Familie erscheinen wichtig und entscheidend.

Schweigen und Tabus bestimmen das Aufwachsen von Ana, wie Anastasia sich jetzt nennt, und ihrer Schwester, doch erst als Erwachsene, die der eigenen Tochter einen Blick in die lange sorgsam verborgene Famili­en­ver­gan­genheit ermög­licht, kann sie dies erkennen und ausdrücken. Mit den Erfah­rungen von Verschlos­senheit und emotio­naler Kälte steht sie stell­ver­tretend für die Generation der Kriegs­kinder, für eine Generation, die früh Verant­wortung übernehmen musste und nicht Kind sein durfte. Manches wurde erahnt, aber vieles blieb unver­stehbar, denn es wurde nichts erklärt, nichts gesagt. Fragen wurden nicht beant­wortet, bis keine mehr gestellt wurden. Unerfüllte Wünsche und geänderte Lebens­pläne wurden als persön­liches Schicksal inter­pre­tiert, über das man sich nicht austauschte, so dass nichts verar­beitet, sondern im Innern verschlossen wurde – und dort weiterwirkte.

Diese Lebens­hy­pothek als Folge der Erziehung durch das Kriegskind Ana, das sich keine Emotionen erlaubte, nur funktio­nierte, ihrem Kind nicht sagte, wie wichtig es ihr sei, es nie in den Arm nahm, spürt die Tochter Lilith, die das „Gefühl, nie von einer Mutter geliebt worden zu sein“, hat und die „Furcht, nie wie eine Mutter lieben zu können“, entwi­ckelt. Wenn sie auf einer Breslau-Reise mit ihrer Mutter erkennt, dass sie nicht anders handeln und reden konnte, ist dies einer der konkreten und sachlich angemes­senen Bezüge des Romans zur titel­ge­benden, trans­ge­ne­ra­tio­nalen Trauma­be­wäl­tigung. „Nichts sollte bei den Frauen ihrer Familie wohl so sein, wie sie es sich gewünscht hätten. Vielleicht wünschten sie es sich eben immer zu viel“, bilan­ziert Käthes Enkelin. Mit dem Drang nach Perfektion, nach Sicherheit, zugleich innerlich ruhelos, von unbegreif­licher Traurigkeit, wie ein schwarzer Schleier, mit der Unfähigkeit, so fröhlich und unbedarft zu sein wie Gleich­altrige und dem Gefühl, nicht dazuzu­ge­hören –  nie dazuzu­ge­hören – und Auswir­kungen bis in die Partnerwahl symbo­li­siert Lilith die Kriegs­enkel, die sich erstmals mit der Vergan­genheit und ihren Belas­tungen ausein­an­der­zu­setzen wagen.

Es war nicht ihre eigene Schuld, dass sie so oft an sich selbst zweifelte, dass sie selbst nicht wusste, warum sie in all ihren guten äußeren Umständen nicht wirklich glücklich sein konnte. Warum sie so oft an gläserne Wände gestoßen war. Warum sie ein Leben lang Sammlerin der Augen­blicke gewesen war. Weil sie die Bruch­stücke der vorhe­rigen Generation nicht zusam­men­fügen konnte, weil die Auslas­sungen zu groß waren, weil die unerträg­lichen Schmerzen von Krieg und Flucht nicht mit dem Ende des Krieges aufgehört hatten. Sie wirkten weiter, in der Kriegs­ge­neration, in den Kriegs­kindern und auch in den Kriegs­enkeln. Aber es war auch nicht die Schuld der Eltern­ge­neration. Sie hatten zu viel erlebt. Auch und gerade die kleinen Kinder, die all die unerträg­lichen Erleb­nisse erleben mussten. Ohne sie überhaupt zu verstehen, die Zusam­men­hänge zu sehen, ohne eine Chance, sie zu reflek­tieren. Sie waren Objekte des Krieges. Objekte der Zeit.

Diese abschlie­ßenden Sätze, die so oder ähnlich formu­liert bereits vielfach zu lesen gewesen sind, markieren zugleich die stärksten Abschnitte des Buches.

Stefanie Gregg gelingt es – vor allem bei Käthe und Ana – nicht, ihre Protago­nis­tinnen überzeugend darzu­stellen, sie so zu zeichnen, dass sie den Leserinnen und Lesern vertraut würden. Die schema­ti­schen, teilweise klischee­haften Beschrei­bungen, hölzern wirkende Dialoge mit unpas­sendem Sprach­ge­brauch (wie das heute infla­tionär verwendete „Alles wird gut“, das schwerlich eine Dreizehn­jährige des Jahres 1945 ihrer Mutter gesagt haben dürfte), der beinahe völlige Verzicht auf indivi­duelle Beson­der­heiten und keinerlei heraus­ge­hobene Darstellung krisen­hafter Vorgänge vermögen keine Empathie zu fördern. Selbst extreme Situa­tionen wie Verge­wal­ti­gungen, das massen­hafte Sterben während der Flucht oder der angeb­liche „Wider­stand“ des Großvaters werden episodenhaft-harmlos erzählt. Sollte Gregg damit die Distan­ziertheit und Verlo­renheit der Welt ihrer Charaktere ausdrücken wollen, müsste sie andere Wege finden, ihre Leser in die Geschichte hinein­zu­nehmen. Solche Zugänge sind im Text nur in geringen Ansätzen erkennbar.

Die mangelnde Einbindung in histo­rische Ereig­nisse und Gegeben­heiten trägt ebenfalls dazu bei, dass der Roman über Strecken „flach“ und wenig aussa­ge­kräftig wirkt. Zudem erscheint die Verknüpfung der Themen Flucht und Vertreibung, Heimat­verlust, Neuanfang und Trauma­ti­sierung mit einer durch eine Dreiecks­be­ziehung und Eifer­sucht bestimmten Gegen­warts­ent­scheidung, wie Lilith sie bewäl­tigen muss, wenig gelungen, vielmehr stark konstruiert. Der Roman wird der Tiefe der Thematik nicht gerecht, bleibt an der Oberfläche.

Die Absicht, Teile der eigenen Famili­en­ge­schichte litera­risch aufzu­ar­beiten und einem breiteren Publikum darzu­bieten, zugleich zeitge­schichtlich bedeutsame Fragen aufzu­greifen, wird seit einigen Jahren in vielfacher Ausprägung von Gegen­warts­au­toren und ‑autorinnen umgesetzt, als Roman wie als Sachbuch. Vor allem in der Belle­tristik ist dabei ein Trend festzu­stellen, dem auch Stefanie Gregg folgt: Das Buch soll leicht lesbar sein, mit überschau­barem Personal, die Kompo­nenten Familie, Liebe, Schicksal gefällig gemixt, einzelne Episoden mit mehr oder weniger ausführlich geschil­dertem histo­ri­schen Bezug reihend, dazu ein eingän­giger Titel und nicht zuletzt eine emotional-­historisierende Cover-Gestaltung, die jedoch keine Verbindung zu den Charak­teren des Romans herstellt, sondern eine Art zeitge­schicht­liches Flair zu vermitteln sucht. Neben „starken“ Frauen­fi­guren, wie sie auch Gregg mit Anastasia und Lilith wählt, „verschwinden“ die Männer, wenn sie denn überhaupt vorkommen. Dieses Muster entspricht vermeintlich der histo­ri­schen Realität der Kriegs- und Nachkriegszeit, in der Frauen die Plätze der an der Front und in Gefan­gen­schaft befind­lichen Männer übernehmen mussten, markiert aber häufig eine einseitige, feminis­tisch anmutende Weltsicht und bildet die Diver­sität von Gegen­warts­dis­kus­sionen in keiner Weise ab. Berufs­tätig zu sein, Geld zu verdienen, kreative Lösungen für Probleme zu finden und Verant­wortung für Kinder zu übernehmen, sind meist die Kriterien, denen die Protago­nis­tinnen der Romane folgen, während Fragen persön­licher und intel­lek­tu­eller Entwicklung, gleich­be­rech­tigter Partner­schaft oder gesell­schaft­licher Teilhabe weit weniger Gewicht erhalten. Auch die geradezu erschre­ckende politische Unbedarftheit vieler Heldinnen fällt auf. Bei einzelnen Gegen­bei­spielen, wie sie mit der Teilnahme an Studen­ten­pro­testen der 1968er oder der Hofgar­ten­de­mons­tration 1983 in Bonn beschrieben werden, bleibt das politisch-gesellschaftliche Engagement auf eine Art Event-Charakter beschränkt und ist weder nachhaltig noch überzeugend. Selbst renom­mierte Verlage, wie in diesem Fall der Aufbau-Verlag, die lange Zeit für hohe litera­rische Qualität standen, erliegen inzwi­schen anscheinend der Versu­chung, inhaltlich wie handwerklich austauschbare Massenware auf den Markt zu bringen, die raschen und sicheren Umsatz verspricht. Via Internet werden mit Blogs von Autorinnen und Leserinnen die Bekanntheit und positive Einschätzung vieler Titel unter­stützt, wobei nicht selten kritische Stimmen entweder nicht zu finden sind oder die absolute Minderheit darstellen.

Selbst­ver­ständlich haben unter­schied­liche Formen von Literatur ihre Berech­tigung, doch viele Leserinnen und Leser wollen sich nicht nur vorder­gründig „unter­halten“ lassen – sie möchten auch berührt werden von einer (Familien-)Geschichte, sich einfinden in die Welt, die ihnen auf den Buchseiten eröffnet wird. Im besten Fall lernen sie Neues kennen, werden zur Reflexion angeregt und nehmen Anregungen mit. Stefanie Gregg kann, zumal sie dem gewählten Thema keine erkennbar neuen Aspekte hinzufügt, solche Ansprüche mit Nebel­kinder nicht einlösen.

Annegret Schröder