Ein aktueller Blick zurück auf Danzig während der Großen Pest im Jahre 1709
Von Filip E. Schuffert
Heute, in Zeiten, in denen uns die wahrscheinlich schlimmste Pandemie der letzten hundert Jahre ergriffen hat, wächst die Neigung, sich mit vergleichbaren historischen Ereignissen und Erfahrungen auseinanderzusetzen. Das Interesse richtet sich dabei vornehmlich auf die verheerende „Spanische Grippe“ der Jahre 1918 bis 1920, die nach seriösen Schätzungen mindestens 20, wenn nicht 50 Millionen Menschenleben forderte. Aber auch ein Buchtitel, der die wohl prägendste Seuche der Menschheitsgeschichte in Erinnerung ruft, gewinnt neue Aufmerksamkeit: Mehr als 50 Jahre nach seiner Veröffentlichung ist Albert Camus’ 1947 erschienener Roman Die Pest neuerlich zum Bestseller aufgestiegen. Oft freilich kommt gegenwärtig auch der „Schwarze Tod“ zur Sprache, jene Pest, die im Mittelalter (in den Jahren 1346 bis 1353) wütete und, obwohl sie längst als überwunden gilt, uns bis heute etwas höchst Schlimmes, Bedrohliches assoziieren lässt (so dass die Redewendung, jemandem „die Pest an den Hals“ zu wünschen, immer noch als ein schwerer – in höchst übelwollender Absicht geäußerter – Fluch verstanden wird).
Ob es sich bei der in der Geschichte so häufig auftretenden „Pest“ immer um diejenige Krankheit handelt, von der wir heute wissen, dass sie vom 1894 entdeckten Bakterium Yersinia pestis ausgelöst wird, ist aus der Rückschau nicht immer eindeutig zu bestimmen. In manchen Fällen sind genetische Untersuchungen nicht möglich, und zuweilen variieren die Beschreibungen dermaßen, dass ungeachtet des gleichbleibenden Namens „Pestilenz“ schwerlich stets diese Krankheit vorgelegen haben dürfte. Die Unsicherheit wird noch dadurch erhöht, dass beispielsweise im Englischen (plague) gar nicht zwischen „Pest“, „Seuche“ oder „Plage“ unterschieden wird.
Viele Epidemien der Menschheitsgeschichte allerdings sind gewiss der Pest im eigentlichen Sinne zuzuschreiben; und die Krankheit blieb keineswegs auf das „ferne“ Mittelalter beschränkt, sondern zirkulierte bis ins 18. Jahrhundert hinein durch Europa. In der Frühen Neuzeit nahm sie zwar nicht mehr die Ausmaße des „Schwarzen Todes“ an, doch wütete sie in manchen Regionen nicht minder tödlich: Die Große Pest der Jahre 1708 bis 1714 führte zu erheblichen Bevölkerungsverlusten. Heutige Schätzungen nennen die – im Verhältnis zur damaligen Bevölkerungsdichte – erschreckend hohe Zahl von einer Million Europäern.
Ein keineswegs waghalsiger Vergleich
Dass diese Große Pest an ihrem Höhepunkt auch Danzig heimsuchte, eröffnet eine spannende Möglichkeit, aus der Gegenwart heraus um mehr als 300 Jahre auf die damalige Situation in der Stadt am Unterlauf der Weichsel zurückzuschauen. Dies mag auf den ersten Blick überraschend, wenn nicht abwegig wirken, denn natürlich ist die durch das Sars-Cov-2-Virus ausgelöste Krankheit Covid-19 nur schwer mit der Pest vergleichbar. In einem Fall handelte es sich um ein Bakterium, im anderen um ein Virus, und auch die Übertragungswege unterscheiden sich. Erfolgt die Infektion bei Corona über Tröpfchen, wird sie bei der Beulenpest durch Flohbisse weitergetragen. Auch in der Mortalität zeigen sich gravierende Unterschiede. Die in Danzig grassierende Beulenpest verlief in zwei Dritteln der Fälle tödlich, bei Corona liegt sie zweifelsfrei niedriger.
Und doch gibt es durchaus lohnende Vergleichspunkte, insbesondere mit der Pest in der Frühen Neuzeit. Heute wie damals ist das Wissen über die jeweilige Krankheit begrenzt. Immer neue Erkenntnisse über die Übertragung, den Verlauf, die Behandlung und Prävention kommen allmählich zutage; und in erster Linie können bislang nur die Symptome behandelt werden.
Selbst hinsichtlich der Globalität, die unsere Welt – und damit den Verlauf der aktuellen Pandemie – bestimmt, ist eine einzelne Stadt am Beginn des 18. Jahrhunderts nicht gänzlich einem vergleichenden Blick entzogen. In der Frühen Neuzeit war Danzig als größter Handelshafen und größte Stadt Polen-Litauens entscheidender Dreh- und Angelpunkt des Seehandels der Adelsrepublik, der Rzeczpospolita, mit der Welt. In manchen Jahren fanden an die tausend Schiffe den Weg über die Ostsee nach Danzig, zahllose Boote und Flöße, die über das weitläufige Flussnetz der Weichsel aus dem Landesinneren herbeiströmten, nicht eingerechnet. Händler aus diversen, weit entfernten Städten kamen und gingen. Die Stadt an der Mündung der Weichsel in die Ostsee wurde damit zu einem Knotenpunkt hoher Mobilität, und heute wie damals gilt hohe Mobilität als Katalysator von Epidemien.
Unter dieser Voraussetzung lässt sich Danzig geradezu als eine globalisierte und eng verflochtene Welt im Kleinen verstehen – in der zudem bereits wirtschaftliche Interessen, soziale Gegensätze, diplomatische Konflikte und nicht zuletzt Strategien der Informationspolitik wirksam sind, die nicht nur entfernt an heutige Konstellationen erinnern. Deshalb mag das Unterfangen, die Covid-19-Pandemie und die Große Pest in Danzig aufeinander zu beziehen, zwar durchaus ungewöhnlich sein, als waghalsig aber dürfte es nach diesen Vorhinweisen wohl kaum noch erscheinen.
Die Pest naht
Ihren Anfang nahm die Pest damals 1702 / 1703. Als sie nach kleineren Ausbrüchen als Begleiterin des Großen Nordischen Krieges 1704 Lemberg erreichte, blieb die drohende Epidemie auch im übrigen Land nicht verborgen. Danzig blieb ebenfalls nicht untätig. Wohl wissend, wie schwer es werden würde, sich von der Pest wieder zu befreien – die Seuche war Danzig nicht fremd –, wurde vor allem auf Prävention gesetzt. Die Stadt wurde als schützenswerter Raum wahrgenommen, in den die Krankheit nicht eindringen durfte.
Die „Praeservation“, wie die Danziger Pestärzte die Prävention nannten, gestaltete sich aber schwierig, kannte man doch den genauen Auslöser der Krankheit nicht und war überzeugt, die Pest übertrage sich über Miasmen, also „verpestete“ Luft und aus dem Boden aufsteigende Dämpfe oder käme als „Straff=Ruthe“ Gottes über die Sünder.
Hier zeigen sich Parallelen zu den ersten, Ende 2019 auftretenden Berichten über eine neue Lungenkrankheit in Wuhan. Auch damals war wenig über die Krankheit und ihre Übertragungswege bekannt. In Europa bereitete man sich auf den fernen Feind vor, doch worauf genau, war zunächst nicht klar. Spezifische Maßnahmen waren deshalb damals wie heute kaum möglich.
Ausgehend von einer falschen Grundannahme beim Übertragungsweg, konnte auch nicht an der Wurzel des Pestübels angesetzt werden. Die präventiven Maßnahmen beruhten eher auf Beobachtungen.
Als erster Schritt wurden Informationsnetzwerke mit anderen Städten geschaffen. Mit den Informationen sollte der Weg der Pest genau beobachtet werden, so dass Ankömmlinge aus betroffenen Gebieten gezielt abgewiesen werden konnten oder sich in Quarantäne begeben mussten. Ab 1705 war die Einreise nach Danzig nur mit einem Gesundheitsschein möglich, wobei die Verifizierung solcher Zertifikate angesichts von Krieg und Bürgerkrieg alles andere als einfach war. Insbesondere hochmobilen Gruppen, wie Juden oder Schotten, wurde der Einlass verwehrt, wobei konkret auf die Mobilität und den Handel und nicht auf die Religion oder Konfession verwiesen wurde.
Vor allem bestimmte Waren gerieten in den Fokus der Pestabwehr. In der Frühen Neuzeit war man überzeugt, dass vor allem in luftigen Waren die verpestete Luft verbreitet werden konnte. Textilen erfuhren folglich eine besondere Behandlung und mussten zuweilen mehrere Wochen eingelagert werden oder wurden teilweise sogar vernichtet, während kompakte Waren, wie z. B. Getreide oder Holz, als vergleichsweise unbedenklich galten.
Um der in den Städten oft schlechten Luft Herr zu werden, wurden die Straßen gereinigt. Eine Maßnahme, die nur auf den ersten Blick sinnlos erscheinen mag, denn das Nahrungsangebot für die Ratten als Träger der Flöhe wurde damit reduziert.
Neben solchen allgemeinen Maßnahmen wurde auch an das Individuum appelliert. So wie bei Corona Rauchen, Übergewicht oder übermäßiger Alkoholkonsum als Risikofaktoren gelten, wurde auch im Danzig des 18. Jahrhunderts versucht, mit Verhaltens- und Ernährungsratschlägen das Risiko einer Pesterkrankung zu minimieren. So sollten „Leibes=Bewegung“, gesunde Ernährung (kein warmes Brot, fast keine Milchprodukte etc.) und ein guter Schlafrhythmus den Körper offenhalten, so dass schlechte Ausdünstungen den Körper verlassen und keine Pest auslösen können.
Eine während der heutigen Pandemie wiederholt geführte Debatte betrifft Öffnungen und Schließungen: „Schwedischer Sonderweg“, „Lockdown“, „Shutdown“, „Modellprojekt“. Mit steigender Dauer der Schließungen werden die Stimmen nach Öffnungen immer lauter. Dabei spielt nicht nur die Sehnsucht nach Amüsement eine Rolle, sondern mehr noch existenzbedrohende wirtschaftliche Fragen. Sehnsüchtig blickt man zurück auf Zeiten, als man noch ins Kino, Theater oder Restaurant durfte oder als Betreiber damit ein Einkommen erzielen konnte.
Die Frage nach Öffnen oder Schließen stellte sich angesichts der sich zuziehenden Pest-Schlinge in der Handelsstadt Danzig mit besonderer Dramatik. Im Stadtrat stritten die Parteien der Patrizier, die Öffnungen forderten, und der Gelehrten, die die Stadt vor der kranken Umwelt verschließen wollten. Es setzten sich die Patrizier durch, und der Stadtrat entschloss sich, die Stadt und vor allem den wichtigen Hafen offen zu halten.
Der Stadtrat blieb geschlossen in der Stadt und übernahm selbst die Führung, so dass ihm eine ähnliche Rolle zukam wie heute dem Gesundheitsministerium. Die Exekutive blieb damit voll handlungsfähig. Sie entwarf ein komplexes Hygienekonzept, das Pestprävention und Öffnungen in Einklang bringen sollte.
Auf der Weichsel anreisende Händler mussten sich an den neu eingerichteten Kontrollpunkten bei den Gaststätten Heringskrug oder Kalkscheune ausweisen, wurden von Ärzten untersucht und erhielten dann dort, wenn ihre Dokumente stimmten und ihnen Gesundheit attestiert wurde, Passierscheine, die ihnen die Einfahrt in die Stadt erlaubten. Kaufleute, die den Landweg wählten, wurden an den Stadttoren kontrolliert. Die Dokumente belegten den Weg der Anreise und mussten Einträge jeder passierten Stadt bzw. jedes Kontrollpunktes enthalten – sozusagen eine Art Kontaktnachverfolgung. Schiffe, die aus gefährlichen Regionen nach Danzig kamen, mussten sich in eine achttägige Quarantäne begeben. Widersetzten sich Händler den Anweisungen, sollten sie inhaftiert und ihre Waren verbrannt werden.
Die Beziehungen zu von der Pest befallenen Städten wurden konsequent abgebrochen. Doch auf den Ausschluss eigener Händler reagierte man in Danzig mit Verärgerung und Unverständnis, so 1708 gegen Königsberg und Leipzig – hier zeigt sich eine für die Pestzeit nicht ganz untypische Danziger Doppelmoral.
Die Pest ist da
Am 27. Januar 2020 erreichte – allen präventiven Maßnahmen zum Trotz – das Corona-Virus Deutschland. Es wurde festgestellt, dass sich Corona auch ohne Krankheitssymptome verbreiten konnte und die Vorkehrungen nicht ausgereicht hatten. Mit der Zeit wurde aus nachverfolgbaren Einzelfällen die erste Corona-Welle.
Ebenfalls ungeachtet der „Praeservation“ begann die Pest Ende 1708 auch in Danzig einzuziehen. Schon im November wurden in den unabhängigen Vorstädten erste Pestfälle gemeldet, die aber im kurz darauf einsetzenden Winter wieder erloschen und in Vergessenheit gerieten. Mit steigenden Temperaturen im März erwachte die Pest jedoch aus ihrem Winterschlaf und griff um sich – diesmal auch innerhalb der Stadt. Hinweise des Arztes Joh. Kanold an den Rat, er habe im Mai an Patienten eindeutige Pestsymptome diagnostiziert, wurden bewusst ignoriert. Die Verbreitung „falscher Nachricht“, also dass die Pest da war, wurde sogar verboten. Die Seuche konnte sich währenddessen ungebremst in der Stadt ausbreiten. Doch bereits im Juni stiegen die Todeszahlen dermaßen, dass eine weitere Leugnung nicht mehr möglich war.
Wieder stellte sich dem Stadtrat die Frage nach öffnen oder schließen, und wieder entschied sich der Rat dafür, die Stadt, den Hafen und alle Märkte offen zu halten. Auch öffentliche Versammlungen und Gottesdienste waren, anders als heute, ohne Einschränkungen erlaubt, Gottesdienste wurden sogar verpflichtend. Dadurch blieben die Stadt und ihre Bevölkerung ruhig, eine große Fluchtwelle blieb trotz der hohen Todeszahlen aus.
Konnte man die Pest nicht von der Stadt fernhalten, so sollte sie zumindest in der Stadt besiegt und vom öffentlichen Leben ferngehalten werden. Unter großem finanziellem Aufwand wurden die medizinischen Strukturen ausgebaut und ein mit dem Gesundheitsamt vergleichbares Collegium Sanitatis geschaffen, das Kranke identifizieren, isolieren und die Behandlung koordinieren sollte. Mit steigenden Fallzahlen wurden sieben Pesthäuser und elf Friedhöfe ausgewiesen. Während die ärmere Bevölkerung in solchen meist am Stadtrand gelegenen Hospitälern isoliert wurde, konnten die reichen Bürger dank ihren Bediensteten ihre Versorgung in den eigenen Häusern sicherstellen.
Um die Pestkranken zu versorgen, wurden gering qualifizierte Ärzte, praktizierende Heiler oder Barbiere eingestellt. Auch in den umliegenden Städten wurde versucht, Ärzte abzuwerben, jedoch eher erfolglos. Ende Juli 1709 waren insgesamt fünfzehn zusätzliche Ärzte und Feldschere eingestellt worden. Die etablierten Ärzte hielten sich hingegen von den Pestkranken fern, sehr wohl um die Bedrohlichkeit der Pest wissend und um ihre gut zahlende und gesunde Stammkundschaft nicht zu verlieren.
Den Ärzten wurden jeweils vier Gehilfen zur Verfügung gestellt, wobei es immer einen Schreiber gab, der alle Fälle dokumentieren musste. In den Pesthäusern gab es zudem weitere Pfleger. Eine Danziger Besonderheit waren Pesthebammen, die pestkranke Schwangere und die oftmals bald verwaisten Säuglinge betreuten.
Insgesamt betrug das Personal, das die Pestkranken betreute, knapp unter hundert Personen. In den Hochphasen der Pest musste jeder Pestarzt 150 bis 200 Patienten versorgen.
Parallel zu den verbesserten medizinischen Strukturen wurden zusätzliche Geistliche, sogenannte pastores pestilentialis, angeworben, die sich eigens um die Pestkranken kümmern sollten. Aufgrund der Überzeugung, die Pest sei sowohl ein Leiden des Körpers wie des Geistes, kam ihnen eine ähnliche Bedeutung zu wie den Ärzten. Auch konnte der Stadtrat durch die Predigten Einfluss auf die öffentliche Ordnung in der Stadt nehmen, denn die Prediger äußerten, was ihnen befohlen wurde. In den verpflichtenden Gottesdiensten kam den Predigern die Aufgabe zu, „das Volck zu unterrichten / wie sie von der Pest recht urtheilen“, um letztlich „auff Besserung ihres Lebens“ hinzuwirken und die Ruhe und Ordnung in der Stadt zu bewahren.
Die Pest bot vor allem minderqualifizierten Predigern und Medizinern die Möglichkeit zu einem raschen Aufstieg – sofern sie die Pest selbst überlebten. Sie erhielten während der Epidemie hohe Löhne und kostenlose Dienstwohnungen – jedoch in unmittelbarer Nähe zu den Pesthospitälern –, und für die Zeit nach der Epidemie wurden ihnen eigene Pfarreien oder Praxen sowie lebenslange Steuererleichterungen in Aussicht gestellt. Boni, von denen heutiges medizinisches Personal in den Krankenhäusern nur träumen kann.
Innerhalb kürzester Zeit konnte so eine streng getrennte parallele Infrastruktur für die Kranken errichtet werden. Die Pestärzte und ‑geistlichen mussten sich zur Separierung von der gesunden Bevölkerung durch Aufnäher kenntlich machen.
Eine Parallelwelt für die Kranken war wichtig, um derart Ruhe, Ordnung und zumindest scheinbare Normalität in der Stadt bewahren zu können. An die ärmere Bevölkerung wurden finanzielle Hilfen ausgezahlt und trotz gestiegener Kornpreise kostenlos Lebensmittel ausgegeben. Das war in der Frühen Neuzeit alles andere als gewöhnlich. Todesfälle infolge von Mangelernährung und anderen Krankheiten, die zusammen mit Hungersnöten etwa parallel in Königsberg auftraten, blieben in Danzig aus. Die genauen Todeszahlen wurden bewusst verschwiegen, um eine Panik unter der Bevölkerung zu vermeiden.
Auch nach außen war es wichtig, das wahre Ausmaß der Pest zu vertuschen. Würden die Handelspartner von den Zuständen in der Stadt erfahren, wäre ein offener Hafen oder Markt sinnlos, denn keine Schiffe kämen mehr an. So verbreitete man, dass die Pest in Danzig nur vereinzelt aufträte und die wenigen Fälle lediglich die Ärmsten beträfen. Der wohlhabende Stadtkern und die Danziger Händler seien hingegen frei von der Pest, Infektionen durch Kontakte mit Danzigern deshalb ausgeschlossen. Gegen anderslautende Berichte wurde hart durchgegriffen. Die ohnehin harte Zensur von Drucktexten wurde auch auf die Post ausgeweitet und den Verfassern solcher (wie es heute heißen würde) Fakenews mit dem Tode gedroht.
Wirtschaft
Dass Danzig damit zu einem „Superspreader“ im ganzen Ostseeraum werden konnte, wurde billigend in Kauf genommen. Wirtschaftliche Belange waren für Danzig entscheidender.
Dem Stadtrat war es nicht nur wichtig, dass in der eigenen Stadt Normalität herrschte und die eigenen Märkte offenblieben, sondern auch, dass die eigenen Händler in andere Städte eingelassen wurden. Vom Bürgermeister wurden deshalb Gesundheitspässe ausgestellt, die die problemlose Einfuhr im Ankunftshafen sicherstellen sollten. Das war eine allgemein gängige Praxis und rief bei den Handelspartnern nicht selten Misstrauen hervor, auch weil die Pässe leicht zu fälschen waren. Danzig misstraute ebenfalls fremden Gesundheitspässen und ignorierte diese, während zugleich geklagt wurde, wenn die eigenen Dokumente nicht akzeptiert und Händler abgewiesen wurden.
Trotz des Misstrauens florierte der Danziger Handel auch in den Hochzeiten der Pest. Der Dominiksmarkt, die alljährliche Messe, und der Holzhandel blieben zwar hinter den Erwartungen zurück, dafür brachte der Kornhandel große Gewinne ein. 1709 konnte sogar mehr Getreide exportiert werden als im pestfreien Vorjahr – und mehr, als überhaupt nach Danzig eingeführt worden war. Die Erklärung für diese Diskrepanz wirkt fast makaber: Durch den pestbedingten Bevölkerungsschwund konnte Danzig Teile seiner für den Eigenbedarf zurückgehaltenen Reserven zusätzlich verkaufen. Dass Danzig trotz der Pest solche großen Mengen Getreide absetzen konnte, lag nicht zuletzt an dem von Krieg und Missernten erschütterten europäischen Gesamtmarkt und den hohen Kornpreisen. Auf den zentralen Hafen Danzig, über den teilweise bis zu 80 % des polnischen Getreides über den Seeweg ausgeführt wurde, konnte trotz der Pest nicht verzichtet werden.
Der ausbleibende totale wirtschaftliche Zusammenbruch der Stadt ermöglichte es, Geldmittel für die Pestbekämpfung freizusetzen. Damit hatte Danzig einen entscheidenden Vorteil gegenüber anderen Städten, denen oft auch schon ohne die pestbedingten Einnahmeausfälle die für die Pestbekämpfung notwendigen Geldmittel fehlten.
Probleme
Doch allen Beteuerungen zum Trotz wütete die Pest heftig in Danzig. Von den über 63.000 bzw., die Vorstädte eingerechnet, rund 80.000 Einwohnern kamen 24.533 bzw. sogar 32.599 Personen ums Leben. Diese Zahlen sind zuverlässig, entsprechen ungefähr einem Drittel der Gesamtbevölkerung und liegen rund vierzehn Mal höher als die Mortalitätsrate in normalen Jahren. Bei den Opfern handelte es sich vor allem um die ärmere Bevölkerung wie Handwerker, Arbeiter oder Diener. „Die ansehnliche Groß=Bürgerschafft hat / GOtt Lob ! nicht viel gelitten“, wie der Danziger Arzt Johann Christoff Gottwald anschließend berichtete.
Doch wie konnte es all den präventiven Maßnahmen zum Trotz zu solch hohen Opferzahlen kommen, und warum war das Großbürgertum kaum von der Pest betroffen? Viele Gründe haben sich seit 300 Jahren kaum verändert. Die Wohlhabenden konnten sich während der Pest in ihren Häusern selbst isolieren; den Risiken wurde die Dienerschaft ausgesetzt. Prekäre Lebens- und Arbeitsverhältnisse steigerten nicht nur das Risiko, sich mit der Pest zu infizieren, sie steigerten auch das Risiko, an den Folgen der Pest, die im Fall der Beulenpest nicht zwingend tödlich war, zu sterben. Abstand war in beengten Räumen nicht möglich, und mangelnde Hygiene war eine ideale Brutstätte für die Pestflöhe.
Ein weiteres Problem war die Missachtung der Schutzmaßnahmen – ein Problem, das wir nicht erst heute kennen. Der Lockdown hat sich bislang als äußerst wirksame Maßnahme gegen das Corona-Virus erwiesen. Doch sein Erfolg hängt in hohem Maße von der Disziplin der Bevölkerung ab. Hält sich niemand an die Maßnahmen oder sind sie schon in der Implementierung zu lückenhaft, bleibt ihr erhoffter positiver Effekt stark limitiert. Bei einer Krankheit, die sich von Mensch zu Mensch überträgt, wiegt es schwer, wenn Kontaktbeschränkungen missachtet werden.
Desgleichen wurde auch in der Frühen Neuzeit bereits beklagt, dass Menschen gegen die präventiven Maßnahmen verstießen. So versuchten sie vor Quarantäne zu flüchten und verbreiteten gerade auf diese Weise die Pest weiter. Besonders problematisch waren allerdings Personen, die auf der Suche nach kostbaren Schätzen in die versiegelten Häuser der Verstorbenen einbrachen und sich dabei infizierten. Vor allem kostbare Kleidung war ein trügerischer Schatz, weil darin oft die Pestflöhe überlebten und mit dem Dieb den Weg aus dem Haus fanden. Hier zeigt sich, dass die Annahme, in Textilien würde „schlechte Luft“ transportiert, zwar falsch war, es sich aber dennoch um eine wirksame Maßnahme handelte, auch über Textilien eine Art Quarantäne zu verhängen.
Folgen der Epidemie
In Danzig konnten die hohen Bevölkerungsverluste innerhalb weniger Jahre durch Zuzug aus dem Umland ausgeglichen werden. In der öffentlichen Wahrnehmung war die Normalität trotz Zehntausender von Toten erhalten geblieben. Danzig konnte dank dem Wohlstand durch umfangreiche Hilfen eine Panik oder Aufstände verhindern, obwohl der wirtschaftliche Erfolg klar über Menschenleben gestellt wurde. Es gab weder eine Hungersnot noch einen Anstieg der Kriminalität. In einzelnen Wirtschafts- und Handelszweigen kam es bedingt durch die Pest zu extremen Einbrüchen, andere konnten ihre Gewinne massiv steigern. Danzig blieb auch nach 1710 eine attraktive Stadt mit einer großen Sogwirkung.
Über die Folgen von Corona können wir derzeit nur spekulieren. Glücklicherweise werden wir durch Corona wohl keine so drastischen demographischen Einschnitte zu erwarten haben wie damals durch die Pest. Doch hat Corona schon jetzt spürbare wirtschaftliche Folgen. Eine steigende Staatsverschuldung, Privat- und drohende Firmeninsolvenzen, die derzeit durch staatliche Hilfen noch hinausgezögert werden, eine gestiegene Arbeitslosigkeit. Das Danziger Beispiel kann uns aber letztlich Hoffnung geben, dass es ebenso, wie es eine Post-Pest-Zeit gab, auch eine Post-Corona-Zeit geben wird – und dass wir Probleme, die wir heute haben und die vielleicht auch noch weiter wachsen werden, schneller werden überwinden können, als wir gegenwärtig noch glauben.