„Die erste Mauer, die fiel, wurde 1980 auf den Danziger Werften eingerissen. Später kamen dann die symbolischen Mauern an die Reihe, und die Deutschen brachten in Berlin die richtige Mauer zum Einsturz. Das gab schöne Bilder. Aber angefangen hat es alles in den Werften von Danzig.“ An der Einschätzung Lech Wałęsas, des legendären Kopfs der Solidarność – hier 2009 in einem Spiegel- Interview anlässlich des 20. Jahrestages des Mauerfalls –, besteht nach wie vor kein Zweifel. Auf das, was sich insbesondere ab 1980 in Danzig abspielte, waren die Augen der Weltöffentlichkeit gerichtet. Die Streiks, Demonstrationen und Straßenschlachten in Danzig, angefangen 1970 bis in die 1980er Jahre und vor allem am Ende der Volksrepublik 1989, besaßen eine Strahlkraft, die weit über Polen hinausging. Auch in der DDR schaute man nach Danzig. So wurde im Cottbusser Stasi-Gefängnis von Häftlingen gar ein Hungerstreik als Reaktion auf den 1981 ausgerufenen Kriegszustand durchgeführt. Die in Danzig ins Leben gerufene Solidarność-Bewegung nahm also eindeutig eine Pionierrolle ein, die letztlich in der Bildung der ersten nicht-kommunistischen Regierung im Ostblock kulminierte.
Nachdem es 1970 und 1976 schon zu vereinzelten Streiks gekommen war, entfaltete das Geschehen in Danzig ab 1980 noch einmal eine deutlich andere Dynamik. Die prekäre wirtschaftliche Lage der Volksrepublik spitzte sich – wie überall im realsozialistischen Osten – weiter zu, so dass zugleich die Kluft zur ökonomischen Entwicklung im kapitalistischen Westen immer weiter wuchs. Diese wirtschaftliche Krise – die zugleich eine Legitimitätskrise der Volksrepublik wie der kommunistischen Partei darstellte – äußerte sich in Symptomen wie langen Schlangen vor Lebensmittelgeschäften und Preiserhöhungen, etwa auf Fleisch, wie sie schon die Proteste der 1970er Jahre ausgelöst hatten. Bei den Streiks von 1970, die sich außer in Danzig auch in anderen Städten im Norden Polens wie Gdingen, Stettin und auch Elbing ereigneten, reagierte die Staatsmacht nervös und mit voller Härte, so dass sich die erschütternde Bilanz von 42 Todesopfern und mehr als 1.000 Verletzten ergab.
Von der Solidarität unter Werftarbeitern zur Solidarność
Die Auguststreiks 1980, aus denen die Solidarność hervorging, wurden jedoch nicht unmittelbar durch eine weitere Erhöhung der Lebensmittelpreise, sondern die Kündigung der Kranführerin Anna Walentynowicz ausgelöst, die sich illegaler Weise in einer freien Gewerkschaft engagiert hatte. An die Spitze der hierauf reagierenden Protestbewegung setzte sich eben jener Lech Wałęsa, der bereits 1976 aus seiner Arbeitsstelle als Werftelektriker entlassen worden war. Nachdem er das Gelände der Lenin-Werft am 14. August für besetzt erklärt hatte, artikulierten sich die ersten konkreten Forderungen des Streikkomitees: Die Wiedereinstellung von Walentynowicz sowie Wałęsa, eine Lohnerhöhung und ein Denkmal für die 1970 getöteten Arbeiter.
Rasant breitete sich die Streikbewegung auf benachbarte Werften aus, bis zum 15. August schlossen sich weitere Betriebe und der Danziger Nahverkehr den Streikenden an. Als die Leitung der Lenin-Werft den Forderungen am folgenden Tag zustimmte, hätte der Streik beinahe ein vorzeitiges Ende gefunden. Vertreter der anderen streikenden Betriebe setzten jedoch durch, dass der Arbeitskampf fortgeführt wurde. So formierte sich ein überbetriebliches Streikkommando unter Vorsitz Wałęsas, das sich fortan auch damit befasste, allgemeinpolitische Forderungen nach außen zu tragen. Symbolisch wurden 21 Postulate auf Holzbrettern am Eingang zum Werftgelände aufgehängt: darunter die Legalisierung von freien Gewerkschaften, Meinungs- und Pressefreiheit sowie die Einführung eines Streikrechts. Binnen weniger Tage hatte sich eine betriebliche Protestbewegung zu einer politischen Bewegung mit gesamtgesellschaftlich relevanten Forderungen gewandelt.
Bis zum Ende des Monats gingen schon rund 700.000 Polen und Polinnen auf die Straße und solidarisierten sich mit den Akteuren. Das Streikkomitee hatte indes am 23. August die ersten Gespräche mit Regierungsvertretern aufgenommen. Während aus Moskau darauf gedrängt wurde, die als konterrevolutionär erachteten Unruhen möglichst zügig und, wenn nötig, auch unter der Anwendung von Gewalt aufzulösen, war man in Warschau zu diesem Zeitpunkt noch bemüht, einen diplomatischen Kompromiss zu finden. Er wurde tatsächlich ausgehandelt, so dass Lech Wałęsa und der stellvertretende Ministerpräsident Mieczysław Jagielski am 31. August vor den Kameras des polnischen Fernsehens ein Übereinkommen unterzeichnen konnten. Während die Regierung auf die Forderungen nach freien Gewerkschaften und Streikrecht einging, akzeptierte Wałęsa die politische Führungsrolle der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (Polska Zjednoczona Partia Robotnicza, kurz: PZPR). Der Verhandlungsführer erklärte daraufhin unter großem Jubel den Streik für beendet. Am 17. September 1980 erfolgte die offizielle Gründung der Solidarność unter dem Vorsitz Wałęsas. Der Mitgliederzuwachs war atemberaubend; bis zum Anfang des nächsten Jahres waren rund neun Millionen Polen und Polinnen der Gewerkschaft beigetreten. Weiterhin wurde am Werftgelände bereits am 16. Dezember 1980 das symbolträchtige, 42 Meter hohe Denkmal für die 1970 umgekommenen Arbeiter eingeweiht.
Kriegsrecht und Kampf im Untergrund
Nach dem turbulenten Jahr 1980 mitsamt seinen durchschlagenden Erfolgen für die Streikbewegung folgte in den kommenden Jahren Ernüchterung. Im Laufe des Jahres 1981 waren Warnstreiks ausgebrochen, da die Regierung ihren Zugeständnissen aus der Vereinbarung vom August 1980 nicht vollständig nachzukommen schien. In Reaktion auf diese Demonstrationen – sowie unter anhaltendem Druck Moskaus – rief schließlich Ministerpräsident Wojciech Jaruzelski am Morgen des 13. Dezembers 1981 im Fernsehen das Kriegsrecht aus, mit dem ein Verbot von freien Gewerkschaften einherging. In der Nacht vom 12. auf den 13. waren bereits führende Gewerkschafter, darunter auch Lech Wałęsa, verhaftet worden. Die Streiks und Demonstrationen wurden auf brutale Art und Weise unter Zuhilfenahme des Militärs niedergeschlagen, das unter anderem mit Panzern auffuhr. Rund eine Woche lang tobten Straßenschlachten in Danzig, bis am 21. Dezember die letzten Streiks rund um den Hafen zerschlagen wurden – die große Revolution war zumindest vorerst verhindert worden.
In der Zeit danach dominierten Einheiten der Miliz und der Polizei das Straßenbild in Danzig. Bedingt durch die Verhaftung zahlreicher Gewerkschafter und das Solidarność-Verbot wurden die Aktivisten dazu gezwungen, sich fortan im Untergrund zu organisieren. Doch trotz anhaltender Repressionen brachen sporadisch immer wieder spontane Streiks, Demonstrationen und Straßenschlachten aus. An der Gegendemonstration zum Mai-Umzug 1982 nahmen rund 50.000 Menschen teil. Dennoch befand sich die Opposition bald in einer Krise. Lichtblicke gab es freilich etwa 1983, als sensationell der Fußballverein Danzigs, Lechia Gdańsk, als Drittligist den polnischen Pokal gewann und daraufhin im Europapokal der Pokalsieger auf Juventus Turin traf. Bei diesem Spiel gelangte der inzwischen aus der Haft entlassene Lech Wałęsa ins Stadion und wurde dort mit Sprechchören derart laut gefeiert, dass vom Staatsfernsehen die Tonspur ausgetauscht werden musste. Zudem übte die im gleichen Jahr verkündete Verleihung des Friedensnobelpreises an Lech Wałęsa eine höchst förderliche Wirkung aus, weil sie die Bewegung neuerlich in den Fokus der Weltöffentlichkeit rückte.
Den vielleicht wichtigsten Rückzugsort in dieser schwierigen Zeit bot die katholische Kirche, die eine bedeutende Rolle in der Oppositionsbewegung spielte, allen voran die Pfarrgemeinde St. Brigitten unter ihrem Pfarrer Henryk Jankowski, der sich bereits früh mit den Streikenden solidarisch gezeigt hatte. Die auch von der PZPR unangefochtene Machtposition der katholischen Kirche in Polen zeigte sich eindrucksvoll, als Papst Johannes Paul II. trotz erheblicher Bedenken der Staatsführung nach Danzig gelassen wurde, um dort unter anderem eine Messe in der Plattenbausiedlung Saspe (Zaspa) zu feiern. Schätzungen zufolge nahm hieran rund eine Million Menschen teil.
Siegeszug der Bürgerrechtler
Ab 1987 zeichnete sich eine Verbesserung der Lage für die Oppositionsbewegung ab. 1988 kündigten sich landesweit neue Streikwellen an und auch auf der Lenin-Werft legte die Belegschaft wieder die Arbeit nieder. Dieser Arbeitskampf konnte erst nach gut einer Woche beendet werden, nachdem die paramilitärischen Motorisierten Reserven der Bürgermiliz (Zmotoryzowane Odwody Milicji Obywatelskiej) das Werftgelände abgesperrt hatten und den Beschäftigten ein Zwangsurlaub verordnet worden war. Die innenpolitische Lage in der Volksrepublik verschlechterte sich indes immer weiter. Die steigende Inflation führte, auch bei den staatlichen Betrieben, zu erheblichen Problemen, so dass 1988 die Lenin-Werft beinahe hätte geschlossen werden müssen. Während die Streiks nicht abrissen, fuhr Wałęsa nach Warschau und erreichte ein Entgegenkommen der Regierung und die Zusage zu einem zeitnahen Runden Tisch. Im Januar signalisierte die Exekutivkommission der Solidarność Gesprächsbereitschaft, nachdem die Regierung angekündigt hatte, dass sie ihrerseits bereit sei, das Solidarność-Verbot wieder aufzuheben.
So begannen im Februar die Verhandlungen am Runden Tisch, die nach über zwei Monaten im Zugeständnis freier Senats- und halbfreier Parlamentswahlen mündeten. Bei den Wahlen im Juni feierte das Bürgerkomitee Solidarność überwältigende Erfolge. In den freien Senatswahlen errang es 99 von 100 Sitzen. In den halbfreien Sejm-Wahlen konnte Solidarność gar alle 161 Sitze, die nicht der PVAP und ihren Blockparteien vorbehalten waren, für sich gewinnen. Der nationalpolitischen Wende in Warschau folgte schließlich mit den Stadtverordnetenwahlen im Mai 1990 auch ein überragender Sieg des Solidarność-Bürgerkomitees in Danzig: Auch hier dominierte es und konnte 59 von 60 Sitzen für sich gewinnen, wodurch Jacek Starościak Stadtpräsident wurde.
Was bleibt vom Mythos?
In den vergangenen Jahren bröckelte das Ansehen einiger führender Solidarność-Aktivisten massiv und einst als Helden gefeierte Persönlichkeiten werden nun kritisch gesehen. Zum Beispiel beschäftigen die polnische Öffentlichkeit schon seit Jahrzehnten Vorwürfe, die in den letzten Jahres zudem von der PiS politisch instrumentalisiert werden und nach denen Lech Wałęsa als Informant mit der polnischen Staatssicherheit zusammengearbeitet haben soll. Noch größere Beachtung fanden die gegen Henryk Jankowski erhobenen Anschuldigungen, in größerer Zahl Minderjährige sexuell missbraucht, einen ausgeprägten Antisemitismus propagiert und ebenfalls mit der Staatssicherheit bzw. dem Geheimdienst kollaboriert zu haben. Diese nicht enden wollenden Diskussionen kulminierten jüngst in der Entscheidung, das zu seinen Ehren aufgestellte Denkmal zu entfernen und den nach ihm benannten Platz umzubenennen.
Das oft romantisierte historische Bild der Solidarność wurde also in den letzten Jahren ein Stück weit entmythologisiert. Dennoch steht außer Frage, dass in der kollektiven Erinnerung der Polinnen und Polen das dreißigjährige Jubiläum der politischen Wende zurecht einen ungemein hohen Stellenwert einnimmt. Auch wenn sich das Geschehen im Revolutionsjahr 1989 allmählich in die Hauptstadt Warschau verlagerte, war Danzig bereits während der 1980er Jahre zu einer Art zweiten Hauptstadt Polens aufgestiegen, in der sich die Opposition formieren konnte. Man kann also mit Fug und Recht behaupten: Die Wende begann in Danzig.