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November 1918: Die Revolution in Danzig

Von Tilman Asmus Fischer

Der Kieler Matrosenaufstand vom 3. November 1918 ist – neben den gewaltsamen Auseinandersetzungen der Folgemonate, vor allem in Berlin – zum Inbegriff der revolutionären Umbrüche geworden, die das Ende des Ersten Weltkrieges und den Übergang Deutschlands vom Kaiserreich zur Weimarer Republik begleiteten. Auch wenn heute Kiel, Berlin und vielleicht noch die Münchner Räterepublik das historische Bild der Matrosen- und Rätebewegung prägen :  Auch Danzig war Ziel und Schauplatz des Umsturzes, der am Ende nicht in die Räterepublik, sondern in eine Demokratie führte.

Es scheint, als hätte sich die histo­rische Forschung – weil die revolu­tio­nären Umtriebe in Danzig keine Dynamik entwi­ckeln konnten, die derje­nigen in den genannten Städten vergleichbar wäre – nicht sonderlich für die Tage des Umbruchs an der Motlau inter­es­siert. Zwar sparen die stadt­ge­schicht­lichen Monografien die Thematik nicht aus, um sich jedoch ein konkretes Bild von der Lage vor Ort machen zu können, ist es notwendig, sich „ad fontes“ – zu den Quellen – zu begeben. Ein solches Zeitdo­kument ist uns mit den noch 1918 im Verlag W. F. Burau in Danzig veröf­fent­lichten Erinne­rungen von Hauptmann a. D. Dr. Wilhelm Brönner, Die Revolu­ti­onstage in Danzig, überliefert. Sie umfassen den Zeitraum zwischen dem 3. und 18. November 1918 und vermögen uns noch heute einen Einblick in die Vorgänge auf Danzigs Straßen und die Stimmungslage in der Stadt zu gewähren.

Danzig im November 1918 – ein Überblick

Bevor wir auf die einzelnen Ereig­nisse blicken, die Brönner aus Danzig berichtete, ist es jedoch notwendig, sich einen Überblick über den histo­ri­schen Gesamt­zu­sam­menhang zu verschaffen. Wie verlief die große Linie der Danziger Revolution ?  Und warum blieb hier eine Gewalt­es­ka­lation, anders als etwa in Berlin, aus ? – Peter Oliver Loew erlaubt uns nachzu­voll­ziehen, wie auch an der Motlau quasi über Nacht eine neue politische Epoche anbrach :

Nur wenige Stunden nachdem der Kaiser abgedankt hatte, hielt die Revolution auch in Danzig Einzug. Am 10. November stürmten revolu­tionäre Matrosen Gefäng­nisse in der Stadt, und bei einer Großkund­gebung auf dem Heumarkt verkün­deten führende Sozial­de­mo­kraten die Ausrufung der Republik. Ein deutscher Arbeiter- und Solda­tenrat übernahm die Macht in Danzig, auch ein polni­scher Rat entstand. Die Garnison unter­stellte sich den Räten und sorgte, gemeinsam mit der Bürgerwehr, für die Aufrecht­erhaltung der öffent­lichen Ordnung. Am 11. November legte ein General­streik die Stadt lahm.

Dafür, dass die Revolution sich an der Motlau ohne sonder­liche Radika­lität oder Gewalt­aus­schrei­tungen vollzog, lassen sich im Wesent­lichen vier Erklä­rungen finden. Das von Loew ins Feld geführte erste Argument, die Danziger seien ob der angespannten Nahrungs­mit­tel­ver­sorgung eher mit der Fürsorge für ihr Überleben als mit der Revolution befasst gewesen, mag vielleicht das schwächste sein :  Sicher entbehrt es nicht jeder Plausi­bi­lität, jedoch muss in Rechnung gestellt werden, dass auch im weiteren revolu­tio­nären Deutschland ein Versor­gungs­not­stand herrschte. Zweitens erhielt die politische Linke nach dem ersten revolu­tio­nären Aufflammen wieder ernst­zu­neh­mende Konkurrenz : Angesichts der verlaut­barten polni­schen Ansprüche auf Danzig konnte die politische Rechte mit antipol­ni­schen Positionen schnell Rückhalt in der Bevöl­kerung gewinnen. Drittens kann darüber speku­liert werden, wie sich die Geschichte vollzogen hätte, wenn nicht per preußi­scher Kabinetts­order vom 24. März 1865 die preußische Marine­station der Ostsee – also die oberste Komman­do­be­hörde der preußi­schen Seestreit­kräfte in der Ostsee – von Danzig nach Kiel verlegt worden wäre. Andern­falls, so kann angenommen werden, wäre Danzig in der Folge zentraler Standort der Marine des Norddeut­schen Bundes und der Kaiser­lichen Marine gewesen – und letztlich hätte die Stadt dann das histo­rische Schicksal treffen können, das nun Kiel ereilte. Viertens und letztens ist es – wie Loew hervorhebt – Julius Gehl zuzurechnen, dass sich die Revolution in Danzig verhält­nis­mäßig ruhig vollzog. Der gelernte Maurer leitete von 1912 bis 1919 als Bezirks­par­tei­se­kretär und Vorsit­zender den SPD-Bezirk Westpreußen mit Sitz in Danzig und verant­wortete von 1917 bis 1918 als Redakteur die sozial­de­mo­kra­tische Zeitung Danziger Volks­wacht. Hätte er nicht mäßigend auf die Entwick­lungen einge­wirkt, hätten sich die Umbrüche durchaus anders vollziehen können.

Autosuggestion:  Angst vor „roten Schiffen“

Und dies wäre genau genommen gar nicht so unwahr­scheinlich gewesen. Denn auch in Danzig lässt sich ein Phänomen identi­fi­zieren, das Mark Jones in seinem 2017 erschienen Buch Am Anfang war Gewalt über die Gründungs­monate der Weimarer Republik heraus­ge­ar­beitet hat :  Autosug­gestion. So fielen die ersten blutigen Schüsse in Kiel, weil sich unter den revolu­tio­nären Matrosen die Wahnvor­stellung ausge­bildet hatte, jederzeit mit Angriffen konter­re­vo­lu­tio­närer Offiziere rechnen zu müssen ;  ebenso resul­tierten die Forde­rungen nach staat­lichen Gewalt­maß­nahmen gegen die Sparta­kisten in Berlin aus dem Mythos einer russisch finan­zierten Geheim­armee des Kommu­nis­ten­führers Karl Liebknecht. Was Mark Jones für die großen revolu­tio­nären Ereig­nisse in Kiel, Berlin und München konsta­tiert hat, trifft – das zeigen die Erinne­rungen von Brönner – auch auf die graduell weniger inten­siven Entwick­lungen in Danzig zu.

Hier scheint es ebenso wie dort vornehmlich eine unklare Infor­ma­ti­onslage – eine Mischung aus vermu­teten Gefahren und bedroh­lichen Gerüchten – gewesen zu sein, die das Stimmungsbild in der Stadt und ihrem Umland prägte. So mutmaßte man am 4. November, für Danzig drohe „die Gefahr einer engli­schen Flotten­landung oder eine Landung von Teilen der meuternden Flotte“ :  „Die roten Schiffe konnten erscheinen, um auch in Danzig die revolu­tionäre Bewegung in Gang zu bringen ;  sie konnten auch aus Mangel an Proviant in der Höhe Danzigs die Küste anlaufen. Man erfuhr bald von Landungen in Swine­münde und Stolp­münde. – Z. T. sollten es Fahrzeuge gewesen sein, die noch königstreu vor den Meuterern flüch­teten.“ Entspre­chend dem ambiva­lenten äußeren Bedro­hungs­sze­nario mutmaßte man zugleich rege über das Gefah­ren­po­tenzial innerhalb der Stadt­grenzen :  „Von geheim­nis­vollen Versamm­lungen, von Zettel- und Flugblatt­ver­tei­lungen wurde gemunkelt. Ein Extra­blatt erschien nach dem anderen.“

Eindrucksvoll verdeut­licht Brönners Notiz vom 8. November, wie sich durch das – letztlich nicht verifi­zierbare – äußere Bedro­hungs­sze­nario im Zusam­men­spiel mit Anzeichen innerer Unruhen die öffent­liche Stimmung mehr und mehr zuspitzte :  „Zwei rote Schiffe sollen vor Hela liegen. Ist Fliege­r­auf­klärung möglich ?  Es lag dichter Nebel, die Marine­nach­rich­ten­stelle hat nichts gesehen. Die Revol­te­stimmung in Danziger Straßen wird stärker bemerkbar. Es knallt überall :  Halbwüchsige und Kinder werfen Schwärmer und andere Feuer­werks­körper. Frauen und Kinder erzählen in den Straßen, in dieser Nacht gehe es los. Väter und Brüder würden sich auf dem Bahnhof prügeln gehen. Wie schon in diesem Kriege denkt man wieder an Einpacken, an noch rasch zu erledi­gende wichtige Geschäfte, an Abreise, an Wegsendung von Frau und Kind.“ Inter­essant ist vor allem der Hinweis auf die Geräusch­ku­lisse, die auf Schüsse und andere Ausschrei­tungen schließen lassen konnte. In anderen Städten waren es, wie Jones heraus­stellt, ebensolche akusti­schen Signale, die von einer der sich gegen­über­ste­henden Parteien – oftmals grundlos – als feind­licher Beschuss gedeutet wurden, so dass die Situation eskalierte und es in der Folge zu tatsäch­lichen Gewalt­aus­schrei­tungen, teils auch mit Todes­opfern, kam. Brönners Aufzeich­nungen verdeut­lichen, dass es neben den unmit­telbar für Danzig erwar­teten Entwick­lungen immer wieder auch die Nachrichten aus Berlin und anderen Stätten der Revolution – sowie solche über die Verhand­lungen mit den Alliierten – waren, die in Danzig wachsam verfolgt wurden und die Prognose über die eigene Situation mitbestimmten.

Revolution in geordneten Bahnen

Angesichts der Ungewissheit über die tatsäch­liche Bedro­hungslage vollzogen sich die politi­schen und militä­ri­schen Entwick­lungen im Danziger Gebiet folgen­der­maßen :  Um den 4. November wurden mehrere auswärtige Truppen­teile zur Absicherung der Stadt nach Danzig verlegt. Dabei entschieden sich die politi­schen Verant­wor­tungs­träger – bei allen notwen­digen militä­ri­schen Sicher­heits­maß­nahmen – nicht für Gewalt als erstes Mittel. Vielmehr herrschte Beson­nenheit, und man setzte für den Fall der Fälle primär auf Verhand­lungen, sofern „die meuternden Matrosen bei der erwar­teten Ankunft mit sich reden lassen“ würden. Bevor jedoch meuternde Matrosen in Danzig anlanden konnten, kamen einem solchen Unter­fangen am 7. November – wie Brönner treffend anmerkt, dem „Jahrestag der russi­schen Revolution“ – die Arbeiter und Matrosen der Putziger Seeflie­ger­schule zuvor. Deren Arbeiter- und Solda­tenrat erklärte unmit­telbar im Zusam­menhang mit seiner Gründung, für die „Aufrecht­erhaltung der Disziplin und Ordnung werde Sorge getragen“. Da auf Grundlage dieser Ankün­digung offenbar ein Einver­nehmen mit dem Kommando der Seeflie­ger­schule herge­stellt werden konnte, wurde von einem militä­ri­schen Eingreifen gegen die Meuterer abgesehen, und es kam zu keinen gewalt­samen Ausein­an­der­set­zungen. Nichts­des­to­we­niger besetzten Matrosen aus Putzig den Bahnhof von Rheda.

Zwei Tage später – am 9. November – kam auch in Danzig und seiner unmit­tel­baren Umgebung der Perso­nen­verkehr zum Erliegen. Dennoch :  Auch hier blieb es dank der Beson­nenheit aller Parteien – vor allem wohl des bereits erwähnten Julius Gehl – ruhig. Dieser erklärte weitsichtig, dass „die Bewegung in Danzig ruhig verlaufen“ würde, wenn „nicht geschossen werde“ – zumal er ohnehin prognos­ti­zierte, dass beim Einsatz militä­ri­scher Mittel die Truppen den Gehorsam verweigern würden. Dies erwartete er auch für den Fall einer Landung von Schiffen meuternder Soldaten :  „Vielleicht würden die Küsten­bat­terien einige Schüsse abgeben, aber was mache das Kriegs­schiffen aus, und sobald erst Landungen erfolgt seien, werde kein Wider­stand mehr geleistet.“ Gehl scheint es nicht nur gelungen zu sein, derart präventiv dem Einsatz militä­ri­scher Mittel entge­gen­ge­wirkt zu haben. Vielmehr kam es am 9. November auch zu wegwei­senden Einigungen zwischen den entschei­denden Akteuren in der Stadt :  den Mehrheits­so­zia­listen – also der SPD –, den „Unabhän­gigen“ – also der radika­leren USPD, die sich während des Krieges von ihrer Mutter­partei abgespalten hatte – und der städti­schen Verwaltung. Nach einer gemein­samen Sitzung von SPD und USPD traten um neun Uhr im Stadt­ver­ord­ne­tensaal Vertreter der Sozia­listen und der Behörden – „Oberprä­sident, Regie­rungs­prä­sident, Polizei­prä­sident, Bürger­meister, Stadträte, Komman­die­render General, Komman­dantur, Kriegs­amts­stelle“ – zusammen. Das Ergebnis dieser Bespre­chung kann gewis­ser­maßen als Einigung auf eine ‚Revolution in geord­neten Bahnen‘ bezeichnet werden :  „Große Versammlung zur Ausrufung der Republik soll Sonntag [also am nachfol­genden Tage], General­streik Montag statt­finden. […] Im gleichen Maße, wie Partei­leitung ruhigen Verlauf gewähr­leisten könne, wollen Behörden vom Eingreifen ihrer­seits absehen. […] Komman­die­render General und Oberprä­sident bitten Bevöl­kerung Danzigs, Bürger und Soldaten, Ruhe zu behalten und zur Aufrecht­erhaltung von Ruhe und Ordnung jeder nach Kräften mitzu­wirken.“ Von ebendiesem Geist war auch ein „Friedens-Mahnruf der Sozial­de­mo­kratie“ geprägt, der am gleichen Tag in Gehls „Danziger Volks­wacht“ erschien.

Nur wenige Stunden nach der Sitzung war es eine Nachricht aus Berlin, die um 15 Uhr die Danziger Extrablatt-Leser erreichte und zunächst Ruhe und Ordnung in Frage zu stellen schien :  Der Kaiser hat abgedankt !  – „In Kasernen fängt tumult­ar­tiges Treiben an. Absetzung von Vorge­setzten wird gefordert.“ Als erstes wählt das Infanterie-Regiment 128 einen Solda­tenrat, andere wie die 5. Grena­diere folgen. Zu einer Eskalation der Lage kommt es jedoch auch nach dieser Entwicklung nicht – vielmehr erklären die Einheiten gegenüber der SPD-Parteiführung, sie stünden „zur Aufrecht­erhaltung der Ruhe und Ordnung zur Verfügung“. Und dies scheint am 9. November – dem Tag des Endes der Monarchie – dann auch gelungen zu sein. So ist die einzige Begebenheit, die Brönner über den Abend dieses geschichts­träch­tigen Tages berichtet, eher anekdo­ti­scher Natur :  „Kurz nach Mitter­nacht treffe torkelnden Betrun­kenen auf Dominikswall. Brüllt singend :  Freiheit, Freiheit, keine Mauern, kein Zuchthaus, frei muß der Mensch sein, und unter­bricht sich drohend zu einem Passanten :  Verfolgst du mir, was !  Du willst mir wohl verfolgen ?  Passant weicht wortlos aus.“

Großkundgebung und Gefängnisstürmungen

Einige Stunden vor Beginn der für Sonntag, den 10. November, geplanten Großkund­gebung, um 9.30 Uhr, traf in Danzig ein Zug aus Richtung Dirschau ein. Seine Insassen, 150 Zivilisten und Militär­an­ge­hörige, gaben sich als Danziger auf dem Weg zu ihren Angehö­rigen in der Stadt aus. Nichts Böses ahnend, ließ man sie gewähren. Tatsächlich handelte es sich jedoch um – größten­teils aus Gefäng­nissen befreite – Bolsche­wisten, die nun eine regel­rechte Welle von Gefäng­nis­er­stür­mungen in Danzig auslösten. Ziel waren die Militär­ar­rest­an­stalten I und II in der Elisa­beth­kir­chen­gasse bzw. am Schlüs­seldamm, das Festungs­ge­fängnis am Nonnenhof, die Neben­ar­rest­an­stalt Schieß­stange sowie das Gefan­ge­nen­lager Troyl. Überall waren die Gefäng­nis­stürmer erfolg­reich – wobei neben politi­schen Häftlingen und arres­tierten Soldaten zudem tatsäch­liche Straf­täter befreit wurden. Wenn die Erstür­mungen auch unter Androhung von Waffen­gewalt erfolgten und von Plünde­rungen begleitet waren, kam es zu keinen ernst­lichen Schuss­wechseln oder gar Todes­opfern. Das gleiche gilt für revolu­tionäre Ausschrei­tungen auf den Straßen, die Brönner gleichwohl eindringlich beschreibt : 

In den Haupt­ver­kehrs­adern setzt zwischen 9 und 10 Uhr eine Jagd auf Soldaten ein, die noch Kokarden, Abzeichen auf der Schulter, Seiten­ge­wehre tragen. Es kommt zu Wortwechseln und Gesti­ku­la­tionen, nicht zu Blutver­gießen, soweit bekannt geworden. Auch Offiziere werden erst recht nicht geschont. […] Auch über unifor­mierte Polizei­beamte […] geht es her. Wo einer angehalten wird, bildet sich im Augen­blick ein Menschen­knäuel, bald rechts, bald links vom Fahrdamm. Im Laufschritt eilen die ersten Straßen­gänger zu, wie die Eisen­späne zum Magneten. Ueberall auf dem Pflaster Kokarden und abgeschnittene Schulterklappen.

Eingedenk der Entwick­lungen, welche die Revolution etwa in Berlin nahm, ist es bemer­kenswert, dass die Situation in Danzig bei solchen Szenen in den Straßen nicht weiter eskalierte. Entspre­chend friedlich konnte schließlich auch die Versammlung auf dem Heumarkt verlaufen :  Es wurden Reden gehalten, die rote Fahne gehisst und ein dreifaches Hoch auf die Republik ausge­rufen. Die Stimmung der schät­zungs­weise 15.000 Anwesenden beschreibt Brönner als eksta­tisch. Auch in den folgenden Stunden blieb die Stimmung gehoben :  „Wohin man kommt, in den Straßen kichernde Weiber, kecke Burschen, Schreien, Johlen, Grammo­phonlärm aus den Häusern, die Straßen­bahnen mit brechender Überfracht auf Tritt­brettern und Puffern. Noch immer ist Krieg, noch immer rast an der Front das mordende Feuer ;  daran denkt niemand.“ Die Feier­lich­keiten hielten auch noch an, nachdem um drei Uhr die Waffen­still­stand­be­din­gungen bekannt wurden. Trotz des ansonsten fried­lichen Verlaufes kam es am Abend und an den Folge­tagen durchaus auch zu Einbrüchen und Plünde­rungen. Diese vermehrten sich im Laufe von zwei Wochen derart, dass es zu einer Reihe von Verhaf­tungen und seitens der Behörden zur Androhung der Todes­strafe kam.

Innere Ordnung und äußere Konflikte

Auf dezidierten Wunsch des Sozial­de­mo­kraten Gehl blieben die bishe­rigen Behör­den­spitzen auch nach Ausrufung der Republik im Amt – von den Revolu­tio­nären wurde die Aufrecht­erhaltung von Ruhe und Ordnung garan­tiert. Planmäßig verlief am 11. November der General­streik, an dem sich neben den Arbeitern auch die Soldaten betei­ligten. Ab dem 13. November zeigte die Polizei – im Auftrag der Räte – wieder vermehrt Präsenz auf den Straßen. Jedoch :  Bereits ab dem 12. November erreichten die Komman­dantur und Solda­tenräte besorg­nis­er­re­gende Mittei­lungen aus dem Umland :  „Am Mittag wird Hilfe gegen die Polen im Kreise Karthaus erbeten, die die Lieferung von Lebens­mitteln verweigern und sich zusam­men­rotten […]. Nachrichten laufen ein, daß auf dem Lande auch die Förster entwaffnet und von den Polen bedroht werden. Selbstän­dig­keits­drang überall, alles will aus den Fugen.“

Hier kündigt sich an, was in den folgenden Monaten und Jahren das Schicksal Westpreußens prägen sollte :  der – zumal durch die Germa­ni­sie­rungs­po­litik der voran­ge­gan­genen Jahrzehnte geschürte – deutsch-polnische Natio­na­li­tä­ten­kon­flikt, der unter dem Vorzeichen des 14-Punkte-Programms des US-amerikanischen Präsi­denten Woodrow Wilson für Danzig die Gründung der ‚ungeliebten‘ Freien Stadt bedeutete. Ahnten Brönner und seine Zeitge­nossen dies bereits ?  Mit dem 18. November schließt sein Bericht :  „Aus Berlin kommt das Schlagwort vom Null-Stundentag, aus Schlesien und Posen die Meldung von bevor­ste­henden Angriffen auf deutsches Staats­gebiet und der Entsendung deutscher Abwehr­truppen, und man erinnert sich des stolzen Evange­liums der jungen Republik:  Friede, Freiheit, Arbeit, Brot ! “