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»Ich arbeite gegen das Verschwinden«

Ein Besuch bei dem Bibliothekar, Historiker und Aquarellisten Andreas Koerner

Von Alexander Kleinschrodt

In Essen-Borbeck gilt Andre­as Koer­ner als das personi­fizierte Gedächt­nis des Stadt­teils. Der gelern­te Biblio­the­kar kennt sein Vier­tel im Esse­ner Wes­ten in- und aus­wen­dig und war Mit­grün­der des Kultur-Historischen Ver­eins Bor­beck. Mit den Ver­eins­kol­le­gen habe er über die Jah­re »schon eini­ges gesam­melt« an Erin­ne­run­gen und Zeug­nis­sen, soviel sei rich­tig. Bis heu­te erschei­nen in dich­ter Fol­ge neue Auf­sät­ze von ihm, vor allem in den Bor­be­cker Bei­trä­gen, die der 75-Jährige selbst her­aus­gibt. Natür­lich gehö­ren, in Essen fast unver­meid­lich, Industrie- und Berg­bau­ge­schich­te zu sei­nen The­men. Außer­dem beschäf­tigt er sich mit der All­tags­kul­tur, der Stadt­ent­wick­lung und den Bio­gra­phien von Per­sön­lich­kei­ten, die Bor­beck geprägt haben.

Nach Essen kam Andre­as Koer­ner 1969, als er sei­ne ers­te Biblio­the­kars­stel­le bei der Stadt antrat. Spä­ter wur­de er Lei­ter der Stadt­teil­bi­blio­thek in Bor­beck, das schon zuvor sei­ne Hei­mat gewor­den war. Doch das ist nur die hal­be Wahr­heit. Andre­as Koer­ner hat noch eine ande­re Hei­mat – eine, die er selbst erst wie­der ent­de­cken muss­te. Gebo­ren wur­de er 1943 in Hof­le­ben bei Thorn. An die Flucht aus der Stadt an der Weich­sel hat er selbst kei­ne Erin­ne­rung, er weiß nur, dass sei­ne Mut­ter Anne­li­se ihn 1944 dem Kin­der­mäd­chen anver­trau­te, das sie in Rich­tung Wes­ten vor­aus­schick­te. Sie selbst ver­ließ Thorn nach ihrer Aus­wei­sung im Okto­ber 1945. Das Leben der Fami­lie vor dem Krieg sei spä­ter kein Gesprächs­the­ma gewe­sen :  »Mei­ne Eltern blick­ten nicht so viel zurück«, sagt Andre­as Koer­ner dazu heu­te lapi­dar. Thorn war für ihn kein völ­lig unbe­schrie­be­nes Blatt, stand aber doch für nichts Greif­ba­res :  »Für mich war das eine Traum­stadt. Ich wuss­te, die hat etwas mit der Fami­lie zu tun. Aber das war es dann auch.«

Wer Andre­as Koer­ner als umtrie­bi­gen Bor­be­cker Hei­mat­for­scher ken­nen­ge­lernt hat, kann sich schnell den­ken, dass es dabei dann doch nicht geblie­ben ist. 1993, nach dem Fall des Eiser­nen Vor­hangs, reis­te er zum ers­ten Male nach Thorn. Mit der Akri­bie und Begeis­te­rung, die ihn zum »Bor­be­cker Gedächt­nis« wer­den ließ, beschäf­tig­te er sich dann auch mit die­ser ande­ren, zunächst frem­den Hei­mat. Er tat das auf mehr als nur eine Wei­se. Nicht nur als For­scher und Sucher, son­dern auch krea­tiv und spontan.

Schon seit Schul­zei­ten hat­te Andre­as Koer­ner ger­ne gemalt. Unter­richt hat­te er nie, aber die Lust dar­an, auf dem Papier For­men ent­ste­hen zu sehen, hielt an. Wäh­rend eines Spanien-Urlaubs begann er wie­der damit, er besorg­te sich Ölkrei­den und mal­te unter frei­em Him­mel :  »Als ich 1993 dann nach Thorn kam, hat­te ich schon eine Mal­rou­ti­ne.« Er setz­te sich ein­fach an den Stra­ßen­rand, und so ent­stan­den, jetzt als Aqua­rel­le, zahl­rei­che Ansich­ten der Stadt, mit Kirch­tür­men und his­to­ri­schen Straßenzügen.

Die Moti­ve, die er sich in Thorn aus­such­te, waren aber oft nicht kon­ven­tio­nell :  »Manch­mal will ich gar kei­ne Har­mo­nie. Ich zei­ge nicht nur die Sehens­wür­dig­kei­ten, die man immer fin­det.« Außer­dem möge er es, »wenn sich was über­schnei­det«, Gegen­stän­de im Bild, aber auch Sinn- und Zeit­schich­ten. Oft drän­gen sich Ver­kehrs­schil­der oder Wer­be­ta­feln in den Vor­der­grund sei­ner Aqua­rel­le. Pol­ni­sche Schrift­zü­ge sind dar­auf zu erken­nen, »man sieht dann, das ist die Gegen­wart. Ich fin­de gera­de das Zeit­ge­nös­si­sche auch wich­tig, damit man kei­ne idea­le Welt malt.« Das Alte und das Neue ste­hen in sei­nen Ansich­ten häu­fig dicht neben­ein­an­der, für Andre­as Koer­ner sind es des­halb »her­be Moti­ve«. Die Bil­der, die immer voll­stän­dig vor Ort ent­stan­den sind, hat er spä­ter mehr­fach ausgestellt.

Der ers­ten Rei­se nach Thorn folg­ten wei­te­re. Natür­lich zog es Andre­as Koer­ner dann auch in das Staats­ar­chiv Thorn, beim ers­ten Besuch dort sei aller­dings noch eine Geneh­mi­gung aus War­schau erfor­der­lich gewe­sen. Im Archiv war sei­ne Rol­le die des inter­es­sier­ten Nach­fah­ren, des Soh­nes, Enkels und Uren­kels, der nun end­lich mehr erfah­ren woll­te über die Fami­li­en­ge­schich­te. Tat­säch­lich gab es dort zu den Koer­ners zahl­rei­che Akten :  »Das Find­buch habe ich mir kopie­ren las­sen und zu Hau­se per Wör­ter­buch ins Deut­sche über­setzt, obwohl ich kein Pol­nisch kann. Irgend­wie geht das.« Eini­ges wird frei­lich unklar blei­ben müs­sen, vor allem auch der Weg, den die Doku­men­te und Zeug­nis­se nach dem Zwei­ten Welt­krieg nah­men :  »Wie die Unter­la­gen schließ­lich ins Archiv kamen, weiß ich nicht. Aber es spricht ja für die Ver­ant­wort­li­chen, dass sie die­se Sachen auf­be­wahrt haben.«

Ganz zufäl­lig geschah das sicher nicht, denn zu den Vor­fah­ren von Andre­as Koer­ner gehö­ren wich­ti­ge Figu­ren der Thor­ner Geschich­te. Einer sei­ner Urgroß­vä­ter war Theo­dor Edu­ard Koer­ner, der ab 1842 für vie­le Jah­re als Bür­ger­meis­ter von Thorn amtier­te. Wäh­rend sei­ner Lauf­bahn erleb­te und gestal­te­te der Bür­ger­meis­ter einen Wan­del der städ­ti­schen Infra­struk­tur und Kul­tur, der im Kon­text einer tief­grei­fen­den Moder­ni­sie­rung der Pro­vinz West­preu­ßen stand. Hier­bei kam dem Bau einer Schie­nen­ver­bin­dung von Ber­lin nach Königs­berg, der »Ost­bahn«, eine zen­tra­le Bedeu­tung zu. (Über Koer­ners Fahrt zur Ein­wei­hung der Teil­stre­cke nach Brom­berg im Juli 1851 hat DW in der Aus­ga­be 10/2017 berich­tet.) Der Name die­ses Bür­ger­meis­ters ist auch im heu­ti­gen Toruń noch wohlbekannt.

Weni­ger beach­tet war dem­ge­gen­über für län­ge­re Zeit der Maler Ernst Koer­ner, der – aus einer ande­ren Linie der Fami­lie – eben­falls zu den Urgroß­vä­tern von Andre­as Koer­ner zählt. Er hat­te West­preu­ßen bereits früh ver­las­sen, um nach Ber­lin zu gehen, wo er ab 1861 bei ange­se­he­nen Künst­lern sein Hand­werk erlern­te. Koer­ners Haupt­the­ma war die Ori­ent­ma­le­rei, im Deut­schen Kai­ser­reich wur­de er bald zu einem renom­mier­ten Künst­ler, des­sen Wer­ke von ein­fluss­rei­chen Krei­sen geschätzt wur­den und auch auf Aus­stel­lun­gen im Aus­land zu sehen waren. Die Bio­gra­fie die­ses Vor­fah­ren, der 1927 starb, hat Andre­as Koer­ner umfas­send auf­ge­ar­bei­tet (für DW schrieb er über Ernst Koer­ner in der Aus­ga­be 7/2017). Vier klein­for­ma­ti­ge Bil­der des Urgroß­va­ters hän­gen heu­te in sei­nem Arbeits­zim­mer in Bor­beck. Im Jah­re 2003 hat er schließ­lich auch den Ort Koer­ners­fel­de (heu­te wie­der Czesła­wice) mit dem ehe­ma­li­gen Guts­hof der Fami­lie besucht, auf dem Ernst Koer­ner sich nach dem Ende des Ers­ten Welt­krie­ges und der Über­ga­be des Ortes an Polen wei­ter­hin ger­ne aufhielt.

Neben die­sen ver­gleichs­wei­se pro­mi­nen­ten Ver­wand­ten ste­hen natür­lich noch man­che ande­re, die sich einer ein­ge­hen­de­ren Beschäf­ti­gung ver­loh­nen. Ein sehr schö­nes, auch als his­to­ri­sches Zeug­nis bemer­kens­wer­tes Erin­ne­rungs­stück besitzt Andre­as Koer­ner von der Groß­mutter Hele­ne. Wie er selbst fer­tig­te sie gern Aqua­rel­le an, Pro­ben davon sind in einem Skiz­zen­buch erhal­ten. Das in Lei­nen gebun­de­ne Büch­lein fand sich nicht in einem Archiv, es war noch im Besitz von Mut­ter Anne­li­se, die es dem Sohn auf Nach­fra­ge irgend­wann her­aus­such­te und über­ließ. »Etwas ram­po­niert« sei das Erin­ne­rungs­stück schon, sagt Andre­as Koer­ner, die Mut­ter sei nach ihrer Aus­rei­se in wech­seln­den Flücht­lings­la­gern rund um Stral­sund unter­ge­bracht gewe­sen, das Skiz­zen­buch immer im Gepäck. Die Arbei­ten der Groß­mutter aber, das las­se sich noch immer erken­nen, sei­en »per­fekt gemalt«. Die Qua­li­tät der klei­nen Stu­di­en ist wirk­lich erstaun­lich. Es sind vor allem Land­schafts­an­sich­ten, die wäh­rend zwei­er gemein­sam mit ihrem Mann unter­nom­me­ner Italien-Reisen ent­stan­den sind. Das Ehe­paar war 1896 an den Comer und den Gar­da­see gereist, im Jahr dar­auf besuch­ten Hele­ne und ihr Mann die Gegend um den Lago Mag­gio­re. Auf den Rück­sei­ten der Kar­tons mit den gekonn­ten und aus­drucks­star­ken Aqua­rel­len fin­den sich, wie als Kon­trast, kra­ke­li­ge Kin­der­zeich­nun­gen. Andre­as Koer­ner mut­maßt, dass es sich um Spu­ren eines ande­ren Enkels han­delt :  Mit gro­ßer Wahr­schein­lich­keit sei es sein Bru­der Kon­rad gewe­sen, der sich hier ver­ewigt habe, weil sich für ihn kein ande­res Mal­pa­pier fand. Der Bru­der, bekannt als E. F. K. Koer­ner, ging nach dem Stu­di­um nach Kana­da, er wur­de ein inter­na­tio­nal ein­fluss­rei­cher Lin­gu­ist, der sich vor allem mit der Geschich­te der Sprach­wis­sen­schaft befasst und in der Rei­he sei­ner vie­len Ehren­dok­tor­ti­tel seit 2016 auch den­je­ni­gen der Nikolaus-Kopernikus-Universität Thorn führt. (Aber das ist eine ande­re Geschich­te, der DW spä­ter ein­mal einen Arti­kel wid­men möchte.)

Sei­ne viel­fäl­ti­gen Inter­es­sen und Akti­vi­tä­ten zwi­schen Bor­beck und Thorn, der Male­rei, der Lokal- und Fami­li­en­ge­schich­te sieht Andre­as Koer­ner alle an einem Punkt zusam­men­lau­fen :  »Ich arbei­te gegen das Ver­schwin­den«, sagt er. Es ist eine Auf­ga­be, die man sich grö­ßer kaum vor­stel­len kann. Dem­entspre­chend kom­me man damit auch nie an ein Ende :  »Wenn einer ein biss­chen forscht, dann forscht er auch wei­ter. Man muss Bau­stei­ne fin­den und dar­aus etwas Zusam­men­hän­gen­des machen. Wenn man nur etwas erzählt, rauscht es ein­fach vorbei.«