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Zwischen Geschichts-und Tagespolitik

Michael Wolffsohn befasst sich in seinem neuen Buch mit aktuellen Fragen deutscher Erinnerungskultur

Er rede nicht ger­ne „um den hei­ßen Brei her­um“, bekennt Micha­el Wolff­sohn in der Ein­lei­tung sei­nes neu­en Buchs, das unter dem pro­gram­ma­ti­schen Titel Tache­les erschie­nen ist. Um die­se Nei­gung weiß frei­lich, wer den lang­jäh­ri­gen Pro­fes­sor für Neue­re Geschich­te an der Uni­ver­si­tät der Bun­des­wehr in Mün­chen – nicht zuletzt aus sei­nen zahl­rei­chen Wort­mel­dun­gen in Zei­tung, Funk und Fern­se­hen – kennt. Meh­re­re Arti­kel und (teils bis­her unver­öf­fent­lich­te) Vor­trä­ge, die sich alle­samt dem „Kampf um Fak­ten in Geschich­te und Poli­tik“ wid­men, bil­den die Grund­la­ge der nun erschie­ne­nen Mono­gra­fie. Dort schlägt Wolff­sohn, dem das Zen­trum gegen Ver­trei­bun­gen 2018 sei­nen Franz-Werfel-Menschenrechtspreis ver­lieh, immer wie­der die Brü­cke zwi­schen Fra­gen der deut­schen Erin­ne­rungs­kul­tur und sol­chen heu­ti­ger Tages­po­li­tik. Neben anre­gen­den wie tief­ge­hen­den Über­le­gun­gen zum Juden­tum und christlich-jüdischen (bzw. deutsch-israelischen) Bezie­hun­gen sind dabei vor allem Wolff­sohns Per­spek­ti­ven auf Preu­ßen, die bun­des­deut­sche „Geschicht­s­politik“ (übri­gens eine wolff­sohn­sche Begriffs­schöp­fung) sowie das Ver­hält­nis der Bun­des­wehr zum mili­tär­his­to­ri­schen Erbe Deutsch­lands von Interesse.

Preu­ßen nähert sich Wolff­sohn in dop­pel­ter Wei­se an :  zunächst mit­tels eines Par­force­ritts durch „(fast) 1000 Jah­re Hohen­zol­lern“ und sodann durch ein facet­ten­rei­ches Per­sön­lich­keits­bild Fried­richs II. ;  gemein­sam ist bei­den Tex­ten, dass der Autor einen klu­gen und begrün­de­ten Mit­tel­weg zwi­schen „Hohenzollern-Dämonologie“, wie er sie im bun­des­deut­schen Dis­kurs iden­ti­fi­ziert und kri­ti­siert, einer­seits und Ver­klä­rung ande­rer­seits wählt. Das zeigt etwa sein Blick auf Preu­ßen als mul­ti­eth­ni­schen und mul­ti­kon­fes­sio­nel­len Staat. Auf der einen Sei­te kann Wolff­sohn die Bedeu­tung der inne­ren Viel­falt für die Her­aus­bil­dung spe­zi­fi­scher preu­ßi­scher Staat­lich­keit wür­di­gen: „Der Staat, sei­ne Admi­nis­tra­ti­on und Bür­ger­schaft, war die Klam­mer, nicht die Nati­on und nicht die Kon­fes­si­on. Pro­blem­los konn­te die­ses Staats­kon­zept auf nicht­deut­sche und nicht­pro­tes­tan­ti­sche Staats­bür­ger aus­ge­wei­tet wer­den.“ Auf der ande­ren Sei­te benennt Wolff­sohn glei­cher­ma­ßen klar die Ambi­va­len­zen der Mon­ar­chen, die eben­die­sen Staat präg­ten, – so etwa die Erobe­rungs­lust des jun­gen Fried­rich II. sowie des­sen (auch beim „alten Fritz“ tief­sit­zen­den) Antisemitismus.

Auf­grund sei­ner dif­fe­ren­zier­ten Per­spek­ti­ve auf Preu­ßen­tum und Fri­de­ri­zia­nis­mus gelingt es Wolff­sohn, die Tra­di­tio­nen preu­ßi­scher Staat­lich­keit – ins­be­son­de­re in der Bin­dung des poli­ti­schen Han­delns an die Ver­ant­wor­tung für das Gemein­wohl – als eine Wur­zel politisch-gesellschaftlicher Iden­ti­tät für die heu­ti­ge Bun­des­re­pu­blik frucht­bar zu machen. Glei­ches gelingt ihm mit Blick auf die Not­wen­dig­keit der Trau­er über die Toten des Zwei­ten Welt­krie­ges und des Holo­caust. Sie beschränkt sich für ihn aller­dings nicht nur auf (Mit-) Gefühl, son­dern dient als Basis für  eine ­ver­ant­wort­li­che Gestal­tung der Gegen­wart. Die­se wie­der­um führt den His­to­ri­ker frei­lich nicht zu einer (radikal-) pazi­fis­ti­schen Grund­hal­tung. Viel­mehr lei­tet er aus der Geschich­te Argu­men­te für die Wahr­neh­mung inter­na­tio­na­ler Schutz­ver­ant­wor­tung ab. Ambi­va­len­zen, die von Tei­len der Frie­dens­for­schung mit Blick auf ent­spre­chen­de Inter­ven­tio­nen – etwa in Bos­ni­en oder Ruan­da – vor­ge­bracht wer­den, fal­len für den Autor aller­dings nicht ins Gewicht.

Wolff­sohn erliegt frei­lich nicht der Ver­su­chung, Tra­di­ti­ons­be­stän­de deut­scher Iden­ti­tät ein­sei­tig nor­ma­tiv zu bestim­men. Viel­mehr rekur­riert er immer wie­der auf die Ana­ly­se gesell­schaft­li­cher Men­ta­li­tä­ten sowie die gro­ßen Lini­en geschichts­po­li­ti­scher Dis­kur­se und belegt die tages­po­li­ti­schen Kon­se­quen­zen der von ihm iden­ti­fi­zier­ten Mus­ter. Ein wich­ti­ges Instru­ment ist in die­sem Zusam­men­hang die gemein­sam mit sei­nem Kol­le­gen Tho­mas Bre­chen­ma­cher ent­wi­ckel­te Metho­de der „his­to­ri­schen Demo­sko­pie“, mit­tels derer es ihm gelingt, aus­ge­hend von Namens­sta­tis­ti­ken Rück­schlüs­se auf politisch-mentale Trends in der deut­schen Gesell­schaft, und zwar gera­de auch vor Beginn pro­fes­sio­nel­ler Mei­nungs­for­schung, zu bestim­men. So geben die Vor­na­men Ant­wor­ten auf Fra­gen wie: „Ori­en­tie­ren sich ‚die‘ Deut­schen – sprich ihre Mehr­heit oder wie vie­le antei­lig ?  – an der jewei­li­gen Obrig­keit ?  An der Tra­di­ti­on ?  Der Reli­gi­on ?  Dem Deutsch­tum, was immer es sein soll­te ?  Am Aus­land ?  An wel­chem Ausland ? “

Die­ser Ansatz för­dert span­nen­de Ein­sich­ten zuta­ge – etwa über die Hal­tung zum Natio­nal­so­zia­lis­mus und sei­nen Funk­ti­ons­eli­ten :  „Anders als die Legen­de besagt, war nicht 1968 der Wen­de­punkt zur frei­wil­li­gen Auf­ar­bei­tung des Natio­nal­so­zia­lis­mus, son­dern die Wen­de von Sta­lin­grad.“ Eini­ge Beob­ach­tun­gen und Schluss­fol­ge­run­gen blei­ben jedoch auch an der Ober­flä­che, etwa wenn Wolff­sohn pau­schal fest­stellt, die feh­len­de (namens­ge­be­ri­sche) Welt­of­fen­heit in der DDR – vor allem mit Blick auf hebräisch-jüdische Namen – „erklärt so man­ches in der Gegen­wart“. Die­se – zumal aus west­li­cher Per­spek­ti­ve vor­ge­tra­ge­ne – Kri­tik wäre womög­lich über­zeu­gen­der, wür­de sie expli­zi­ter die spe­zi­fi­schen poli­ti­schen Rah­men­be­din­gun­gen der SED-Diktatur berücksichtigen.

Höchst inter­es­sant hin­ge­gen ist Wolff­sohns Beur­tei­lung der bun­des­deut­schen Auf­ar­bei­tung des Natio­nal­so­zia­lis­mus. Das betrifft zum einen – und dies natür­lich beson­ders – die Kapi­tel, in denen er sich mit der mili­tä­ri­schen Tra­di­ti­ons­pfle­ge Deutsch­lands befasst. Immer wie­der akzen­tu­iert er hier, aber auch an ande­ren Stel­len im Buch :  „Das Wun­der der Bun­des­re­pu­blik und auch der Bun­des­wehr besteht doch gera­de dar­in, dass einst belas­te­te Per­so­nen (es gab frei­lich auch Unbe­las­te­te, aber das war nicht die Mehr­heit) das Neue am neu­en, wirk­lich demo­kra­ti­schen und mensch­li­chen Deutsch­land mit­auf­ge­baut und spä­ter viel­leicht sogar ver­in­ner­licht haben.“

Zum ande­ren ver­deut­licht Wolff­sohn, ins­be­son­de­re am Bei­spiel der Dresd­ner Bank, in wel­chem Maße ein­zel­ne Akteu­re – gera­de aus der Pri­vat­wirt­schaft – in den letz­ten Jahr­zehn­ten die Erfor­schung und öffent­li­che The­ma­ti­sie­rung der NS-Vergangenheit ihrer Insti­tu­tio­nen und Kör­per­schaf­ten weni­ger aus mora­li­scher Über­zeu­gung oder Ein­sicht als viel­mehr aus Kal­kül mit Blick auf Image- und infol­ge­des­sen Geschäfts­för­de­rung betrei­ben. Die­se Beob­ach­tung macht sei­ne deut­li­che Kri­tik an der gegen­wär­ti­gen – sich auf der NS-Aufarbeitung grün­den­den – mora­li­schen Geltungs- und Beleh­rungs­sucht der Bun­des­re­pu­blik auf dem inter­na­tio­na­len Par­kett umso bedenkenswerter.

Die­se Pro­ble­ma­tik betrifft ins­be­son­de­re das ambi­va­len­te Ver­hält­nis zu Isra­el, dem deut­sche Poli­ti­ker von Brandt bis Schrö­der (und dar­über hin­aus) oft genug ihre Unter­stüt­zung ver­sagt, min­des­tens aber skep­tisch gegen­über­ge­stan­den hät­ten. Span­nend ist dabei beson­ders Wolff­sohns Ana­ly­se der Kor­re­la­ti­on zwi­schen Geschichts- und Tages­po­li­tik im Fal­le des Holocaust-Gedenkens und der Nah­ost­po­li­tik – seit Brandts Knie­fall in War­schau :  „Je hef­ti­ger die tages­po­li­ti­schen Kon­tro­ver­sen mit Isra­el, des­to makel­lo­ser muss­te die normativ-geschichtspolitische Wes­te gegen­über dem jüdi­schen Staat und ganz all­ge­mein vor der jüdi­schen Welt, nicht zuletzt der amerikanisch-jüdischen, sein.“ Bereits an frü­he­rer Stel­le fragt Wolff­sohn :  „Geschichts­po­li­tik als Abso­lu­ti­on für Tages­po­li­tik ? “ Die­ser pro­vo­kan­te Gedan­ke lie­ße sich – um die­se plau­si­blen Über­le­gun­gen ein­mal fort­zu­spin­nen – womög­lich auch auf das immer wie­der ober­leh­rer­haf­te Ver­hal­ten deut­scher Poli­ti­ker gegen­über den Visegrád-Staaten übertragen.

Phil­ip D. Hof­mann und Til­man A. Fischer