
Berlin, an einem spätsommerlichen Septembertag auf der Freifläche zwischen Rotem Rathaus und der Marienkirche: Kinder tollen um einen imposanten Brunnen herum, juchzen angesichts der Wasserspiele, entdecken die wilden, fratzenhaften See-Zentauren, sodann zwischen Getier und Tang zehn muntere, sich tummelnde Knaben – und über allem waltet der mächtige Meeresgott Neptun.
Diesseits des großartigen, das Zentrum beherrschenden Spektakels mit der mächtigen Wirkung eines Gemäldes von Arnold Böcklin strahlt die hier gezeigte weibliche Bronzefigur, die, von zart schillerndem Sprühregen benetzt, scheinbar selbstvergessen dem Betrachter ihren Rücken zuwendet, höchste Grandezza und Ruhe aus. Sie stellt als »Weichsel« neben »Rhein«, »Elbe« und »Oder« eine von vier Allegorien der großen deutschen Ströme dar. Der Schöpfer dieses Meisterwerkes, Reinhold Begas, der berühmte Berliner Bildhauer der Kaiserzeit, hat ihnen in den Einbuchtungen des umfangreichen, der Form des Vierpasses folgenden Beckenrandes aus Granit jeweils einen wirkungsvollen Ort zugewiesen.
Der kurze unbehauene Baumstamm, über den sich die Figur der Weichsel leicht beugt, soll an die Wälder im Osten, den Holztransport und den damit verbundenen profitablen Handel erinnern. Weitere Holzstücke, die früher dekorativ auf den Wölbungen des Brunnenrandes drapiert waren, sind möglicherweise nach dem Krieg, den der Brunnen unbeschadet überstanden hatte, von Buntmetalldieben entwendet oder während der anschließenden unsachgemäßen Lagerung auf der Museumsinsel verlorengegangen.
Seit 1969 hat der Neptunbrunnen an der Stelle nahe dem »Alex« seinen beliebten Platz. Allerdings hat die Tatsache, dass dieses Kunstwerk 1891 als Huldigungsgeschenk der Stadt Berlin an Kaiser Wilhelm II. vor der Südfront des Stadtschlosses eingeweiht worden war, mittlerweile eine rege geschichtspolitische Diskussion darüber entfacht, ob der Brunnen nach dem Wiedererstehen der Residenz nun nicht unbedingt dorthin zurückkehren sollte; – wahrscheinlich werden die Flussnymphen aber noch bis auf Weiteres an diesem weniger majestätischen Ort verweilen müssen.
Text und Foto: Ursula Enke