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Zum guten Schluss

»Ecce homo« – »Siehe, der Mensch«. Wie dieser Ausruf des Pontius Pilatus im Deutschen genau wieder­zu­geben ist, wissen wir nicht, denn er lässt vielfältige Nuancie­rungen zu: Meint er Jesus vornehmlich als Inbegriff »des« Menschen schlechthin, oder bezieht er sich eher auf »diesen« Menschen, die konkrete indivi­duelle Person. Die zweite Alter­native legte es nahe, das Hier und Jetzt noch deutlicher hervor­zu­heben – »Siehe, hier ist er« – oder auch die Hinwendung zu den Angespro­chenen zu akzen­tu­ieren: »Seht ihn an, diesen Menschen«. Im Unter­schied zur Sprache, die uns eindeutige Entschei­dungen abver­langt, hat ein bildender Künstler die Möglichkeit, gerade diese Ambivalenz auszu­drücken. Das vermag die auf dem Foto gezeigte Szene zu veran­schau­lichen, die sich auf dem Balkon des »Palastes von Pontius Pilatus« abspielt, genauer: in der oberen Etage der Kapelle, die die erste Station des Kalva­ri­en­berges von Wielle (Wiele) in der südlichen Kaschubei bildet. Der Bildhauer Wojciech Durek, der die Figuren­gruppe 1922 schuf, lässt Christus gleicher­maßen als leidende, gequälte Kreatur wie als abgeklärte, der Wirklichkeit enthobene Gestalt erscheinen; und die Haltung des Pontius Pilatus verdeut­licht einer­seits die Geste des dezidierten Hinweisens auf »den« und »diesen« erbar­mungs­wü­digen Menschen, ander­seits aber auch seine wachsende Unsicherheit, die daraus resul­tiert, dass sich trotz seiner beharr­lichen Nachfragen die offen­sicht­liche Unschuld des Gefan­genen nicht vermitteln lässt. Besonders spannungsvoll wirkt diese mehrschi­chige Gestaltung, weil die Gläubigen hier in das Geschehen mit einbe­zogen werden. Die Hohen­priester waren, wie der Evangelist Johannes (18, 28) berichtet, nicht mit in das Prätorium gegangen, um nicht unrein zu werden. Deshalb muss sich die Szene notwen­diger Weise im Freien vollziehen. Die Teilnehmer der Prozession werden somit zugleich auch zu Adres­saten des römischen Statt­halters. Sein eindring­licher Appell – »Seht ihn euch doch an, diesen elenden Menschen« – ist ebenso an sie wie an die schreiende, verblendete Menge der bibli­schen Geschichte gerichtet – und lädt sie ein, über den schwer erträg­lichen Wider­spruch zwischen dem freien Willen der handelnden Menschen und dem längst obwal­tenden Plan der göttlichen Vorsehung zu reflek­tieren. Von hier aus wird der Kreuzweg nun seinem eigenen, unerbitt­lichen Gesetz folgen. Die hohe, suggestive Einbe­ziehung der Betrachter wird schließlich noch verstärkt, sobald sie die Kapelle selbst betreten, denn dort erwarten sie weitere, ebenfalls von Wojciech Durek geschaffene Figuren, darunter ein Soldat mit einer Schrift­rolle, auf der das soeben gefällte Urteil »Reus est mortis« (Er ist des Todes schuldig) vermerkt ist, sowie ein Junge mit Schüssel, Kanne und Handtuch – als würde Pilatus jeden Moment vom Balkon herab­kommen, um sich seine Hände »in Unschuld« zu waschen. 

Text: Joanna Szkolnicka/DW
Foto: Tilman Asmus Fischer