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Zum guten Schluss

In einer Ausgabe des Westpreußen, die sich mit dem »Welterbe« im unteren Weich­selland beschäftigt, darf die Dirschauer Brücke nicht gänzlich übergangen werden. Nominell gehört sie nicht zu dieser Kategorie, hat dank dem ameri­ka­ni­schen Ingenieur­verband 2004 aber immerhin die Aufnahme in die inter­na­tionale Liste der Ingenieur-Baudenkmäler erreicht. Diese Klassi­fi­kation akzen­tuiert die große Bedeutung, die der Dirschauer Brücke innerhalb der techni­schen Entwick­lungen um die Mitte des 19. Jahrhun­derts zukommt. Beim Bau der Ostbahn stellte sich das Problem, neben anderen größeren Flüssen auch die mächtige Weichsel zu überbrücken. Diese Aufgabe wurde von Carl Lentze gelöst, der nicht nur als Baumeister wirkte, sondern auch die nun notwendig gewor­denen Strom- und Deich­re­gu­lie­rungen leitete. Am 18. Oktober 1857 wurde die neue Gitter­kas­ten­brücke mit einer Länge von 837 Metern dem Eisen­bahn­verkehr übergeben – sie war die erste weitge­spannte eiserne Balken­brücke des europäi­schen Festlandes und galt folglich mit Recht als Pionier­leistung. Interesse erweckt dieses Bauwerk aber sicherlich nicht nur als Zeugnis einer fortschritt­lichen Ingenieurs­tä­tigkeit. Bei Betrachtung des Fotos könnte sich sogar ein gegen­läu­figer Eindruck einstellen :  Im Vergleich mit den dynamisch schwin­genden Bögen der im Hinter­grund auftau­chenden Eisen­bahn­brücke (deren Vorgän­gerin an dieser Stelle bereits 1891 errichtet wurde) erscheint die frühere Konstruktion eigen­tümlich schwer und lastend. Mit ihren zinnen­be­wehrten Türmen wirkt sie geradezu wie aus der Zeit gefallen. Diese Wirkung resul­tiert aus Vorstel­lungen, die in der Bauphase selbst­ver­ständlich waren, schon einige Jahrzehnte später aber obsolet wurden. Das technisch Innovative sollte zugleich als ein Werk der Kunst erscheinen. Diesen Part übernahm kein gerin­gerer als der Schinkel-Schüler Friedrich August Stüler, der die Türme und reich geschmückten Portale im reprä­sen­ta­tiven Stil seiner Zeit gestaltete – und damit eine Reihe kultu­reller Assozia­tionen hervorrief. Zum einen wurde die Beherr­schung der Natur, der mühsam errungene Sieg über den gefähr­lichen Strom, sinnfällig gemacht; zum anderen hob der aufwändige Dekor den gelun­genen Brücken­schlag nach Osten, die verkehrs­tech­nische Anbindung der entle­genen Provinzen an das Zentrum Berlin sowie die dadurch möglich gewordene wirtschaft­liche Entwicklung dieser Regionen hervor ;  zum dritten sind Brücken­türme und Portale Zeichen einer Herrschaft, der es frei steht, Zugänge zu eröffnen – oder auch zu verwehren. Angesichts dieser seman­ti­schen »Besetzung« könnte gerade in der spannungs­vollen Verknüpfung eines technisch einstmals fortschritt­lichen Bauwerks mit einem in die Ferne gerückten ästhe­ti­schen Programm die Faszi­nation der Dirschauer Brücke begründet liegen. Dass sie zudem Jahrzehnte nach ihrer Fertig­stellung für einige Zeit von polni­schem Staats­gebiet zur Freien Stadt Danzig führte und 1939 sowie 1945 aus strate­gi­schem Kalkül zerstört wurde, macht sie schließlich erst recht zu einem zentralen Monument der westpreu­ßi­schen Geschichte. 

Text: Erik Fischer
Foto: Tilman Asmus Fischer