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Wie stellt man einen Fluss aus?

Das Weichsel-Museum in Dirschau

Bekanntlich hat der Sejm 2017 zum »Jahr der Weichsel« erklärt. Diesem Anlass werden in den nächsten Monaten einige Artikel in dieser Zeitung gewidmet werden. Den Anfang macht heute ein Besuch des Dirschauer Weichsel-Museums (Muzeum Wisły), das sich die gewiss reizvolle, aber keineswegs einfach zu lösende Aufgabe stellt, die Weichsel selbst in einer Ausstellung zu präsentieren.

Warum Dirschau ? 

Nach einer Vorbe­rei­tungszeit von vier Jahren ist das Museum 1984 eröffnet worden. Überle­gungen, ein solches Institut zu gründen, waren aber schon 30 Jahre zuvor, auf einer gesamt­pol­ni­schen Museums­tagung in Stettin, angestellt worden. Daraufhin hatten sich mehrere Städte, darunter Sando­mierz, Kazimierz Dolny, Hohenburg an der Weichsel, Thorn, Mewe und Leslau, um den Sitz des neuen Museums beworben. Die Wahl fiel letztlich aber auf Dirschau. Dazu hatten die günstige Lage mit den vorzüg-lichen Verkehrs­an­bin­dungen und die Nähe zu Danzig beigetragen, zumal das Haus auch als eine der Nieder­las­sungen des Danziger Maritimen Museums errichtet werden sollte. Zudem legte die große histo­rische Bedeutung der Stadt für den gesamten Kontext der Weich­sel­schiff­fahrt diese Entscheidung nahe : Angesichts der steigenden wirtschaft­lichen Bedeutung des Flusses hatte bereits Mitte des 13. Jahrhun­derts Herzog Sambor II. seine Residenz von Liebschau nach Dirschau verlegt. Bald wurde an diesem Ort eine Zollkammer einge­richtet (was im unteren Weich­sel­verlauf eine Seltenheit blieb). Vom 15. bis zum 18. Jahrhundert bildete die Weich­sel­flö­ßerei einen eminent wichtigen Teil der städti­schen Ökonomie. Mitte des 19. Jahrhun­derts entstand zudem die bis heute berühmte Weich­sel­brücke (mit der sich auf der Schluss­seite dieser Zeitung ein eigener kleiner Beitrag befasst). Auch die Zweite Polnische Republik knüpfte an diese Tradition an, denn 1926 wurde hier in der Anwesenheit des Handels­mi­nisters Eugeniusz Kwiat­kowski feierlich ein Binnen­hafen eröffnet, der von seetaug­lichen Schiffen angelaufen werden konnte. Im selben Jahr entstand die Aktien­ge­sell­schaft Żegluga Wisła-Bałtyk, die der wirtschaft­lichen Entwicklung und Nutzung der Ausfuhr von Kohle vom Dirschauer Hafen nach Skandi­navien diente.

Das Gebäude und seine Geschichte

Das Museum hat seinen Sitz im Gebäude der ehema­ligen, Ende des 19. Jahrhun­derts von Emil Kelch gegrün­deten Metall­wa­ren­fabrik. Nachdem Dirschau aufgrund des Versailler Vertrags von 1919 im folgenden Jahre zu ­einer polni­schen Stadt geworden war, wurde die Fabrik von der Aktien­ge­sell­schaft Arkona erworben ;  das Unter­neh­mens­profil blieb aber unver­ändert, und die Fabrik florierte insbe­sondere in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhun­derts und beschäf­tigte zu dieser Zeit etwa 300 Arbeiter. Zur Geschichte des Gebäudes gehört aller­dings auch, dass die Natio­nal­so­zia­listen dort 1939 ein Übergangs­lager für polnische Bewohner des Dirschauer Kreises errich­teten und bis 1942 betrieben. Ihrer Häuser und ihres Vermögens beraubt, wurden die Menschen von hier aus in das Lager in Mewe überstellt und danach in das General­gou­ver­nement für die besetzten polni­schen Gebiete oder zur Zwangs­arbeit ins Reich deportiert.

Der 2000 verstorbene Regio­nal­for­scher und Gründer des Weich­sel­mu­seums, Roman Klim, vertrat die Ansicht, dass die Indus­trie­ar­chi­tektur aus dem 19. Jahrhundert ausge­zeichnet mit dem »Groben« bzw. »Rohen« der nauti­schen Gegen­stände korre­spon­diere, die dort gesammelt und gezeigt würden. Diese Einschätzung lässt sich auch heute immer noch nachvoll­ziehen, wenngleich die Ausstel­lungs­kon­zeption, anders als in der Zeit der Volks­re­publik Polen, mittler­weile nicht mehr das »Rohe« und Mühevolle der Schiffer, Flößer oder Hafen­ar­beiter akzen­tuiert. Dank Zuschüssen vom Europäi­schen Fonds für Regionale Entwicklung wurde 2006 auch das Gebäude selbst renoviert, so dass die inzwi­schen überar­beitete Dauer­aus­stellung ein Jahr später gleich in einem anspre­chend neuge­stal­teten Haus wieder­eröffnet werden konnte.

Klonowic’ »Flis« und die Ausstellung

Die Besucher haben zunächst die Gelegenheit, sich in die frühe Siedlungs­ge­schichte der Region sowie in das komplexe Ökosystem »Weichsel« einführen zu lassen. – Danach werden sie einge­laden, an einer Reise in die Vergan­genheit teilzu­nehmen, sich auf die Spuren von Sebastian Fabian Klonowic zu begeben, einem polni­schen Dichter (und Kompo­nisten), der zwischen 1545 und 1602 in der Übergangs­phase von der Renais­sance zur Epoche des Barock gelebt hat. Er hatte 1594 eine Weich­sel­reise von Warschau nach Danzig unter­nommen und beschrieb seine Erleb­nisse, Eindrücke und Erfah­rungen in einem Poem, das er 1595 unter dem Titel Flis [Flößer] veröf­fent­lichte. Dieses Buch, sein »Opus magnum«, bietet eine poetische Reise­be­schreibung voller nachdenk­licher, tiefsin­niger, aber auch humoris­ti­scher Passagen und Abschwei­fungen sowie auch einen Ratgeber für junge, noch unerfahrene Aspiranten des Flößer­berufs oder auch kaufmän­ni­scher Tätig­keiten. Da­rüber hinaus kann das Poem von Klonowic auch als Reise­führer durch die an der Weichsel gelegenen Städte gelesen oder ebenso gut als ein Handbuch genutzt werden :  sei es zur Bibel oder zur griechi­schen Mytho­logie und Literatur, sei es zur Geographie mit Infor­ma­tionen zu allen damals bekannten Meeren und Häfen. Nicht zuletzt legt Klon­owic uns nahe, die geschil­derte Reise als eine Metapher des mensch­lichen Lebens zu verstehen und bei der Lektüre auch über dessen Möglich­keiten und Gefähr­dungen zu reflektieren.

Dieser vielfältige und faszi­nie­rende Kosmos des »Poems« spannt den umfas­senden Rahmen für die gesamte Ausstellung auf. Geschmackvoll gestaltete Tafeln bieten einzelne Abschnitte des Textes, die jeweils um Überset­zungen vom Altpol­ni­schen ins Polnische sowie um Inter­pre­ta­tionen, Erläu­te­rungen und farbige Abbil­dungen ergänzt werden. Der poetische Text bindet als Flucht­punkt der unter­schied­lichen Lebens- und Wissens­be­reiche die Aufmerk­samkeit der Besucher, die, den einzelnen Themen­schwer­punkten folgend, einen inter­es­santen und lehrreichen Parcour absol­vieren. Sie erkunden die Topographie des unteren Weich­sel­landes im 16. Jahrhundert oder beschäf­tigen sich mit der wirtschaft­lichen Bedeutung von Danzig und anderen Städten sowie mit der ökono­mi­schen Struktur von Polen als einem »Speicher Europas«. Zugleich kann man auch die Innen­per­spektive des Autors einnehmen und erfährt dann, was Klonowic – wie sicherlich auch die Flößer und Kaufleute seiner Zeit – begeis­terte und was sie verär­gerte. So hebt er beispiels­weise lobend die Bewirt­schaftung des Weich­sel­werders durch »den tugend­haften Preußen« hervor und beschwert sich über unklug entworfene, schwer steuerbare Kähne, die seiner Meinung nach entweder von einem Dummkopf oder einem »Feind Polens« stammen müssten. Da Klonowic die schwere Arbeit der Flößer selbst kennen­ge­lernt hatte und diese Menschen mit ihrem niederen sozialen Status gleichsam geadelt hat, indem er sie als Sujet in die polnische Literatur einführte, vermag die Ausstellung auch Einblicke in das Alltags­leben dieses längst ausge­stor­benen Berufs zu gewähren, in die Bräuche und Sitten, in die Mundart, die Reise­ge­fahren oder auch die Ernährung. – Neben diesen Tafeln wird im Museum nur eine relativ sparsame Auswahl an Exponaten gezeigt :  einzelne archäo­lo­gische Artefakte aus der frühen Siedlungs­ge­schichte, histo­rische Kähne oder die Arbeits­geräte eines Schiff­bauers. Auch auf die »modernen«, in den heutigen Museen so beliebten Medien-Angebote (wenn nicht »Gadgets«, d. h. »Spiele­reien«) wird in Dirschau weitgehend verzichtet. Sie beschränken sich auf nur einzelne inter­aktive Tafeln. Gerade dieser Mangel erscheint aber durchaus positiv, weil solche techni­schen Angebote sonst leicht die atmosphä­rische Geschlos­senheit der frühba­rocken Dichtung und ihrer ganz eigenen Welt stören könnten.

Aus der Entscheidung, das Poem Flis zum Zentrum der gesamten Narration zu machen, hat sich somit eine insgesamt tragfähige Konzeption entwi­ckeln lassen, die der Ausstellung eine große Geschlos­senheit verleiht. Zugleich aber führt der strikte Rückbezug auf Klonowic zu einer für alle nicht-polnischen Inter­es­senten bedau­er­lichen Konse­quenz :  Eine Übersetzung der Infor­ma­ti­ons­tafeln in eine andere Sprache wäre nur sinnvoll, wenn auch das altpol­nische Poem in einer den spezi­fi­schen litera­ri­schen Quali­täten angemes­senen Übertragung vorläge. Diese Voraus­setzung ist bislang aber noch nicht erfüllt, so dass hier leider weiterhin eine erheb­liche Sprach­bar­riere besteht. Für auslän­dische Besucher dürfte ein Aufenthalt im Weich­sel­mu­seums also eher enttäu­schend sein – und diese geringe Inter­na­tio­na­lität spiegelt sich wohl auch darin wider, dass die Homepage des Museums weder in engli­scher noch in deutscher Sprache angeboten wird.

Joanna Szkolnicka