Ein Blick auf die Deutschen in der Republik Polen
Von Tilman Asmus Fischer
Von dem böhmischen Satiriker Karl Kraus stammt der pointierte Ausspruch: »Die Zeitungen haben zum Leben annähernd dasselbe Verhältnis wie die Kartenaufschlägerinnen zur Metaphysik.« Dies wird bestätigt finden, wer die bundesdeutsche Berichterstattung über die deutsche Volksgruppe in der Republik Polen verfolgt – wo die Heimatverbliebenen es überhaupt auf die Bildschirme und Zeitungsseiten schaffen. Insofern ist zunächst einmal überhaupt jeder Fernsehbericht und jeder Artikel erfreulich, der die Bürger der Bundesrepublik daran erinnert, dass jenseits von Oder und Neiße noch immer 300.000 Deutsche leben. Sodann erweist sich jedoch bisweilen als pointiert zutreffend, was Kraus über das Verhältnis von Wirklichkeit und Presse sagen will.
So, wie die Kartenlegerin meint durch die Karten die Zukunft lesen zu können, nimmt jeder Journalist die Wirklichkeit durch seine je eigene Brille wahr. Was dabei herauskommen kann, wenn eine Journalistin durch ihre bundesdeutsche Brille auf die Deutschen in Oberschlesien schaut, hat Julia Friese mit ihrem Artikel für die WELT über ein Heino-Konzert im August letzten Jahres im Amphietheater Oppeln anschaulich bewiesen (»Heino, du geliebtes Heimatklang«, 17. August 2015).
Sieht man einmal davon ab, dass das Bild entsteht, das kulturelle Bewusstsein der deutschen Volksgruppe erschöpfe sich in Schlager und Volksmusik, findet hier sich ein Kaleidoskop von impliziten Hinweisen auf Gebrechen und Chancen einer europäischen Volksgruppe. Um diese Aspekte jedoch in ihrer Tiefe und Gewichtigkeit zu durchdringen, mangelt es der Verfasserin an Empathie.
Bemerkenswert ist schon die Beobachtung zum Auftakt der Veranstaltung: »Die meisten Ältere, viele Weißhaarige, manche in Rollstühlen. All die, die bis gerade noch Polnisch sprachen, verstehen und applaudieren …« Deutlich wird das Doppelleben, das eine sprachliche und nationale Minderheit zwangsläufig führt. Es sichert kulturellen Reichtum für die Landschaft, in der sie lebt. Für sie selbst ist es Chance und Belastung. Was dies für die Betroffenen bedeutet, schimmert durch, als Friese über Heinos Popularität schreibt: Er sei »hier ein Superstar, unter den Verbliebenen, wie sie sich nennen, der deutschen Minderheit, den Schlesiern. Denn sie kennen Heino noch aus ihrer Kindheit. Sie haben ihn gehört, oder ihre Eltern. Und zwar illegal.«
Verbliebene, Minderheit, Schlesier – ja, die Identität der deutschen Volksgruppe ist facettenreich und komplex. Und historisch belastet – und Heino vielleicht gerade deshalb ein Symbol, weil er auch für die überwundene Unterdrückung kultureller Identität steht. Diese Einsicht scheint auch Friese artikulieren zu wollen, wo sie das oberflächliche Belächeln des Musikgeschmacks durchbricht – etwa im Gespräch mit Josef Bieneck: »Aber Deutsch sprechen war verboten, berichtet Bieneck. Wenn sie damals auch nur ein deutsches Wort in der Schule aussprachen, musten sie dafür 100 mal das Polnische aufschreiben. Dabei sei Deutsch doch seine Sprache, genau wie Tschechisch und Polnisch. […] Niemand habe sich bei ihm dafür entschuldigt.«
Welche Konsequenzen sind aus diesen essayistischen Beobachtungen zu ziehen? Die Förderung der Identitätsbindung der deutschen Volksgruppe? Damit einhergehend der Erhalt kultureller Vielfalt in Europa? Als Grundlage hierzu die Förderung der deutschen Muttersprache? Was Julia Friese bewegt, offenbart ihre Begegnung mit dem Vorsitzenden der SKGD (Sozial-Kulturelle Gesellschaft der Deutschen im Oppelner Schlesien) Rafal Bartek während des Konzerts: »Er sagt, das Ziel des Verbandes sei es, die Kultur und die Sprache zu erhalten. Denn die Alten, die noch Deutsch sprechen können, die sterben aus. Warum ist das denn schlimm?, will die deutsche Besucherin wissen. Ist es nicht gut, wenn das Alte vergeht und das Neue, ganz organisch, darüber wächst? Muß man immer erhalten und bewahren, was irgendwann, vor sehr vielen Jahren mal war?«
Gewiss muss nicht jeder Heino mögen – und vielleicht ist ein Heino-Konzert auch nicht die ideale Situation um tiefgreifende Einblicke in die deutsche Volksgruppe in der Republik Polen zu gewinnen. Und ebenso wie man über (Musik-)Geschmack streiten kann, kann man in Fragen der (Volksgruppen-)Politik unterschiedliche Ansätze verfechten. Die Konzepte für ein deutsches Bildungssystem reichen von bilingual ausgerichteten bis zum (weitestgehend) deutschsprachigen Unterricht, wie ihn die AGMO e.V. als Ideal fordert. Jedoch muss kritisch hinterfragt werden, wo eine solche Gleichgültigkeit wie bei Julia Friese hinführt, die es als begrüßenswert suggeriert, »wenn das Alte vergeht und das Neue, ganz organisch, darüber wächst« – angesichts der Gefährdung kultureller Minderheiten- bzw. Menschenrechte und angesichts des spezifischen Kriegsfolgenschicksals einer Gruppe wie den deutschen Heimatverbliebenen.