Vorspann

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AUF EIN WORT

Unter dieser Rubrik finden Vertreter von Verbänden, politi­schen Parteien oder anderen Organi­sa­tionen einen Ort, an dem sie sich in persön­lichem Ton und zu einem frei gewählten Thema an die Leser­schaft des Westpreußen wenden.

Die Wahljahre 2024 und 2025 – Herausforderungen für Vertriebene und Spätaussiedler

Von Walter Gauks

Das Wahljahr 2024 mit den Landtags­wahlen in den neuen Bundes­ländern war ein entschei­dendes Jahr für Deutschland – nicht nur politisch, sondern auch gesell­schaftlich. Ein wichtiger Bestandteil der deutschen Gesell­schaft sind die Deutschen aus Russland, die Spätaus­siedler und die Vertrie­benen. Trotz der langen Geschichte ihrer Integration – seit 1945 bzw. 1990 – und ihrer recht­lichen Gleich­stellung stehen diese Gruppen immer noch vor erheb­lichen Heraus­for­de­rungen: sowohl mit Blick auf ihre soziale Lage als auch die politische Situation in ihren Herkunfts­re­gionen. Beide gesell­schaft­lichen Gruppen – die Heimat­ver­trie­benen und Spätaus­siedler, jeweils Angehörige der Erleb­nis­ge­ne­ra­tionen und ihre Nachfahren – setzen sich seit jeher intensiv für Austausch und Verstän­digung mit den Völkern Ost- und Ostmit­tel­eu­ropas ein. Vor diesem Hinter­grund betrachten sie die politi­schen – und seit einigen Jahren leider auch gewalt­samen Entwick­lungen – ebendort mit vielfäl­tigen Fragen, Sorgen und Emotionen. 

Konkret im Fall der Deutschen aus Russland und anderer Spätaus­siedler pressieren daneben massive sozial­po­li­tische Missstände, die einer­seits ein gruppen­spe­zi­fi­sches Schicksal sind – in denen sich aber zugleich grund­sätz­liche Probleme der sozialen und eben auch sozio­öko­no­mi­schen Kohäsion unserer Gesell­schaft zeigen. Die mit beiden Problem­be­reichen zusam­men­hän­genden Fragen waren bereits bei den diesjäh­rigen Landtags­wahlen präsent und werden auch den 2025 bevor­ste­henden Bundes­tags­wahl­kampf und die hieran anknüp­fenden gesamt­ge­sell­schaft­lichen Debatten prägen.

Mit diesen Heraus­for­de­rungen darf ich seit vergan­genem Jahr in der neu geschaf­fenen Position einer Ansprech­person für Deutsche aus Russland, Spätaus­siedler und Vertriebene im Auftrag des Berliner Senats neue Erfah­rungen sammeln – und zugleich an eigene (familien-)biographische Erfah­rungen anknüpfen: Da ich 1996 als ältester Sohn einer Spätaus­sied­ler­fa­milie aus Kasachstan nach Deutschland kam, weiß ich um die Vielfalt und Komple­xität der Heraus­for­de­rungen, die uns tagtäglich begegnen.

Die schmerz­volle Geschichte der Flucht, Vertreibung und Depor­tation, an die sich noch lebende Zeitzeu­ginnen und Zeitzeugen erinnern und die sich in jeder Familie abgespielt hat, hat insbe­sondere viele Angehörige der Gruppe der Spätaus­siedler gelehrt, zurück­haltend zu sein und nicht aufzu­fallen. Angesichts der aktuellen Lage und des verhee­renden Angriffs­krieges Russlands gegen die Ukraine entstehen tiefe Risse innerhalb der Familien. Diese Risse laufen entlang von Fragen sowohl nach der persön­lichen Solida­ri­sierung mit unter­schied­lichen, teils konträren politi­schen Kräften in Ostmittel- und Osteuropa als auch nach der eigenen politi­schen Positio­nierung in der – einem massiven Wandel unter­wor­fenen – politi­schen Landschaft Deutsch­lands. Das Gefühl von Heimat und Sicherheit droht zu zerbrechen. Die Menschen entwi­ckeln starke Zukunfts­ängste und ziehen sich immer mehr zurück.

Bei uns in Berlin – aber ebenso im gesamten Bundes­gebiet – stehen wir vor folgenden dominie­renden Heraus­for­de­rungen: Angesichts der genannten Probleme, die aus den gesell­schafts­po­li­ti­schen Entwick­lungen in Deutschland sowie den geopo­li­ti­schen Entwick­lungen im Osten resul­tieren, bedarf es dringend neuer Konzepte der kultu­rellen und histo­ri­schen wie politi­schen Bildung; und in sozial­po­li­ti­scher Hinsicht tut gleich dreierlei Not: recht­liche und soziale Anerkennung, Gleich­stellung in den Bereichen Alters­armut und Arbeits­markt­in­te­gration sowie die Schaffung von Begeg­nungs­orten und sozialen Projekten. 

In Fragen der kultu­rellen, histo­ri­schen und politi­schen Bildung kann dabei an die Erfolgs­ge­schichte der verstän­di­gungs­po­li­ti­schen Maßnahmen und der Kultur­arbeit nach § 96 BVFG angeknüpft werden, die – gefördert von Bundes­in­nen­mi­nis­terium und Kultur­staats­mi­nis­terin – seit langem durch die Vertrie­be­nen­ver­bände sowie weitere, ihnen naheste­hende Akteure im Feld der grenz­über­schrei­tenden Zusam­men­arbeit geleistet werden. Die Kultur­re­ferate – wie dasjenige der Russland­deut­schen in Detmold –, die Ostdeut­schen Landes­museen, wie das Westpreu­ßische Landes­museum in Warendorf sowie das dichte Netz an Veran­stal­tungen und weiteren Angeboten bieten wichtige Bausteine für eine histo­rische und politische Bildung, die zu einem infor­mierten, kriti­schen und damit verant­wort­lichen Umgang mit Fragen der Gegenwart befähigt.

Besonders die Heraus­for­de­rungen im Bereich der Alters­armut und die damit einher­ge­hende soziale Isolation betreffen fast jede Familie der Deutschen aus Russland und Spätaus­siedler. Dies zeigt sich auch eindrucksvoll in der hohen Zahl von Anträgen an die 2022 geschaffene Stiftung des Bundes zur Abmil­derung von Härte­fällen aus der Ost-West-Rentenüberleitung für jüdische Kontin­gent­flücht­linge und Spätaus­siedler, sowie in der – leider – hohen Ableh­nungs­quote: Von den bis Mitte Juli 2024 einge­gan­genen 3.233 Anträgen wurden lediglich 14 % genehmigt, während 40 % eine Ablehnung erhielten. Die übrigen 46 % der Antrag­steller warteten zu diesem Zeitpunkt noch auf einen Bescheid.

Die Deutschen aus Russland, Spätaus­siedler und Vertriebene haben in den vergan­genen Jahrzehnten einen wichtigen Beitrag zur deutschen Gesell­schaft sowie zur Verstän­digung mit unseren ost- und ostmit­tel­eu­ro­päi­schen Nachbar­ländern geleistet. Doch trotz vieler Erfolge stehen sie auch im Jahr 2024 vor erheb­lichen sozialen und politi­schen Heraus­for­de­rungen. Von daher wird es im Wahljahr 2025 nicht zuletzt darum gehen, bereits Erreichtes – sowohl in den Bereichen der Verstän­di­gungs­po­litik und politi­schen Bildung als auch im Bereich der Sozial­po­litik – zu sichern und noch bestehende Missstände zu bewäl­tigen. Gemeinsam wollen wir dafür arbeiten, diese Probleme anzugehen und langfristige Lösungen zu finden.


Walter Gauks ist seit Dezember 2023 Ansprech­person des Berliner Senats für Deutsche aus Russland, Spätaus­siedler und Vertriebene. Zudem ist er stell­ver­tre­tender Bundes­vor­sit­zender der Lands­mann­schaft der Deutschen aus Russland.