Vorspann

Vorspann

AUF EIN WORT

Unter dieser Rubrik finden Vertreter von Verbänden, politi­schen Parteien oder anderen Organi­sa­tionen einen Ort, an dem sie sich in persön­lichem Ton und zu einem frei gewählten Thema an die Leser­schaft des Westpreußen wenden.

»Ich bin ein Fremder gewesen …«

Von Rüdiger Schuch

Ein Besuch im hessi­schen Treysa. Eine Gedenk­tafel erinnert daran, dass Kirchen­ver­treter hier im August 1945 die Evange­lische Kirche in Deutschland (EKD) gründeten. Sie taten dies auf den morali­schen Trümmern einer Kirche, die angesichts des furcht­baren NS-Terrors weitest­gehend versagt hatte. Trotz aller Zerris­senheit und wider­strei­tenden Positionen gelang ein Kompromiss. Auch wurde die Voraus­setzung für gemein­sames diako­ni­sches Handeln geschaffen, um auf die katastro­phale humanitäre Lage im kriegs­zer­störten Deutschland zu reagieren. In Treysa wurde im Sommer 1945 der Grund­stein für den Aufbau des Evange­li­schen Hilfs­werks und damit für die diako­nische Arbeit der EKD gelegt.

Die Not war 1945 groß. Ins Deutsche Reich verschleppte, ehemalige Zwangs­ar­bei­te­rinnen und Zwangs­ar­beiter, Kriegs­ge­fangene und KZ-Überlebende hielten sich nach Kriegsende fern ihrer Heimat in Deutschland auf. Insgesamt über 10 Millionen dieser Displaced Persons waren auf Hilfe angewiesen. Hinzu kamen rund 14 Millionen Flücht­linge und Vertriebene, die als Folge des von Deutschland ausge­gan­genen Krieges und der NS-Politik ihre Heimat in den preußi­schen Ostpro­vinzen und den Siedlungs­ge­bieten in Mittel‑, Südost- und Osteuropa verlassen mussten. 

 Im Mittel­punkt der Arbeit des Evange­li­schen Hilfs­werks standen die Grund­be­dürf­nisse geflüch­teter und entwur­zelter Menschen. Das Werk engagierte sich, um die Flücht­linge aus den Ostge­bieten zu integrieren, Hilfs­güter zu verteilen und Wohnraum zu beschaffen. Für die Reflexion von Holocaust, Krieg, Flucht und Vertreibung, für die Benennung der Ursachen und das Anerkenntnis von Schuld gab es wenig Bereit­schaft. Die im Oktober 1945 formu­lierte Stutt­garter Schuld­er­klärung bekannte eine Mitschuld der evange­li­schen Kirche an den NS-Verbrechen. Dieser Text – obwohl er aus heutiger Sicht unzurei­chend erscheint –, stieß damals auf heftigen Protest in Kirche und Gesell­schaft. Ignoriert wurde in der kirch­lichen Öffent­lichkeit zumeist, dass die Ursachen von Verschleppung, Flucht und Vertreibung eine Folge der NS-Expansionspolitik waren. Auch die belas­tenden Geschichten der Vertrie­benen, ihre tiefgrei­fenden, zum Teil trauma­ti­schen Erfah­rungen von Verlust, von Gewalt und von Ausgrenzung fanden unter diesen Bedin­gungen kaum ein offenes Ohr.

Eine breitere gesell­schaft­liche Ausein­an­der­setzung mit den histo­ri­schen Gescheh­nissen setzte erst zu Beginn des 21. Jahrhun­derts ein. Die Inter­pre­tation des 8. Mai 1945 als eines Tages der Befreiung, das Ende des Ost-West-Konflikts, die Wieder­ver­ei­nigung, die Ost-Erweiterung der EU – viele politische Entwick­lungen trugen dazu bei, das Thema Flucht und Vertreibung von natio­na­lis­ti­schen und revan­chis­ti­schen Unter­tönen zu befreien und der Gefahr der Relati­vierung des Mensch­heits­ver­bre­chens der Shoah zu begegnen. Auch das Interesse der zweiten und dritten Generation der Vertrie­benen an der eigenen (Familien-) Geschichte führte dazu, dass Zwangs­mi­gration öffentlich thema­ti­siert und ein Teil unserer kollek­tiven Erinnerung wurde. 

Es ist wichtig, diese Erinnerung in einen europäi­schen und globalen Kontext zu stellen und sie nicht national zu verengen; denn im 20. Jahrhundert und bis in die Gegenwart hinein teilen Millionen Menschen die Erfahrung von Flucht und Vertreibung. Ich meine, dass die Erinnerung an die histo­ri­schen Erfah­rungen wertvoll ist für unseren heutigen Umgang mit den Heraus­for­de­rungen, die globale Migra­ti­ons­be­we­gungen an uns stellen.

Das Thema Flucht und Migration bleibt für die Diakonie heute genauso hochre­levant wie vor 80 Jahren. Wir werden in unserem jahrzehn­te­langen Engagement für Geflüchtete nicht nachlassen. Wir sind als Chris­tinnen und Christen der bibli­schen Botschaft verpflichtet, Gottes Liebe gerade für die Menschen erfahrbar zu machen, die Hilfe und Unter­stützung brauchen, und die verletz­liche Würde dieser Menschen zu schützen.

Die Integration Millionen Geflüch­teter gelang in den Nachkriegs­jahren nicht von allein. Integration braucht auch heute finan­zielle Mittel und eine lösungs- und sachori­en­tierte Politik. Aktuell verhindern der Mangel an Wohnraum und ineffi­ziente Struk­turen, wie langwierige Verfahren bei Aufenthalts- und Arbeits­er­laub­nissen oder der Anerkennung von Quali­fi­ka­tionen, dass Menschen sich schnell und gut integrieren. Es braucht Deutsch­kurse, Migra­ti­ons­be­ratung, Kita- und Schul­plätze, Wohnungen und auch psycho-soziale Angebote, um trauma­tische Erfah­rungen zu verar­beiten. Inves­ti­tionen in gelin­gende Integration sind politisch vernünftig. Gut integrierte Menschen stärken unseren Arbeits­markt und unsere Wirtschafts­leistung und stabi­li­sieren unsere sozialen Siche­rungs­systeme. Dies dürfen wir bei aller berech­tigten Klage über die Überfor­derung vor Ort nicht vergessen. Vor allem die Kommunen müssen finan­ziell so ausge­stattet werden, dass sie diese wichtige Arbeit schaffen können.

Was sich weder mit politi­scher Vernunft noch mit einer christ­lichen Haltung verträgt, ist der Versuch, das Thema Migration ideolo­gisch und natio­na­lis­tisch aufzu­laden und populis­tisch für antieu­ro­päische und antide­mo­kra­tische Ziele zu instru­men­ta­li­sieren, Ressen­ti­ments zu schüren und das gesell­schaft­liche Klima mit Hass und Hetze zu vergiften. Dagegen tritt die Diakonie entschieden ein.

»Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufge­nommen« (Mt 25, 35). Dieses Jesus-Wort weist uns darauf hin, dass Flucht und Fremd-Sein jahrhun­der­tealte Mensch­heits­er­fah­rungen sind. Die konkrete histo­rische Erfahrung von Flucht und Vertreibung aus den deutschen Ostge­bieten ist nach einer Phase der Verdrängung und Ignoranz heute in unserer kollek­tiven Erinnerung verankert. Das ist gut so. Wir wollen diese Erinnerung positiv nutzen, um daraus für die Gestaltung unseres Zusam­men­lebens in einer offenen und vielfäl­tigen Gesell­schaft zu lernen. Wir werden diese Erfah­rungen benennen, wenn wir im Sommer 2025 an den 80. Jahrestag der Gründung des Evange­li­schen Hilfs­werks erinnern.


Rüdiger Schuch ist seit 2024 Präsident der Diakonie Deutschland und Vorstands­vor­sit­zender des Evange­li­schen Werks für Diakonie und Entwicklung e. V. ;  zuvor war der Theologe und ordinierte Pfarrer Beauf­tragter der Ev. Kirchen bei Landtag und Landes­re­gierung von Nordrhein-Westfalen sowie von 2014 bis 2019 Vorstands­vor­sit­zender der Ev. Perthes-Stiftung e. V. in Münster. Im Rahmen des europäi­schen Netzwerks der Diakonie pflegt er sehr gute Bezie­hungen u. a. zur Diakonie Polen.