AUF EIN WORT
Unter dieser Rubrik finden Vertreter von Verbänden, politischen Parteien oder anderen Organisationen einen Ort, an dem sie sich in persönlichem Ton und zu einem frei gewählten Thema an die Leserschaft des Westpreußen wenden.
Sind wir uns unserer Welt so sicher?
Von Militärgeneraldekan Thorsten Kirschner
Er aber, der Herr des Friedens,
gebe euch Frieden allezeit
und auf alle Weise !(2. Thessalonicher 3,16)
Zwei Hühner laufen durch die Sonne. Scharren hier, picken da. »Als ich so alt war wie du«, sagt das ältere, »dachte ich auch, die Welt geht nur bis zum Zaun. – Heute weiß ich: Sie geht bis dort hinten zum Waldrand.«
Wenn ich jetzt lache, lache ich nicht über die Tiere. Ich weiß ja nicht einmal sicher, ob solche Fragen sie überhaupt interessieren. Ich lache über mich, weil mir jemand den Spiegel vorhält. Bin ich mir meiner Welt so sicher? Ich stelle mir vor, es sind zwei deutsche Hühner, und höre sie weitergackern: »Vor mehr als 80 Jahren dachten unsere Vorfahren, Deutschland sei die Mitte der Welt, ja, eigentlich sei es die ganze zivilisierte Welt. Deutsches Wesen, deutsche Werte – davon könnten sich die anderen alle eine Scheibe abschneiden, so dachten diese Größenwahnsinnigen. Heute wissen wir: Deutschland ist nicht der Nabel der Welt. Das ist nämlich die Europäische Union. Europäisches Wesen, europäische Werte – daran können sich die anderen nun wirklich ein Beispiel nehmen …«
Sind wir uns unserer Welt so sicher? Vermutlich nicht. Schon die Frage ist die Antwort. Wir feiern 80 Jahre Frieden zwischen Deutschland und seinen unmittelbaren Nachbarn. Dafür bin ich dankbar. Aber es fiele mir schwer zu formulieren: Wir feiern 80 Jahre Frieden in Europa. Oder sogar: Wir feiern 80 Jahre Frieden.
Dazu weiß ich zu viel – über Belfast und Nikosia, über Srebrenica und Kyjiw. Dazu lese ich zu viel über die 28 Kriege, die die Friedensforschungsinstitute zurzeit in der Welt zählen. 80 Jahre nach Ende des Welt-Krieges bedeuten leider nicht: 80 Jahre Welt-Frieden.
Das gilt auch für unser eigenes Land. Verantwortliche aus Bundeswehr und Sicherheitspolitik wählen Formulierungen, die irgendwo zwischen Krieg und Frieden angesiedelt sind: »Wir sind nicht mehr im Frieden«, sagt ein General öffentlich. »Noch nicht Krieg, aber auch nicht Frieden«, schreibt die Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Sie berichten von hybriden Bedrohungen und Angriffen, von politischen und moralischen Beistandspflichten.
Das ist die Gemengelage, in der wir 80 Jahre Kriegsende feiern. Feiern, warum eigentlich? Genügt nicht die übliche Jubiläums-Reihe: 10, 25, 50, 75, 100 Jahre – und dann in Fünfziger-Schritten weiter? Auch aus anderen Gründen wird es allmählich mühsam mit dem Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Männer und Frauen, die uns davon berichten können, wie es war, als die Waffen 1945 endlich schwiegen, sterben aus. Aber: Gerade deshalb sind die 80 Jahre ein Grund zum Feiern! Zweifellos ist es ein gutes Zeichen für die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte, dass unser Land sich kaum noch an den Krieg erinnern kann.
Wir müssen beides gleichzeitig tun: den Frieden feiern und an ihm arbeiten. Das ist die Lehre aus 80 Jahren polnisch-deutscher friedlicher Nachbarschaft. Der Frieden war im Mai 1945 nicht fertig. Er war auch 1950 mit dem Görlitzer Abkommen nicht fertig oder 1970 mit dem Warschauer Vertrag oder 1990 mit dem Grenzvertrag oder 1991 mit dem Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit.
In der christlichen Friedensethik verstehen wir Frieden nicht als Zustand, sondern als Prozess. Frieden heißt, dass die Verhältnisse sich in die richtige Richtung entwickeln: weg von der Gewalt, hin zu mehr Gerechtigkeit und Solidarität. Unsere Hoffnung auf Frieden ist anspruchsvoller als ein simples Friedensverständnis vom Schweigen der Kanonen.
Zum Beispiel Polen-Deutschland: Haben wir Frieden im Sinn des Schweigens der Waffen? Ja! Und dafür bin ich sehr dankbar. Zweite Frage: Ist die Beziehung zwischen unseren Nationen und Völkern noch entwicklungsfähig, ist noch »Luft nach oben« im Sinne abnehmender Aggression und zunehmender Gerechtigkeit? Auch hier lautet die Antwort wohl: Ja! Weil Frieden mehr ist. Weil Versöhnung langsam wächst und alte Wunden langsam heilen.
Christliche Friedensethik mit dem Konzept des »gerechten Friedens« hat – 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges – Konjunktur. Viel ist von diesem gerechten Frieden die Rede, manchmal als Hoffnung, oft als Forderung. Vielleicht verstehen nicht alle, die ihn im Mund führen, dasselbe darunter. Gerechter Friede hat vier Dimensionen: Abbau von Not, Schutz vor Gewalt, Förderung von Freiheit, Anerkennung kultureller Vielfalt. Das ist die Stärke dieser Ethik, dass der Friedensbegriff positiv gefüllt wird. Aber das macht sie auch so herausfordernd.
Selbstkritisch frage ich mich: Bin ich wie das Huhn aus dem Witz? Versuche ich gerade, meinen christlich-europäischen Blickwinkel auf die ganze Welt und ihren Frieden anzuwenden? Auch jetzt gilt: Schon die Frage ist die Antwort. Die Welt ist größer; hinter den Zäunen geht es weiter. Aber wir, Europäer, Christen, Polen, Deutsche, können etwas einbringen: unsere Idee vom Frieden – und unsere Hoffnung auf den, der Frieden gibt.
Ob dem Apostel Paulus die vier Dimensionen des gerechten Friedens vor Augen standen, als er damals an die Thessalonicher schrieb, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Aber auf jeden Fall passt das, was er schreibt, gut zu einem modernen, positiven, vieldimensionalen Friedensbegriff, der viel mehr ist als das Schweigen der Waffen: »Er aber, der Herr des Friedens, gebe euch Frieden allezeit und auf alle Weise!«
Thorsten Kirschner leitet seit 2024 als Militärgeneraldekan das Evangelische Kirchenamt für die Bundeswehr. Zuvor war der Theologe und Pfarrer der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck unter anderem als Theologischer Assistent beim Bevollmächtigten des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union, als Referent im Bundeskanzleramt sowie als Persönlicher Referent des Evangelischen Militärbischofs tätig.