Vorspann

Vorspann

AUF EIN WORT

Unter dieser Rubrik finden Vertreter von Verbänden, politi­schen Parteien oder anderen Organi­sa­tionen einen Ort, an dem sie sich in persön­lichem Ton und zu einem frei gewählten Thema an die Leser­schaft des Westpreußen wenden.


Die nächsten 50 Jahre – Westpreußens Zukunft in Warendorf

Von Martin Koschny M. A. 

In diesem Jahr haben wir – das Team des Westpreu­ßi­schen Landes­mu­seums (WLM) gemeinsam mit Freunden Westpreußens aus der Bundes­re­publik und aus Polen – in Warendorf an die Gründung unseres Hauses am 6. Juli 1975 in Münster-Wolbeck erinnert. In fünf Jahrzehnten hat sich das WLM von einem »Dokumentations- und Kultur­zentrum« zu einem zeitge­mäßen kultur­his­to­ri­schen Museum entwi­ckelt. Es widmet sich den inter­kul­tu­rellen Verflech­tungen der Region Westpreußen ebenso wie dem Bedürfnis der deutschen Vertrie­benen und ihrer Nachkommen, an die verlorene Heimat zu erinnern.

Das 50-jährige Bestehen ist daher nicht nur Anlass für einen Rückblick, sondern auch für die erneute Ausein­an­der­setzung mit Auftrag und Zukunfts­fä­higkeit einer nach § 96 Bundesvertriebenen- und Flücht­lings­gesetz (BVFG) geför­derten Einrichtung. Hand in Hand mit diesem Auftrag, der auch künftig den Kern unserer Arbeit bilden wird, geht die grenz­über­schrei­tende Ausrichtung unseres Museums. 

Als ich vor gut eineinhalb Jahren die Leitung des Museums übernahm, konnte ich meine Erfah­rungen aus der univer­si­tären Forschung zur osteu­ro­päi­schen Geschichte für die Weiter­ent­wicklung des Hauses fruchtbar machen. Selbst aus Oberschlesien stammend, sind mir die Anliegen der deutschen Heimat­ver­trie­benen und ihrer Nachkommen ein persön­liches Anliegen.

Der gesetz­liche Auftrag des § 96 verpflichtet Bund und Länder, das kultu­relle Erbe der Vertrei­bungs­ge­biete zu bewahren, wissen­schaftlich zu erfor­schen und zu vermitteln – nicht als bloße museale Rückschau, sondern als aktiven Beitrag zu einer pluralen Erinne­rungs­kultur in Deutschland und Europa. Ganz in diesem Sinne versteht sich das WLM als Brücken­bauer zwischen Deutschland und Polen, zwischen Geschichte und Gegenwart, als Ort wissen­schaft­licher Forschung und kultu­reller Vermittlung. Gerade heute – in Zeiten von Natio­na­lismus, Kriegs­be­dro­hungen und Identi­täts­de­batten – ist das Wissen um die histo­ri­schen Verflech­tungen Ostmit­tel­eu­ropas ein unver­zicht­barer Beitrag zur europäi­schen Integration und Verständigung.

Diese besondere Rolle des WLM haben wir während der Jubilä­ums­feier auch im Rahmen des Sympo­siums 50 Jahre Westpreu­ßi­sches Landes­museum: Tradition und Zukunft im Dialog in den Mittel­punkt gestellt. Als Ergebnis der hochrangig besetzten Runde wurde deutlich, dass gerade der – in § 96 angelegte – Zweischritt aus Wahrung des Kultur­erbes bei gleich­zei­tiger Öffnung nach Osteuropa von zentraler Bedeutung sein wird. Die wachsende Zahl polni­scher Partner­insti­tu­tionen – zuletzt die neu aufge­nommene Koope­ration mit dem Stadt­museum Marienburg – unter­streicht eindrucksvoll, welche Bedeutung unserem Haus in Zeiten zuneh­mender gesell­schaft­licher Polari­sie­rungen zukommt.

In der Geschichte unseres Hauses spiegelt sich auch ein Stück bundes­deut­scher Kultur­po­litik. Die 2000 durch den Beauf­tragten der Bundes­re­gierung für Kultur und Medien (BKM) initi­ierte Konzeption zur Erfor­schung und Präsen­tation deutscher Kultur und Geschichte im östlichen Europa stellte viele tradi­ti­ons­reiche Einrich­tungen der Vertrie­be­nen­kul­tur­arbeit vor erheb­liche Heraus­for­de­rungen. Auch das WLM war damals von Einglie­de­rungs­plänen betroffen – wurde jedoch nicht abgewi­ckelt, sondern zukunfts­fähig neu aufge­stellt. Die Wieder­eröffnung in Warendorf im Jahr 2014 war daher nicht nur ein innen­ar­chi­tek­to­ni­scher, sondern vor allem ein konzep­tio­neller Neustart.

Der tradi­ti­ons­ge­bundene Zuschnitt des Museums, das in den letzten beiden Jahrzehnten vor allem kunst­his­to­rische Themen bevor­zugte, wird gezielt unter vielfäl­tigen und aktuellen Perspek­tiven erweitert. Auf diese Weise rücken u. a. auch Landes‑, ­Kultur‑, Sozial‑, Wirtschafts- und Alltags­ge­schichte stärker in den Fokus. Zudem wird der bereits 2014 gewählte Unter­titel des Hauses – ­­­Begeg­nungen mit einer deutsch-polnischen Kultur­region – dabei durch eine ernst­hafte Ausein­an­der­setzung mit der deutsch-polnischen Bezie­hungs­ge­schichte wieder neu belebt. Das Ausstellungs- und Veran­stal­tungs­pro­gramm ist zudem auch stärker auf den Standort Warendorf ausge­richtet, um die Poten­ziale des Hauses für Stadt, Kreis und Region deutlicher zur Geltung zu bringen. Zugleich wird die Museums­päd­agogik grund­legend neu konzipiert.

Die unter der neuen Bundes­re­gierung veran­lasste Rückver­la­gerung der Zustän­digkeit für die Vertrie­be­nen­kul­tur­arbeit in das Bundes­mi­nis­terium des Innern (BMI) eröffnet die Chance, den ursprüng­lichen Geist des § 96 wieder stärker zur Geltung zu bringen: als gesamt­ge­sell­schaft­liche Aufgabe mit erinnerungs- und außen­po­li­ti­scher Dimension. Dies entspricht dem Wortlaut des gesetz­lichen Auftrags, »das Kulturgut der Vertrei­bungs­ge­biete in dem Bewusstsein der Vertrie­benen und Flücht­linge, des gesamten deutschen Volkes und des Auslandes zu erhalten«.

Gleich­zeitig steht das WLM – wie viele andere § 96-Einrichtungen – unter struk­tu­rellem Druck. Projekt­mittel sind wichtig, doch sie ersetzen keine verläss­liche insti­tu­tio­nelle Förderung. Kultur­arbeit dieser Art braucht Konti­nuität, Planungs­si­cherheit und politische Rücken­de­ckung. Der Koali­ti­ons­vertrag der neuen Bundes­re­gierung hat hier mit seinem klaren Bekenntnis zu § 96 erfreu­liche Signale gesetzt. Wir gehen davon aus, dass diese Absichten für die Gesamtheit der nach § 96 geför­derten Insti­tu­tionen gelten – nicht nur für die im Vertrag ausdrücklich genannten Beispiele wie die Kultur­stiftung der deutschen Vertriebenen.

Das kultu­relle Erbe der deutschen Vertrie­benen ist Teil unserer europäi­schen Gegenwart. Wer Europa in seiner Tiefe verstehen will, muss auch Danzig, Elbing, Thorn und Bromberg kennen – und sich u. a. mit der deutschen, polni­schen, jüdischen und kaschu­bi­schen Geschichte dieser Kultur­region ausein­an­der­setzen. Dafür steht das Westpreu­ßische Landes­museum. Und dafür braucht es weiterhin politische wie gesell­schaft­liche Unterstützung.

Wenn ich jetzt lache, lache ich nicht über die Tiere. Ich weiß ja nicht einmal sicher, ob solche Fragen sie überhaupt inter­es­sieren. Ich lache über mich, weil mir jemand den Spiegel vorhält. Bin ich mir meiner Welt so sicher? Ich stelle mir vor, es sind zwei deutsche Hühner, und höre sie weiter­ga­ckern: »Vor mehr als 80 Jahren dachten unsere Vorfahren, Deutschland sei die Mitte der Welt, ja, eigentlich sei es die ganze zivili­sierte Welt. Deutsches Wesen, deutsche Werte – davon könnten sich die anderen alle eine Scheibe abschneiden, so dachten diese Größen­wahn­sin­nigen. Heute wissen wir: Deutschland ist nicht der Nabel der Welt. Das ist nämlich die Europäische Union. Europäi­sches Wesen, europäische Werte – daran können sich die anderen nun wirklich ein Beispiel nehmen …«

Sind wir uns unserer Welt so sicher? Vermutlich nicht. Schon die Frage ist die Antwort. Wir feiern 80 Jahre Frieden zwischen Deutschland und seinen unmit­tel­baren Nachbarn. Dafür bin ich dankbar. Aber es fiele mir schwer zu formu­lieren: Wir feiern 80 Jahre Frieden in Europa. Oder sogar: Wir feiern 80 Jahre Frieden.

Dazu weiß ich zu viel – über Belfast und Nikosia, über Srebrenica und Kyjiw. Dazu lese ich zu viel über die 28 Kriege, die die Friedens­for­schungs­in­stitute zurzeit in der Welt zählen. 80 Jahre nach Ende des Welt-Krieges bedeuten leider nicht: 80 Jahre Welt-Frieden.

Das gilt auch für unser eigenes Land. Verant­wort­liche aus Bundeswehr und Sicher­heits­po­litik wählen Formu­lie­rungen, die irgendwo zwischen Krieg und Frieden angesiedelt sind: »Wir sind nicht mehr im Frieden«, sagt ein General öffentlich. »Noch nicht Krieg, aber auch nicht Frieden«, schreibt die Bundes­aka­demie für Sicher­heits­po­litik. Sie berichten von hybriden Bedro­hungen und Angriffen, von politi­schen und morali­schen Beistandspflichten.

Das ist die Gemengelage, in der wir 80 Jahre Kriegsende feiern. Feiern, warum eigentlich? Genügt nicht die übliche Jubiläums-Reihe: 10, 25, 50, 75, 100 Jahre – und dann in Fünfziger-Schritten weiter? Auch aus anderen Gründen wird es allmählich mühsam mit dem Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Männer und Frauen, die uns davon berichten können, wie es war, als die Waffen 1945 endlich schwiegen, sterben aus. Aber: Gerade deshalb sind die 80 Jahre ein Grund zum Feiern! Zweifellos ist es ein gutes Zeichen für die Entwicklung der vergan­genen Jahrzehnte, dass unser Land sich kaum noch an den Krieg erinnern kann.

Wir müssen beides gleich­zeitig tun: den Frieden feiern und an ihm arbeiten. Das ist die Lehre aus 80 Jahren polnisch-deutscher fried­licher Nachbar­schaft. Der Frieden war im Mai 1945 nicht fertig. Er war auch 1950 mit dem Görlitzer Abkommen nicht fertig oder 1970 mit dem Warschauer Vertrag oder 1990 mit dem Grenz­vertrag oder 1991 mit dem Vertrag über gute Nachbar­schaft und freund­schaft­liche Zusammenarbeit.

In der christ­lichen Friedens­ethik verstehen wir Frieden nicht als Zustand, sondern als Prozess. Frieden heißt, dass die Verhält­nisse sich in die richtige Richtung entwi­ckeln: weg von der Gewalt, hin zu mehr Gerech­tigkeit und Solida­rität. Unsere Hoffnung auf Frieden ist anspruchs­voller als ein simples Friedens­ver­ständnis vom Schweigen der Kanonen.

Zum Beispiel Polen-Deutschland: Haben wir Frieden im Sinn des Schweigens der Waffen? Ja! Und dafür bin ich sehr dankbar. Zweite Frage: Ist die Beziehung zwischen unseren Nationen und Völkern noch entwick­lungs­fähig, ist noch »Luft nach oben« im Sinne abneh­mender Aggression und zuneh­mender Gerech­tigkeit? Auch hier lautet die Antwort wohl: Ja! Weil Frieden mehr ist. Weil Versöhnung langsam wächst und alte Wunden langsam heilen.

Christ­liche Friedens­ethik mit dem Konzept des »gerechten Friedens« hat – 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges – Konjunktur. Viel ist von diesem gerechten Frieden die Rede, manchmal als Hoffnung, oft als Forderung. Vielleicht verstehen nicht alle, die ihn im Mund führen, dasselbe darunter. Gerechter Friede hat vier Dimen­sionen: Abbau von Not, Schutz vor Gewalt, Förderung von Freiheit, Anerkennung kultu­reller Vielfalt. Das ist die Stärke dieser Ethik, dass der Friedens­be­griff positiv gefüllt wird. Aber das macht sie auch so herausfordernd.

Selbst­kri­tisch frage ich mich: Bin ich wie das Huhn aus dem Witz? Versuche ich gerade, meinen christlich-europäischen Blick­winkel auf die ganze Welt und ihren Frieden anzuwenden? Auch jetzt gilt: Schon die Frage ist die Antwort. Die Welt ist größer; hinter den Zäunen geht es weiter. Aber wir, Europäer, Christen, Polen, Deutsche, können etwas einbringen: unsere Idee vom Frieden – und unsere Hoffnung auf den, der Frieden gibt.

Ob dem Apostel Paulus die vier Dimen­sionen des gerechten Friedens vor Augen standen, als er damals an die Thessa­lo­nicher schrieb, lässt sich nicht mehr rekon­stru­ieren. Aber auf jeden Fall passt das, was er schreibt, gut zu einem modernen, positiven, vieldi­men­sio­nalen Friedens­be­griff, der viel mehr ist als das Schweigen der Waffen: »Er aber, der Herr des Friedens, gebe euch Frieden allezeit und auf alle Weise!«



Martin Koschny M. A. leitet seit April 2024 das Westpreu­ßische Landes­museum kommis­sa­risch. Bis dahin war er seit Februar 2017 Wissen­schaft­licher Mitar­beiter der Abteilung für Osteu­ro­päische Geschichte des Histo­ri­schen Seminars der Univer­sität Münster. An derselben Univer­sität hatte er zuvor ein Lehramts­studium in Geschichte, Sport, Mathe­matik und Katho­li­scher Religion sowie ein anschlie­ßendes Master­studium in Geschichts­wis­sen­schaft (mit dem Schwer­punkt Osteuropa) absol­viert. In den Jahren 2022/2023 und 2023/24 arbeitete er als Mitglied bzw. als Vorsit­zender des Stiftungs­rates in der Kultur­stiftung Westpreußen mit.