Vorspann

Vorspann

AUF EIN WORT

Unter dieser Rubrik finden Vertreter von Verbänden, politi­schen Parteien oder anderen Organi­sa­tionen einen Ort, an dem sie sich in persön­lichem Ton und zu einem frei gewählten Thema an die Leser­schaft des Westpreußen wenden.

Einheit bewahren – Freiheit gestalten

Von Jens Baumann

»Selig, die keine Gewalt anwenden, denn sie werden das Land erben« (Jesus von Nazareth, 30 n. Chr.) – es gibt »nur eine Sache, die wir fürchten müssen, die Furcht selbst« (Franklin D. Roosevelt, 1933) – »Ihr Völker der Welt, schaut auf diese Stadt« (Ernst Reuter, 1948) – »Ich habe einen Traum« (Martin Luther King, 1963) – »Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört« (Willy Brandt, 1989). Sätze, die bleiben und elektri­sieren. Nicht nur Politiker hatten – wie Willy Brandt am 10. November 1989 – Tränen in den Augen. Rührung und Begeis­terung spürten die aller­meisten Menschen in der DDR und in der Bundes­re­publik. Ein unbeschreib­liches Gefühl damals, auch in mir als Lehramts­stu­denten. Ein Aufbruch ins Neue und Gemeinsame. Die Wieder­ver­ei­nigung nicht einfach eine Mehrheits­ent­scheidung, sondern ein großes, umfas­sendes Gesamt­wollen. Getragen mindestens seit Dezember 1989 von einer überbreiten Mehrheit der Menschen in der bald ehema­ligen DDR, kriti­siert nur von einer verschwindend kleinen Minderheit. Wie so oft holten die Wirklichkeit, die Brecht’schen »Mühen der Ebene«, die Menschen ein. Wer hat heute, 35 Jahre später, jemanden zuletzt vor Freude am 3. Oktober weinen sehen? 

Die Fried­liche Revolution nahm ihren Ausgangs­punkt in Sachsen und sie mündete nach etwa einem Jahr in der deutschen Wieder­ver­ei­nigung durch den von der Volks­kammer der DDR mit überwäl­ti­gender Mehrheit beschlos­senen Beitritt nach Art. 23 GG. Aus »Wir sind das Volk« wurde »Wir sind ein Volk«. Der Beitritt nach Art. 23 GG war die histo­risch einmalige Möglichkeit für eine rasche Wieder­ver­ei­nigung 1990. Keine Gewalt, keine Furcht, das spontane Zerstören der Berliner Mauer, die Verwirk­li­chung eines Traums seit 1949, das Zusam­men­kommen mit seit Langem getrennten Famili­en­mit­gliedern und Freunden. Die Worte zu Beginn, in anderen Kontexten entstanden, fanden in unserem Land 1989/90 unver­hofft Widerhall. Weitsichtige Politiker wie Brandt, Kohl und Genscher haben den histo­ri­schen Moment erkannt und genutzt. Möglich wurde die Wieder­ver­ei­nigung durch den von ­Michail Gorbat­schow erklärten Verzicht auf Inter­ven­tionen gegenüber den Reform­be­we­gungen im ehema­ligen Ostblock, die sofortige Zustimmung der Bush-Regierung, das spätere Umdenken Mitter­rands, auch ermög­licht mit der von Kohl verfolgten Politik der Gleich­zei­tigkeit von Einheit und europäi­schem Zusam­men­wachsen. Undenkbar die Wieder­ver­ei­nigung ohne unsere Nachbarn: die Solidarność-Bewegung in Polen, die Grenz­öffnung in Ungarn, die nicht durch tsche­chische Polizisten verhin­derten Fluchten über den Zaun in die Botschaft der Bundes­re­publik in Prag. Auch wenn wir heute nicht immer mit dem einver­standen sind, wie Ameri­kaner, Polen, Tschechen und Ungarn denken, so haben wir nicht zuletzt auch ihnen unsere Freiheit zu verdanken. Verlieren können wir sie nur selbst: durch Nachläs­sigkeit, durch Uneinigkeit, durch Larmoyanz. 

Auch für die Vertrie­benen und Spätaus­siedler bedeutete diese schick­sal­hafte Zeit einen großen Moment, ermög­lichte er doch, dass nun auch die in der DDR lebenden Vertrie­benen, die verharm­losend Umsiedler genannt wurden, ihr Schicksal erzählen und sich organi­sieren konnten. Gemeinsam mit den Vertrie­benen in der BRD entstanden echte Paten­schaften, Partner­schaften und Projekte mit den ehema­ligen Aussiedlungs- und Vertrei­bungs­ge­bieten. Und zwar mit Unter­stützung gerade dieser Länder, ihrer Bürger und natürlich auch der Heimat­ver­blie­benen, die ebenso ihre deutsch­stämmige Identität wieder frei leben durften. Viele Bundes­länder nehmen den Auftrag aus § 96 des Bundes­ver­trie­be­nen­ge­setzes ernst; Sachsen fördert jährlich mit bis zu einer Million Euro verschie­denste Vorhaben in Vereinen, Stiftungen, Kommunen und bei den deutschen Minder­heiten im Ausland. Mit der eigenen Geschichte versöhnt, aber nicht geschichts­ver­gessen sein, Lockerheit, Leich­tigkeit, Offenheit gegenüber anderen, dies wünschen sich nach meinen Erfah­rungen viele Menschen im ostmit­tel­eu­ro­päi­schen Ausland von uns. 

Ich habe in meinem Umkreis verschiedene Menschen aus Ost und West gefragt, was ihnen zuerst bei Wieder­ver­ei­nigung einfällt: überein­stimmend die Freude. Erst nach 1990 Geborene jedoch assozi­ieren vermehrt die Diskrepanz: der »rechte« Osten und der »reiche« Westen. Die Wieder­ver­ei­nigung emotio­na­li­siert heute auch negativ, vor allem, wenn der Wille fehlt, tatsächlich einmal die blühenden Landschaften aufzu­suchen; viele würden in die verkehrte Richtung fahren. Beigetragen zum teilweise negativen Bild haben manche Fehler, die bis heute wirtschaft­liche und soziale Folgen nach sich ziehen, Entschei­dungen der Treuhand­an­stalt – doch eben nicht nur Fehler, sondern auch das Ausnutzen, das Herab­setzen und das Nicht­ver­stehen der neuen Mitbürger, die den Erfah­rungs­ho­rizont des für sie neuen wirtschaft­lichen, politi­schen und sozialen Systems gar nicht haben konnten. Leider mitunter auch die bewusste oder unbewusste Ignoranz gegenüber den Lebens­er­fah­rungen und Lebens­leis­tungen der Ostdeutschen. 

Einheit meint das Zusam­men­ge­hörige, das Untrennbare, eine als Ganzes wirkende Geschlos­senheit. Was für eine schöne Vorstellung! Und was konnte uns eigentlich Besseres passieren, als von anderen Staaten wieder als ein Deutschland geachtet und geschätzt, vor allem nicht mehr gefürchtet zu werden? Die Verei­nigung war das Gebot der Stunde – gerade 1989/90. Bewahren wir in uns weiterhin, wenigstens manchmal, den Jubel, die Freude, das Wissen und auch den Stolz um die Freiheit. Die Sehnsucht nach Freiheit nahm den Bürgern die Furcht und setzte die Fried­liche Revolution in Gang. Reise­freiheit, Meinungs­freiheit, wirtschaft­liche Freiheit – dass sich verschiedene Freiheiten mit manchen gewohnten Sicher­heiten, die wirtschaftlich auf tönernen Füßen standen, nicht vertrugen, das sahen viele erst einmal nicht, und manche wollen es, warum auch immer, bis heute nicht sehen. Das gemeinsame non-konfrontative Ausba­lan­cieren von Freiheit und Sicherheit ist vielleicht die entschei­dende Aufgabe, die auch nach 35 Jahren Einheit geblieben ist.


Dr. Jens Baumann ist Beauf­tragter für Vertriebene und Spätaus­siedler des Freistaates Sachsen.