Zurück

Zur elektronischen Ausgabe

Zum Heft

Zur Rubrik

Vor 100 Jahren – Das Ende von Westpreußen (4)

Der lange Schatten von Versailles — Beobachtungen an einer Phantom-Grenze in Kaschubien 

Von Magdalena Sacha

Die Grenze von Versailles, die ab 1920 auch die Nordkaschubei für 19 Jahre durchschnitt, hat sich hier als ein historisches Phänomen von langer Dauer erwiesen. Es erscheint deshalb lohnend, diese „langen Schatten“ der Pariser Vorortverträge in einer mikrogeschichtlichen Untersuchung eingehender zu verfolgen.

Das Wiedererstehen einer Grenze

Im Dorf Nadole, das malerisch am westlichen Ufer des Zarno­witzer Sees gelegen ist, wurde 2013 eine Tafel aufge­stellt, die über die Bestim­mungen des Versailler Vertrages infor­miert und die Bedeutung zweier Granit­säulen erläutert, die hinter dem Zaun des örtlichen Freilicht­mu­seums gesetzt worden waren. Auf diese Weise erfuhren die Touristen, dass es hier nach dem Ersten Weltkrieg eine polnisch-deutsche Grenze gegeben hat. Inzwi­schen ist der Grenz­verlauf mit Pfählen markiert und zeigt, wie eng die damalige Exklave von dieser Linie umschlossen wurde – zumal sie in der Zwischen­kriegszeit natürlich erheblich undurch­läs­siger war als heute.

Solche Rekon­struk­tionen beruhen nicht nur auf dem pragma­ti­schen Bemühen, die Attrak­ti­vität des Gebiets für den Fremden­verkehr zu erhöhen. Vielmehr – und vor allem – resul­tieren sie daraus, dass sich das histo­rische, inzwi­schen bereits 100 Jahre zurück­lie­gende Ereignis und dessen Folgen in den kollek­tiven Erinne­rungen wie auch Sprach­ge­wohn­heiten der dort lebenden Menschen – und zwar insbe­sondere bei den Bewohnern von Nadole (Nadolle) und dem benach­barten Dorf Wierz­chucino (Wierschutzin) – nieder­ge­schlagen haben :  Lange bevor die Idee aufkam, Unter­rich­tungs­tafeln aufzu­stellen und den Verlauf der einst­ma­ligen Staats­grenze zu kennzeichnen, hatten die Menschen diese Vorgänge gemein­schaftlich in Geschichten nachmo­del­liert und in Konstruk­tionen der regio­nalen Erinne­rungs­kultur festge­halten. Diese Entwicklung wurde (und wird) auch dadurch begünstigt, dass die deutsch-polnische Grenze aus der Zeit von 1920 bis 1939 ein Gebiet durchzog, das stets von einer „hybriden Identität“, der wechsel­sei­tigen Durch­dringung der kaschu­bi­schen, polni­schen und deutschen Kultur, geprägt worden ist – und in dem deshalb solche terri­to­rialen Verän­de­rungen besonders sensibel wahrg­nommen wurden.

Dass diese „Phantom-Grenze“ nun wieder materiell verge­gen­wärtigt wird, trägt nicht unwesentlich dazu bei, dass sie im Bewusstsein der Einwohner und Besucher nun gewiss auch weiterhin fest verankert bleiben wird. Dabei hängt diese zusätz­liche Festigung des „Mythos von Nadole“ nicht zuletzt auch mit dem Bemühen der Dritten Republik zusammen, das Gedenken an histo­rische Prozesse und Persön­lich­keiten der Zweiten Republik zu fördern und dadurch ausdrücklich die ideolo­gi­schen Tabus der kommu­nis­ti­schen Ära zu brechen.

Historische und symbolische Grenzziehungen

Beim Ziehen von Grenzen werden oft die Struk­turen früherer Zuord­nungen aktua­li­siert. Dabei kommt der Piasnitz und dem Zarno­witzer See eine überra­gende Bedeutung zu, denn hier wurden schon seit der Zeit des Deutschen Ordens Terri­torien vonein­ander getrennt. Diese Regelung galt auch bei der Bildung des König­lichen Preußen, das die bis hierher reichende Grafschaft Putzig mit einschloss, und sie wurde 1772 neuerlich bestätigt, weil an dieser Linie der damalige, bei der Bildung „Westpreußens“ einge­richtete „Dirschausche Creis“ endete. An dessen Stelle trat zunächst der im April 1818 begründete Kreis Neustadt und danach der 1887 aus dessen Gebiet abgetrennte Kreis Putzig. Stets aber trafen hier Westpreußen und Pommern aufein­ander. Dabei lief die Linie – wie der folgende Ausschnitt einer um 1830 entstan­denen Karte zeigt – von der Ostsee aus zunächst entlang der Piasnitz und bog dann kurz nach Erreichen des Sees nach Westen ab, so dass das nördlich gelegene Wierschutzin von den südlich gelegenen Dörfern Brzin und Prissau geschieden wurde, und wandte sich dann – parallel zum Verlauf des Seeufers – in südöst­liche Richtung.

Unter diesen Voraus­set­zungen lässt sich zum einen nachvoll­ziehen, dass in Versailles zwar der plausible und klar zu formu­lie­rende Grenz­verlauf auf der Mitte des Sees in den Vertrag geschrieben wurde – „the median line of Lake Zarnowitz“ –, dass bei der Festlegung aber aufgrund der histo­risch gewach­senen Verbin­dungen noch eine gewisse Flexi­bi­lität bestand, auch wenn hier die sonst verwendete, ganz offene Formel der „im Gelände noch zu bestim­menden Linie“ nicht gewählt worden war. Gleichwohl darf es als ungewöhnlich bezeichnet werden, dass auf dem Reichs­gebiet eine Exklave wie die von Nadole einge­richtet wurde.

Zum anderen gibt der zu Beginn des Beitrags repro­du­zierte Ausschnitt aus der Karte, die die Konstel­lation während der Zwischen­kriegszeit festhält, nun deutliche Hinweise darauf, welche sozial­psy­cho­lo­gi­schen Konse­quenzen aus den Grenz­zie­hungen zu resul­tieren vermochten. – Wierschutzin gehörte schon vor 1920 nicht zu Westpreußen und wurde jetzt regel­recht zum „Ausland“ – und exakt dieses Wort haben die östlichen Nachbarn des Dorfs noch Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges benutzt, wenn sie sagten, dass sie nach Wierz­chucino führen. Den Bewohnern des Ortes muss diese Zuordnung besonders unange­messen erschienen sein, weil sie selbst 1919 intensiv – wenn auch vergeblich – für einen Anschluss an Polen optiert hatten. Immerhin hatte der russische Slawist Alexander F. Hilferding (1831–1872) bei seinen Forschungen, die er 1856 in der Region unter­nommen hatte, gerade Wierzu­schin als Teil einer kaschu­bi­schen Enklave in Pommern – und mithin an der Westgrenze der Kaschubei – verortet. Dafür sprach nicht zuletzt der konfes­sio­nelle Unter­schied zwischen den Bewohnern dieses Dorfes einer­seits, die sich entschieden zum Katho­li­zismus bekannten, und den protes­tan­ti­schen Slowinzen im Westen andererseits.

Dem Dorf Nadolle hingegen gelang es, entgegen den ursprüng­lichen Bestim­mungen des Versailler Vertrages und trotz der proble­ma­ti­schen Lage, bei der es an drei Seiten von der neuen Staats­grenze umgeben wurde, ein Teil Polens zu werden. Nun bildete es unter seinem polni­schen Name „Nadole“ – im strikten Gegensatz zu den Nachbarn in Wierschutzin – einen regel­rechten „Vorposten“ oder „Brückenkopf des Polentums“ im Gebiet des Deutschen Reiches. Diese besondere Position prägte das Bewusstsein der wie auf einer Insel lebenden Einwohner nachdrücklich und förderte die Bildung der Mythen, die in Berichten und Legenden bis heute kolpor­tiert werden und diesen Ort auch weiterhin von den Nachbar­ge­meinden durch eine imaginäre – inzwi­schen lediglich wieder sichtbar gemachte – Grenze abgetrennt haben.

Diese seit 1920 gestiftete Tradition der Geschichte und Geschichten vom Brückenkopf Nadole werden im nächsten Abschnitt ausführlich disku­tiert. Zuvor soll aber nicht unerwähnt bleiben, dass die Wirkungen der in Versailles ausge­han­delten Regelungen die Dörfer Nadole und Wieschutzin kommu­nal­po­li­tisch auch noch nach dem Kriegsende beschäftigt haben, obwohl beide nun wieder gemeinsam auf dem Terri­torium nur eines Staates lagen. Die Einwohner von Nadole entschieden sich, die bis 1939 erhaltene Rolle des „Vorpostens“ verwal­tungs­rechtlich aufzu­geben, quasi die Brücke, die sie mit dem Gebiet der alten Grafschaft Putzig verband, abzubrechen, und schlossen sich 1954 der Gemeinde Gnewin (Gniewino) im Bezirk Lauenburg an. Demge­genüber nahmen die Bürger von Wierschutzin, das nun Wierz­chucino hieß, ihren Plan wieder auf, den sie schon 1919 verfolgt hatten :  nicht länger Pommern zugeordnet zu bleiben, sondern sich Polen anzuschließen. Es scheint geradezu, als ob diese jahrhun­der­tealte Grenze seit 1920 zu einer kaum überwind­baren Bruch­linie zwischen dem „heiligen“ Polentum und dem profanen Deutschtum überhöht worden sei und nun über 1945 hinaus mental fortbe­standen hätte. Deshalb bemühten sich die Gemein­deräte nach dem Kriegsende mehrmals und beharrlich, diese Barriere doch noch zu überwinden, indem ihr Dorf – in einer Gegen­be­wegung zu den Nachbarn in Nadole – den Bezirk Lauenburg gerade verlassen und dem Meeres­kreis (Powiat morski) mit der Haupt­stadt Neustadt zugeordnet werden sollte. Dieses Vorhaben ließ sich letztlich aber ebenfalls nicht realisieren.

Der Mythos von Nadole

Im Sommer 1920 kam die polnische Armee in das Dorf Nadole und wurde dort von den Bewohnern feierlich mit Brot und Salz empfangen. Spätestens jetzt war für jeden offen­sichtlich, dass es unumkehrbar gelungen war, die in Versailles festge­legte Staats­grenze zu verschieben, sie entlang dem Westufer des Zarno­witzer Sees zu führen und um das Dorf herum­zu­leiten. Dieser Erfolg muss den Menschen als ganz außer­ge­wöhnlich erschienen sein – und so kamen bald auch Erzäh­lungen auf, in denen die Vorge­schichte dieses Triumphes in leuch­tenden Farben ausgemalt wurde.

Bis heute wird berichtet, dass in Nadole eine reguläre Volks­ab­stimmung statt­ge­funden hätte. Die Nachfahren der damals Betei­ligten wussten mindestens noch in den 1970er Jahren genau anzugeben, wie viele Stimmen dabei für Polen abgegeben wurden und wie die einzelnen Wähler hießen. Erst recht sind weiterhin die Akteure geläufig, die damals die Initiative ergriffen hatten und den Plan letztlich verwirk­lichten. Dabei wird nicht nur der bekannte propol­nische Aktivist Antoni Abraham genannt, sondern auch der Name von Augustyn Konkol, dessen Grund­besitz den Zarno­witzer See mit umschloss, oder auch derjenige von Augustyn Struk, der ebenfalls zu den Honora­tioren des Ortes gehörte. Kleinere Rollen übernehmen der Wirt Ignatius Stielau, in dessen Gasthaus wichtige Absprachen getroffen werden, oder der Zarno­witzer Pfarrer Kurt Reich, der sich als leiden­schaft­licher Jäger dafür einsetzt, auf beiden Seiten des Sees ein Jagdgebiet zur Verfügung zu haben.

Selbst­ver­ständ­li­cher­weise werden diese Geschichten im Laufe der Zeit auch weiter ausge­schmückt, unter Berufung auf Aussagen von unmit­telbar Betei­ligten als authen­tisch bezeugt und auch schriftlich festge­halten. Dabei werden andere Momente mit einge­passt – zum Beispiel die Äußerung eines entschie­denen „Macht­worts“, das Gegen­po­si­tionen keinen Raum mehr lässt, oder die Wirkung alkoho­li­scher Getränke, die den Entschluss zum Handeln bzw. die Überzeu­gungs­kraft der Argumente verstärken.

In konzen­trierter Form spiegelt die folgende Erzählung die Tendenzen dieser Mythen­bildung wider :  Antoni Abraham und Augustyn Konkol reisen nach Versailles, treffen dort mit dem ameri­ka­ni­schen Präsi­denten Woodrow Wilson und dem briti­schen Premier­mi­nister David Lloyd George zusammen, um ihnen persönlich das Ergebnis der Volks­ab­stimmung von Nadole zu überreichen. Während des anschlie­ßenden, durchaus kontro­versen Gesprächs wird dann der Punkt erreicht, an dem Augustyn Konkol mit der Faust auf den Eichen­tisch schlägt, um damit der Aussage, dass seine Familie seit 700 Jahren in diesem Ort ansässig und Eigen­tümer des Sees sei, gehörigen Nachdruck zu verleihen. Wilson und der – keineswegs Polen zugewandte – Lloyd George sind davon schließlich derart beein­druckt, dass der ameri­ka­nische Präsident persönlich die Landkarte zur Hand nimmt und den Grenz­verlauf im gewünschten Sinne korrigiert.

Wie bei allen Mythen überrascht es nicht, dass die zugrunde liegenden gesicherten oder zumindest wahrschein­lichen Fakten deutlich andere Zusam­men­hänge zu erkennen geben. – Der Danziger Histo­riker und maßgeb­liche Förderer der kaschu­bi­schen Autonomie-­Bestrebungen Józef Borzy­sz­kowski hat in den 1970er Jahren die Chance genutzt, eine Zeitzeugen-Befragung durch­zu­führen. Dabei hat ihm Jadwiga Kandau-Konkol gesagt, dass ihr Ehemann nicht nach Versailles gereist sei, dass Alkohol bei den Absprachen keine Rolle gespielt habe und auch gar keine offizielle Volks­ab­stimmung statt­ge­funden hätte. Vielmehr wären Antoni Abraham und Augustyn Struk mit einer Unter­schrif­ten­liste durchs Dorf gegangen, und die meisten Bewohner hätten lediglich unter­schrieben, dass sie für Polen optierten.

Dieser Vorgang hat vor allem erst 1920 statt­ge­funden, denn die Entscheidung über den endgül­tigen Grenz­verlauf trafen inter­na­tionale Kommis­sionen vor Ort ;  im Falle der Nord-Kaschubei arbeitete solch ein Gremium in Putzig, und zu deren Mitgliedern gehörten der Arzt und kaschu­bische Schrift­steller Dr. Alexander Majkowski, der späterhin als „Remus“-Autor bekannt wurde, sowie Antoni Abraham und Augustyn Konkol.

Zu einer nüchter­neren Betrachtung der Entwick­lungen fordert erst recht die Tatsache auf, dass die Exklave Nadole keineswegs voraus­setz­unglos – nur auf der Grundlage tradierter Rechte und des Volks­willens – erstritten wurde, sondern dass die deutsche Seite diesem Wunsche entsprach, weil sie selbst im Gegenzug einen erheb­lichen Vorteil erhielt :  Beim Dorf Kniewen­bruch befand sich eine für den Kreis Lauenburg wichtige Trinkwasser-Entnahmestelle, die nun beim Deutschen Reich blieb. Der überra­schende Verlauf der Grenze um die Exklave Nadole findet somit – wenige Kilometer südlich davon – ein mindestens ebenso auffäl­liges Pendant in der eigen­tüm­lichen, extrem spitz­wink­ligen Ausbuchtung der Linie. Ohne diesen Ausgleich der Inter­essen, der zu dem Gebiets­tausch geführt hat, wäre der „Sieg“ von Nadole schwerlich errungen worden.

Versailles als regionaler Erinnerungsort

Dass der Mythos von Nadole keineswegs an der histo­ri­schen „Wahrheit“ scheitert, ist schon für sich genommen nicht ungewöhnlich, denn die Konstruk­tionen von „Geschichte“ entwi­ckeln gegenüber histo­ri­schen Klarstel­lungen oftmals erheb­liche Wider­stands­kräfte. Die Glaub­wür­digkeit der lokalen Darstel­lungen lässt sich zudem über die Person Antoni Abrahams absichern. Sie bildet eine wesent­liche Brücke zu den Vorgängen in Nadole, weil Abraham selbst auch dort aktiv gewesen ist und weil Augustyn Konkol gemeinsam mit ihm zwar nicht nach Paris, aber doch immerhin zu Vorver­hand­lungen auf natio­naler Ebene nach Warschau gereist war. Auf diese Weise kann der Kampf um den „Vorposten des Polentums“ am Zarno­witzer See eng an das Wirken eines kaschu­bi­schen Aktivisten angekoppelt werden, dessen Ruhm bis heute andauert bzw. in jüngerer Zeit sogar noch zunehmend verstärkt wird.

Antoni Abraham (1869–1923) erfüllt alle Voraus­set­zungen, um als ein „Held“ in die Geschichte einzu­gehen. Er hat von früh an gesell­schafts­po­li­tische und nationale Inter­essen verfolgt und dafür auch Repres­sionen in Kauf genommen. Vor allem aber ist er tatsächlich nach Paris gefahren und hat sich dort im Rahmen der polni­schen Delegation auch an den Verhand­lungen mit Woodrow Wilson und David Lloyd George beteiligt. Diese Reise ist schon bald nach seinem Tode im Sinne eines Helden-Epos mysti­fi­ziert worden. Abraham gelingt es, die deutsche Grenze zu überschreiten, um nach Warschau zu gelangen, er wird als einer der drei kaschu­bi­schen Delegierten anerkannt, nimmt an der abenteu­er­lichen Fahrt über Krakau, Wien und die Schweiz nach Paris teil und kehrt nach erfolg­reichen Verhand­lungen mit den Großen dieser Welt ruhmreich zurück :  Pomme­rellen wird zum „Korridor“ und dem wieder­erstan­denen polni­schen Staat zugeschlagen.

Dass Antoni Abraham explizit als kaschu­bi­scher Diplomat aktiv wurde, verschafft ihm ein erheb­liches symbo­li­sches Kapital. Damit gewinnt er die Chance, regional nicht nur im kommu­ni­ka­tiven, sondern auch im kultu­rellen Gedächtnis verankert zu werden. Als „Tribun“ oder „König der Kaschuben“ vermögen er und seine Mission eine ebenso heraus­ra­gende histo­rische Orien­tie­rungs­marke zu bilden wie Polens „Vermählung mit dem Meer“, die General Józef Haller am 10. Februar 1920 zum ersten Male vollzogen hat und die Jahr für Jahr in einem patrio­ti­schen Ritus wiederholt wird – und dadurch eine ähnliche Festigkeit erhält wie die Denkmäler, die für Antoni Abraham inzwi­schen errichtet worden sind.

Diese Phänomene erweisen sich mithin als tragende Kompo­nenten eines insti­tu­tio­na­li­sierten Gedenkens an Versailles und die Bildung der Zweiten Polni­schen Republik. Damit können sie im Sinne des franzö­si­schen Histo­rikers Pierre Nora als Teile eines „Erinne­rungsorts“ (lieu de mémoire) gedeutet werden, weil sie oberhalb der „Geschichte ersten Grades“ zu Konstel­la­tionen von mentalen Konzepten und Symbolen zusam­men­treten und wesentlich zur sozial­psy­cho­lo­gi­schen Identi­täts­stiftung der jewei­ligen Gegenwart beitragen.

Vor diesem Hinter­grund dürfte nun gänzlich plausibel werden, warum der Mythos von Nadole seine Wirksamkeit keineswegs verloren hat und warum überdies der Rat der Gemeinde Krockow auf eine Initiative des Bürger­meisters hin 2011 beschlossen hat, den Verlauf der 1920 gezogenen Grenze durch Unter­rich­tungs­tafeln und Granit­säulen wieder ins Bewusstsein der Bürger und Touristen zu heben, und sich von diesem Plan auch nicht durch anfäng­liche Proteste und Zerstö­rungsakte abbringen ließ. Mittler­weile finden die Grenz­mar­kie­rungen und Infor­ma­ti­ons­an­gebote eine breite und einhellig positive Resonanz. Zwischen der Nord-Kaschubei und „Versailles“ besteht, so legt diese mikro­his­to­rische Betrachtung nahe, offenbar eine spezi­fische, enge Verknüpfung, die dafür sorgen dürfte, dass der lange Schatten der Pariser Vorort­ver­träge in dieser Region auch weiterhin noch deutlich erkennbar bleiben wird.