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Vor 100 Jahren – Das Ende von Westpreußen (3)

Die „Vierteilung“ der Provinz Westpreußen nach dem Ersten Weltkrieg — Danzig und Westpreußen in der Politik der Siegermächte

Von Lutz Oberdörfer

ZUR AUSGANGSLAGE

Im Ver­lauf  des Welt­krie­ges zeich­ne­ten sich im öst­li­chen Euro­pa dra­ma­ti­sche Ver­än­de­run­gen der Ver­hält­nis­se ab, die bis zu des­sen Aus­bruch durch die Domi­nanz drei­er Groß­rei­che als inte­gra­ler Bestand­teil der euro­päi­schen „balan­ce of power“ bestimmt waren :  Russ­land, Deutsch­land und Österreich-Ungarn. Auch für das drei­ge­teil­te Polen – Jochen Böh­ler hat gera­de im West­preu­ßen dazu geschrie­ben – boten sich neue Mög­lich­kei­ten, deren kon­kre­te Umset­zung aller­dings von der Ent­wick­lung der Lage an den Fron­ten und den Kräfte- wie Interessen­verhältnissen am Ende des Gro­ßen Krie­ges abhing. Aus Raum­grün­den kann hier nur auf das Lager der Entente-Mächte kurz ein­ge­gan­gen wer­den. Weil Groß­bri­tan­ni­en und Frank­reich das domi­nie­ren­de rus­si­sche Inter­es­se in der Regi­on aner­kann­ten, rich­te­ten die pol­ni­schen National­demokraten ihre Bemü­hun­gen zunächst vor allem auf die Füh­rung in Petro­grad, wobei sie auf die her­aus­ra­gen­de Bedeu­tung der Gewin­nung von Dan­zig und Thorn ver­wie­sen. Zwar zeig­te sich Russ­land unter der wach­sen­den Last des Krie­ges gegen­über der Idee eines König­rei­ches Polen auf­ge­schlos­sen, wenn auch unter einer nicht ver­han­del­ba­ren Bedin­gung :  Polen muss­te sich eng an das Zaren­reich anleh­nen und mit der Kro­ne der Roma­nows ver­bun­den blei­ben. Gegen­über pol­ni­schen Wün­schen nach West- und Ost­preu­ßen reagier­ten rus­si­sche Diplo­ma­ten eher unver­bind­lich. Aller­dings, die Regie­run­gen in Paris und Petro­grad ver­stän­dig­ten sich im März 1917 ins­ge­heim dar­auf, dass Russ­land nach dem Krieg die weit­rei­chen­den fran­zö­si­schen Zie­le bis zum Rhein unter­stüt­zen wer­de. Frank­reich sicher­te sei­ner­seits dem Bünd­nis­part­ner freie Hand für sei­ne weit­rei­chen­den Ter­ri­to­ri­al­zie­le im Wes­ten zu und bestä­tig­te Russ­lands Ent­schei­dungs­recht in der pol­ni­schen Fra­ge. Anders als beim eben­falls gehei­men Sykes-Picot-Sasonow-Abkommen von 1916 zur Auf­tei­lung des Osma­ni­schen Rei­ches oder dem Lon­do­ner Ver­trag über den Preis des ita­lie­ni­schen Kriegs­ein­tritts war Lon­don nicht beteiligt.

Offi­zi­ell schlos­sen sich Groß­bri­tan­ni­en und sei­ne Entente-Partner dem Pos­tu­lat des Ende 1916 knapp wie­der­ge­wähl­ten ame­ri­ka­ni­schen Prä­si­den­ten Wil­son an, nach dem das „Selbst­be­stim­mungs­recht“ aller Völ­ker Grund­la­ge für einen Frie­dens­schluss sein soll­te. Ihre Zustim­mung fand auch Wil­sons Vor­stoß von Anfang 1917 für ein „eini­ges, unab­hän­gi­ges und auto­no­mes Polen“.

Schon Mit­te 1916 hat­te sich das bri­ti­sche Kabi­nett intern dar­auf ver­stän­digt, dass zur Schaf­fung der gewünsch­ten sta­bi­len Nach­kriegs­ord­nung das „Natio­na­li­tä­ten­prin­zip einen der bestim­men­den Fak­to­ren“ für Ter­ri­to­ri­al­ent­schei­dun­gen dar­stel­le. Es dür­fe aber – wenn irgend mög­lich – nie so weit getrie­ben wer­den, „dass dar­aus wahr­schein­li­che Gefah­ren für den zukünf­ti­gen Frie­den Euro­pas ent­ste­hen könn­ten“. Als Haupt­auf­ga­be der bri­ti­schen Diplo­ma­tie galt die Maxi­me, die Ent­ste­hung neu­er Gefah­ren­her­de (dan­ger spots) „vom Elsass-Lothringen Typ“ zu ver­mei­den. Zu leicht könn­te dar­aus in nicht zu fer­ner Zukunft der Fun­ke für einen neu­en Krieg (im Osten) schla­gen, der dann wahr­schein­lich auch Eng­land und sein Empire mit ver­hee­ren­den Fol­gen in einen zwei­ten gewal­ti­gen Waf­fen­gang hin­ein­zie­hen wür­de. Die­se Posi­ti­on bestimm­te auch die Hal­tung zur Pro­ble­ma­tik eines See­zu­gangs für ein auto­no­mes bzw. (spä­ter) unab­hän­gi­ges Polen. Aller­dings genoss die­se Fra­ge bei den welt­weit enga­gier­ten angel­säch­si­schen Mäch­ten kei­ne gro­ße Prio­ri­tät. Weder Ame­ri­ka­ner noch Bri­ten hiel­ten ent­spre­chen­de For­de­run­gen für ein vita­les Kriegs­ziel. Im bri­ti­schen Kabi­nett domi­ner­te die Auf­fas­sung, dass „die Bri­ten“ nicht bereit wären, für einen direk­ten pol­ni­schen See­zu­gang zu kämp­fen und es schon allein des­halb unklug wäre, die­ses zum bri­ti­schen Kriegs­ziel zu erklä­ren. In die­sem Sin­ne hat­te Pre­mier Lloyd Geor­ge am 5. Janu­ar 1918 in sei­ner „Kriegs­ziele Rede“ erklärt, dass sein Land kei­ne ver­trag­li­chen Ver­pflich­tun­gen über­nom­men habe, aber dem Grund­satz eines unab­hän­gi­gen und ver­ein­ten Polens zustim­me. In sei­ner 14-Punkte-Erklärung eini­ge Tage spä­ter befür­wor­te­te der ame­ri­ka­ni­sche Prä­si­dent die „Errich­tung“ eines unab­hängigen pol­ni­schen Staa­tes mit einem frei­en und siche­ren Zugang zum Meer. Ver­ständ­li­cher­wei­se zeig­ten sich pol­ni­sche Ver­tre­ter wie Pade­rew­ski dar­über irri­tiert, dass Wil­son an die­ser Stel­le das Wort „muss“ (must) im Ent­wurf durch „soll­te“ (should) ersetzt hatte.

ZWISCHEN DEM AUSSCHEIDEN RUSSLANDS AUS DEM KRIEG UND DER PARISER FRIEDENSKONFERENZ
Perspektiven und Postulate

Die skiz­zier­te Situa­ti­on änder­te sich radi­kal mit dem Sieg der Bol­sche­wis­ten im Okto­ber 1917 und dem Aus­schei­den Russ­lands aus dem Krieg. Wenn auch der Krieg im Lager der Entente und der asso­zi­ier­ten USA bis in den Som­mer 1918 hin­ein als noch lan­ge nicht vor sei­nem Ende ste­hend gese­hen wur­de :  Die zukünf­ti­ge Rol­le eines unab­hän­gi­gen Polens in Euro­pa ein­schließ­lich sei­ner Gren­zen kam nun auf die Tages­ord­nung der West­mäch­te. Die damit ver­bun­de­nen Mög­lich­kei­ten vor Augen, inten­si­vier­ten pol­ni­sche Ver­tre­ter mas­siv ihre Anstren­gun­gen in den alli­ier­ten Haupt­städ­ten. Da die Wie­der­her­stel­lung pol­ni­scher Staat­lich­keit bei einer Nie­der­la­ge der Mit­tel­mäch­te nun gesi­chert schien, kon­zen­trier­ten sie sich auf die zukünf­ti­gen Gren­zen. Alle pol­ni­schen poli­ti­schen Grup­pie­run­gen waren sich trotz viel­fäl­ti­ger Kon­flik­te unter­ein­an­der zumin­dest in der For­de­rung einig, dass der ange­streb­te star­ke und ter­ri­to­ri­al aus­ge­dehn­te pol­ni­sche Staat einen eige­nen und wei­ten Zugang zur Ost­see mit Dan­zig als Haupt­ha­fen haben müs­se. Die Wün­sche der ansäs­si­gen Bewoh­ner waren die­sem Ziel unterzuordnen.

Schnell wur­de deut­lich, dass die West­mäch­te zwar im grund­sätz­li­chen Ziel der Schaf­fung einer sta­bi­len Nach­kriegs­ord­nung über­ein­stimm­ten, es über das Wie aber unter­schied­li­che Auf­fas­sun­gen gab. Stark ver­all­ge­mei­nert :  Washing­ton und Lon­don woll­ten, dass Deutsch­land einen sehr hohen Preis für den Krieg bezah­len müs­se. Im Inter­es­se eines funk­ti­ons­fä­hi­gen inter­na­tio­na­len Gleich­ge­wichts und des Wie­der­auf­baus Euro­pas soll­te Deutsch­land schritt­wei­se in eine liberal-kapitalistische Nach­kriegs­ord­nung ein­ge­bun­den wer­den. In einem sta­bi­len und prospe­rierenden Umfeld könn­ten spä­ter „legi­ti­me For­de­run­gen“ der wie­der erstark­ten Mäch­te Deutsch­land und Russ­land berück­sich­tigt wer­den, ohne dabei das euro­päi­sche Gleich­ge­wicht völ­lig zu zer­stö­ren. Frank­reich hin­ge­gen streb­te die Rol­le der kon­ti­nen­ta­len Füh­rungs­macht an, befür­wor­te­te die maxi­ma­le und dau­er­haf­te Schwä­chung Deutsch­lands ein­schließ­lich gro­ßer Gebiets­ver­lus­te im Wes­ten und Osten und sah in Polen den Ersatz für Russ­land als öst­li­chen Grund­pfei­ler sei­nes Alli­anz­sys­tems. Des­halb unter­stütz­te Frank­reich auch weit­rei­chen­de pol­ni­sche Ter­ri­to­ri­al­for­de­run­gen, die im Osten die Gren­zen des mul­ti­na­tio­na­len Polen-Litauen vor der ers­ten Tei­lung als Grund­la­ge nah­men und im Wes­ten über die­se hin­aus­gin­gen. Häu­fig akzep­tier­te Paris den Pri­mat his­to­ri­scher und stra­te­gi­scher Argu­men­te ;  jeden­falls dann, wenn es für Frank­reich nütz­lich erschien. Dem pol­ni­schen National­komitee unter Roman Dmow­ski ver­si­cher­te Cle­men­ceau sogar öffent­lich, dass Frank­reich nach dem Sieg über Deutsch­land alles in sei­ner Macht ste­hen­de zur Wiederher­stellung eines frei­en, unab­hän­gi­gen und mäch­ti­gen Polen auf der Grund­la­ge der pol­ni­schen Ter­ri­to­ri­al­vor­stel­lun­gen tun wer­de. Dazu zähl­te aus­drück­lich der direk­te Zugang zur Ost­see über Dan­zig. Ein Memo­ran­dum des Quai d’Orsay vom Dezem­ber 1918 beton­te in die­sem Zusam­men­hang auch, dass eine umfang­rei­che ter­ri­to­ria­le Expan­si­on Polens auf deut­sche Kos­ten eine wün­schens­wer­te Garan­tie für eine deutsch-polnische Dau­er­feind­schaft dar­stel­le. Auf die­se Wei­se blieb Polen auf fran­zö­si­schen Good­will angewiesen.

Völ­lig aus­schlie­ßen moch­te Paris eine blo­ße Internatio­nalisierung der Weich­sel und pol­ni­sche Frei­ha­fen­rech­te in Dan­zig intern aber nicht. Jede Suche nach einer Paket­lö­sung schloss ein Geben und Neh­men ein.

Auch Bri­ten und Ame­ri­ka­ner sahen mit­tel­ost­eu­ro­päi­sche Fra­gen pri­mär durch die Bril­le ihrer Deutschland- und Russ­land­po­li­tik. Anders als vie­le in der fran­zö­si­schen oder gar in der pol­ni­schen Füh­rung hiel­ten sie es für völ­lig unver­meid­lich, dass frü­her oder spä­ter bei­de wie­der Vor­mäch­te der Regi­on sein wür­den. Sta­bi­le Ver­hält­nis­se in Mit­tel­ost– / Ost­eu­ro­pa wären dann nur noch mit, aber nicht gegen sie mög­lich. Allein vom Poten­zi­al her blie­be Polen ihnen deut­lich unterlegen.

Rasch muss­ten die von unge­zähl­ten Lob­by­is­ten bedräng­ten Haupt­sie­ger­mäch­te – schon im Vor­feld der Friedens­konferenz – erken­nen, dass die Durch­set­zung gerech­ter Lösun­gen nur schwer rea­li­sier­bar war. Denn was eine Sei­te als gerecht betrach­te­te, bewer­te­te eine ande­re schnell als unge­recht. Das galt von der Danzig-Westpreußen-Problematik über Dal­ma­ti­en bis zum Gebiet um Smyr­na. Hin­zu kam, es gab kei­ne von allen Inter­es­sen­ten akzep­tierten Sta­tis­ti­ken zur natio­na­len Zusam­men­set­zung in den vie­len umstrit­te­nen Gebie­ten, dafür umso mehr sol­che, die jewei­li­ge Posi­tio­nen unter­mau­ern soll­ten. Gleich­zei­tig wur­den zur Unter­strei­chung eige­ner Ansprü­che auch stra­te­gi­sche und öko­no­mi­sche sowie his­to­ri­sche Argu­men­te bei­gebracht. Zu letz­te­ren gehör­ten Berech­nun­gen wie die natio­na­le Zusam­men­set­zung ohne vor­an­ge­gan­ge­ne Ger­ma­ni­sie­rung, Polo­ni­sie­rung, Rus­si­fi­zie­rung, Madja­risierung oder Ita­lia­ni­sie­rung aktu­ell wäre. Letzt­lich ver­geb­lich argu­men­tier­ten vor allem Bri­ten und Ame­ri­ka­ner in einer Mischung aus Über­re­dung und War­nung gegen­über den so genann­ten Nach­fol­ge­staa­ten, dass sie es sich im eige­nen Sicher­heits­in­ter­es­se über­haupt nicht leis­ten könn­ten, unver­söhn­lich auf Ter­ri­to­ri­en zu bestehen, auf die zwei oder mehr Staa­ten kom­pro­miss­los Anspruch erho­ben :  z. B. auf das Tesche­ner Schle­si­en, das Wilna-Gebiet, Ost­ga­li­zi­en, Sie­ben­bür­gen, dal­ma­ti­ni­sche und istri­sche Gebie­te, das Banat oder die Dobrud­scha. Die zwangs­wei­se dar­aus ent­ste­hen­den insta­bi­len Ver­hält­nis­se wür­den die drin­gend benö­tig­ten Inves­to­ren abschre­cken und noch dazu eine spä­te­re Revi­si­ons­po­li­tik begünstigen.

Memoranden und Statistiken

In Vor­be­rei­tung der Frie­dens­kon­fe­renz ließ die bri­ti­sche Füh­rung eine Rei­he von Denk­schrif­ten erar­bei­te­ten, die den bis­he­ri­gen Mei­nungs­bil­dungs­pro­zess und die die­sem zugrun­de geleg­ten Fak­ten, Per­zep­tio­nen und Wer­tun­gen zusam­men­fass­ten und als eine Art von Grund­la­gen­pa­pie­ren für die in Paris bevor­ste­hen­den kom­pli­zier­ten Ver­hand­lun­gen ange­legt waren. Von grund­sätz­li­cher Bedeu­tung waren die Wie­der­her­stel­lung und Siche­rung eines sta­bi­len Mäch­te­gleich­ge­wichts. Bri­san­te Ter­ri­to­ri­al­fra­gen wur­den fast aus­schließ­lich im Osten erwar­tet. Nur „gerech­te Abkom­men“ ver­spra­chen Sta­bi­li­tät und Dau­er­haf­tig­keit. Dazu zitier­te die Denk­schrift über Grund­la­gen der zu schaf­fen­den Frie­dens­ord­nung aus­drück­lich Prä­si­dent Wil­son mit den Wor­ten :  „Wir müs­sen (auch) jenen gegen­über gerecht sein, gegen­über denen wir wünsch­ten unge­recht zu sein.“ In der vom Außen­mi­nis­te­ri­um erar­bei­te­ten „Polen­denk­schrift“ wur­de die Bedeu­tung eines eth­no­gra­fisch kom­pak­ten Polens bekräf­tigt. Die Umset­zung der viel wei­ter­ge­hen­den For­de­run­gen der Polen wür­de ihren Staat ten­den­zi­ell schwä­chen „und sei­ne Posi­ti­on unmög­lich machen“. Wört­lich hieß es :

Falls die Frie­dens­kon­fe­renz grö­ße­re Tei­le von Deut­schen oder Rus­sen bewohn­ten Lan­des oder Gebie­te, deren Bewoh­ner eine Uni­on mit Russ­land oder Deutsch­land wün­schen, an Polen über­gibt, lau­fen wir das Risi­ko wie­der jene Umstän­de zu bele­ben, die im 18. Jahr­hun­dert zur Tei­lung Polens führten.

Soll­te die natio­na­le Ein­heit Deutsch­lands und Russ­lands gebro­chen und ihre wich­tigs­ten natio­na­len Inter­es­sen ver­letzt wer­den, dann „wer­den sie sich ohne Zwei­fel zusam­men­tun“, um das ihnen in der Stun­de ihrer Schwä­che „auf­ge­zwun­ge­ne Unrecht“ wie­der gut zu machen. Des­halb und um der siche­ren Zukunft Polens wil­len müss­te allen „über­zo­ge­nen“ pol­ni­schen For­de­run­gen mit Här­te begeg­net wer­den. Anders als etwa Sena­tor Wil­liam Borah, der die pol­ni­schen For­de­run­gen zumin­dest in der See­küs­ten­fra­ge weit­ge­hend unter­stütz­te, teil­te Wil­sons Inti­mus Wal­ter Lipp­mann die bri­ti­schen Beweg­grün­de. Für ihn war das von Frank­reich unter­stütz­te Stre­ben nach einem Polen mit gro­ßen natio­na­len Min­der­hei­ten „ein gefähr­li­ches Stück Tor­heit“. Polen wür­de sich ohne kla­re Mäßi­gung sei­ner Ter­ri­to­ri­al­for­de­run­gen zu „einer Gei­sel des Glücks“ machen.

 Doch wie soll­te Polens „Zugang zur (Ost)See“ gewähr­leis­tet wer­den ?  – Bis Ende 1918 befür­wor­te­ten Eng­land und die USA eine garan­tier­te Nut­zung der Weich­sel sowie einen pol­ni­schen Frei­ha­fen in Dan­zig. Es han­del­te sich im Kern um eine Lösung, wie Prag und Ber­lin sie nach einem Beschluss der Frie­dens­kon­fe­renz für die Tsche­cho­slo­wa­kei akzep­tier­ten und erfolg­reich umsetz­ten :  Unge­hin­der­te Nut­zung von Elbe und Oder sowie Frei­hä­fen in Ham­burg und Stet­tin. Ähn­li­ches soll­te die deut­sche Regie­rung im Früh­jahr – wenn auch ergeb­nis­los – Polen für die Oder und Stet­tin, die Weich­sel und Dan­zig sowie den Pre­gel und Königs­berg anbieten.

Da die gro­ße Mehr­heit der Dan­zi­ger wie auch das Gebiet öst­lich der Weich­sel deutsch war und weil nach den vor­lie­gen­den Infor­ma­tio­nen sich alle poli­ti­schen Grup­pie­run­gen in Deutsch­land dar­in einig waren, dass der Ver­lust die­ser Gebie­te völ­lig unan­nehm­bar sei, woll­te Lon­don (wie eine Mehr­heit in der Washing­to­ner Admi­nis­tra­ti­on) die­ses so spreng­mäch­ti­ge hei­ße Eisen mög­lichst nicht anfas­sen :  Als Pro­blem stell­te sich auch her­aus, dass es zwi­schen Riga, Libau, Memel, Königs­berg und Dan­zig nicht einen mög­li­chen Hafen mit wenigs­tens star­ker pol­ni­scher Min­der­heit gab. Ein Kor­ri­dor durch West­preu­ßen wie die Über­ga­be „des rein deut­schen Dan­zigs“ wür­de „wahr­schein­lich die Posi­ti­on Polens unhalt­bar machen, falls und wenn Deutsch­land sich wie­der erholt hat“. In den Wor­ten des stell­ver­tre­ten­den Außen­mi­nis­ters Lord Cecil muss­te jede Abtren­nung Ost­preu­ßens durch einen wie immer gear­te­ten Kor­ri­dor unter­blei­ben, weil damit nur eine „nie hei­len­de Wun­de auf­ge­ris­sen würde“.

Inzwi­schen benutz­ten die Ver­ant­wort­li­chen offen­sicht­lich Daten, die nahe­leg­ten, dass sich „eine Zun­ge pol­ni­schen Lan­des“ links der Weich­sel zur Ost­see erstreck­te. Statt der als fin­giert bewer­te­ten deut­schen Sta­tis­ti­ken zur Bevöl­ke­rungs­ver­tei­lung wur­den jetzt offen­sicht­lich pol­ni­sche ver­wandt, die (wie Roger Moor­house zei­gen konn­te) ähn­lich frag­lich waren. Kein Wun­der, dass in der inter­na­tio­na­len Pres­se unter­schied­li­che Ein­schät­zun­gen über die natio­na­le Zusam­men­set­zung der Bevöl­ke­rung kur­sier­ten. Die renom­mier­te Cur­rent Histo­ry ging davon aus, dass der deut­sche Anteil der Bewoh­ner Dan­zigs bei 95 % lag und west­lich der Weich­sel kei­ne kla­ren Mehr­heits­ver­hält­nis­se bestan­den. Die eben­falls renom­mier­te New York Times bevor­zug­te pol­ni­sche Anga­ben, die auf „pri­va­ten Unter­su­chun­gen“ beruh­ten. Dem­nach stell­te die „gegen­wär­ti­ge pol­ni­sche Bevöl­ke­rung“ rund die Hälf­te der Dan­zi­ger. Ohne Ein­be­zie­hung der Gar­ni­son, der in Rüs­tungs­be­trie­ben Beschäf­tig­ten sowie der Regierungs­beamten hät­te Dan­zig eine kla­re pol­ni­sche Mehr­heit. Auf­fäl­lig ist nicht nur für die New York Times, dass die Kaschub­en, deren Anzahl in West­preu­ßen bei 200.000 lag, nicht ein­mal erwähnt wer­den. Die New York Times über­nahm (wie auch ande­re Blät­ter) eben­falls die pol­ni­sche Auf­fas­sung von einer kla­ren Domi­nanz pol­ni­scher Bevöl­ke­rung im Dan­zig west­lich umge­ben­den Ter­ri­to­ri­um sowie in der süd­öst­li­chen Regi­on bis zur rus­si­schen Gren­ze. Die Bewer­tung wur­de geteilt, nach der Dan­zig als pol­ni­scher See­ha­fen stark pro­spe­rie­ren, unter deut­scher Herr­schaft hin­ge­gen bes­ten­falls sta­gnie­ren wür­de. Deutsch­land wäre im Besitz von Dan­zig jedoch in der Lage, Polen an den Rand des öko­no­mi­schen Ruins zu treiben.

Um auf die erwähn­te bri­ti­sche Denk­schrift vom Dezem­ber 1918 zurück­zu­kom­men :  Wei­ter­hin erschien weder die Über­ga­be Dan­zigs an Polen noch die Abtren­nung Ost­preu­ßens vom übri­gen Deutsch­land poli­tisch rat­sam. Doch viel­leicht könn­te – und das war neu – der pol­ni­schen For­de­rung nach einem Hafen im Mün­dungs­ge­biet der Weich­sel durch die Schaf­fung einer Enkla­ve um Neu­fahr­was­ser „nicht weit weg von pol­ni­schem Gebiet“ zusam­men mit den Krei­sen Put­zig und Neu­stadt genü­ge getan wer­den. Zusätz­lich soll­te Polen Garan­tien für die freie Nut­zung der Weich­sel und der Eisen­bahn nach Süden bekom­men. Im „Gegen­zug“ müss­ten zur Siche­rung einer Land­ver­bin­dung zwi­schen Pom­mern und Ost­preu­ßen aber „die pol­ni­schen Krei­se Kart­haus, Berent, Konitz und Star­gard geop­fert werden“.

Anders als Frank­reich, aber ähn­lich Groß­bri­tan­ni­en und Ita­li­en hat­ten die USA im Vor­feld der Frie­dens­kon­fe­renz über amt­li­che Ver­laut­ba­run­gen all­ge­mei­ner Art (wie Wil­sons 14-Punkte-Erklärung) hin­aus kon­kre­te Zusa­gen gegen­über Polen ver­mie­den. Trotz inten­si­ver pol­ni­scher Lob­by­ar­beit blieb das Wei­ße Haus dabei, dass allein schon aus Grün­den prak­ti­scher Poli­tik der befür­wor­te­te Zugang zum Meer nur über die inter­na­tio­na­li­sier­te Weich­sel und Frei­ha­fen­rech­te gesi­chert wer­den kön­ne. Um even­tu­ell noch bestehen­de Unsi­cher­hei­ten aus­zu­räu­men, erklär­te Wil­son am 18. 12. 1918 gegen­über Mit­glie­dern der US-Verhandlungsdelegation fol­gen­de drei Grund­sät­ze :  Posen müs­se an Polen fal­len, Ost­preu­ßen dür­fe nicht durch einen Kor­ri­dor vom übri­gen Deutsch­land getrennt wer­den und der pol­ni­sche Zugang zur Ost­see kön­ne „ledig­lich“ durch die „Umwand­lung Dan­zigs in einen Frei­ha­fen“ und garan­tier­te Nut­zungs­rech­te der Eisenbahn- und Fluss­ver­bin­dun­gen geschaf­fen werden.

DIE DANZIG-KORRIDOR-FRAGE IN VERSAILLES 
Konkurrierende Modelle

Als am 18. Janu­ar 1919 im Spie­gel­saal von Ver­sailles die Frie­dens­kon­fe­renz zusam­men­trat, lag eine Fül­le von schwie­rigs­ten und zum Teil kaum lös­bar mit­ein­an­der ver­wo­be­nen wie kon­flikt­träch­ti­gen Pro­ble­men vor den Frie­dens­ma­chern. Die Neu­ord­nung Ost­mit­tel­eu­ro­pas genoss zwar nicht die höchs­te Prio­ri­tät, galt aber von vorn­her­ein als kon­flikt­be­la­den. Das lag nicht nur, aber zum erheb­li­chen Teil an den pol­ni­schen Grenz­fra­gen und deren unter­schied­li­cher Bewer­tung durch die Siegermächte.

Schon am 29. Janu­ar 1919 prä­sen­tier­te der Lei­ter der pol­ni­schen Dele­ga­ti­on, Roman Dmow­ski, dem Obers­ten Rat die Ter­ri­to­ri­al­for­de­run­gen der War­schau­er Regie­rung. Im Osten soll­ten die Gren­zen von 1772 als Aus­gangs­punkt von Ver­hand­lun­gen die­nen. Im Nor­den und Wes­ten woll­te War­schau dar­über teil­wei­se hin­aus­ge­hen. Aus­drück­lich nann­te Dmow­ski Posen, Ober­schle­si­en, einen klei­ne­ren Teil der preu­ßi­schen Pro­vinz Pom­mern, ganz West­preu­ßen mit Dan­zig sowie das süd­li­che Ost­preu­ßen. Der Nor­den Ost­preu­ßens mit Königs­berg soll­te eng mit Polen ver­bun­den und schritt­wei­se polo­ni­siert wer­den. Memel konn­te im Rah­men der ange­streb­ten Uni­on an Litau­en fal­len und zum Haupt­ha­fen für das noch zu gewin­nen­de gro­ße Ost­po­len wer­den. Dmow­ski wie­der­hol­te am 29. Janu­ar die Ableh­nung jeder Kor­ri­dor­lö­sung, weil sie zu einem Dau­er­kon­flikt mit Deutsch­land füh­re und Polen zu wenig Sicher­heit böte. Die Deut­schen wür­den immer bestrebt sein, eine ter­ri­to­ria­le Ver­bin­dung zu einem bei Deutsch­land blei­ben­den Ost­preu­ßen wie­der­her­zu­stel­len. Wäh­rend Frank­reich gene­rel­le Zustim­mung signa­li­sier­te, lehn­ten Bri­ten und Ame­ri­ka­ner den Umfang der For­de­run­gen ab.

Bei den Ver­hand­lun­gen der damit beauf­trag­ten Kom­mis­si­on für pol­ni­sche Ange­le­gen­hei­ten unter Lei­tung von Jules Cam­bon schien sich den­noch eine für Polen güns­ti­ge Lösung anzu­bah­nen. Die aller­dings ohne spe­zi­el­le Instruk­ti­on han­deln­den Ver­tre­ter der USA und Groß­bri­tan­ni­ens stimm­ten unter Beto­nung stra­te­gi­scher, öko­no­mi­scher und kom­mer­zi­el­ler Grün­de, die dem Selbst­be­stim­mungs­recht der betrof­fe­nen Deut­schen vor­ge­hen müss­ten, einer unein­ge­schränk­ten Kon­trol­le Polens über Dan­zig und einem brei­ten Kor­ri­dor bei­der­seits der Weich­sel zu. Unter Beru­fung auf fran­zö­si­sche Quel­len berich­te­te die New York Times am 18. März, dass der Kor­ri­dor von einer Linie öst­lich von Lau­en­burg, Konitz und Schnei­de­mühl bis über das Fri­sche Haff bis zu einer Linie west­lich von Elb­ing und ­Oster­ode ver­lau­fen sol­le. Wäh­rend die pol­ni­sche Dele­ga­ti­on grund­sätz­lich posi­tiv reagier­te, kam rasch hef­ti­ge Kri­tik aus Lon­don und der Dele­ga­ti­on des bri­ti­schen Empire. Nach­hal­ti­ge Unter­stüt­zung erhielt ihre Posi­ti­on von füh­ren­den libe­ra­len Zei­tun­gen wie Guar­di­an oder Obser­ver und aus der Labour-Partei, die die Ein­be­zie­hung west- und ost­preu­ßi­scher Gebie­te gegen den Wil­len der Bewoh­ner in ein so­genanntes Groß­po­len wie die Errich­tung eines Kor­ri­dors durch deut­sches Gebiet ablehn­te. Der not­wen­di­ge See­zu­gang für Polen sei nur über eine Inter­na­tio­na­li­sie­rung der Weich­sel und Frei­ha­fen­rech­te in Dan­zig akzep­ta­bel. Unter­stüt­zung bekam die Kom­mis­si­on für ihre Emp­feh­lung hin­ge­gen aus der radi­ka­len und kon­ser­va­ti­ven Presse.

Unter­stützt von Wil­son, bemüh­te sich Lloyd Geor­ge nach sei­ner Rück­kehr aus Lon­don inten­siv um eine Revi­si­on der von Frank­reich vehe­ment befür­wor­te­ten Kommissions­empfehlungen. Für ihn über­wo­gen wei­ter­hin die Nach­tei­le eines pol­ni­schen Dan­zigs und eines wei­ten Kor­ri­dors die von den Befür­wor­tern vor­ge­brach­ten Vor­tei­le für Polen :  Nur so könn­te Polen wirt­schaft­lich pro­spe­rie­ren, sei­ne Unab­hän­gig­keit sichern und sich gegen spä­ter zu erwar­ten­de deut­sche Revan­che­be­stre­bun­gen behaup­ten. Unab­hän­gig vom Umfang ihrer Ter­ri­to­ri­al­ver­lus­te – die Deut­schen wür­den sich nie mit ihrer Nie­der­la­ge abfin­den und „respek­tier­ten allein Stär­ke“, mein­te nicht nur Cam­bon. Die Sta­bi­li­tät und der Frie­den Euro­pas erfor­der­ten ein mäch­ti­ges Polen als Bünd­nis­part­ner Frank­reichs, ein gro­ßes Polen mit wei­tem Zugang zum Meer. Ähn­lich argu­men­tier­ten die Ver­tre­ter Polens, die gleich­zei­tig „die Rück­ga­be“ Dan­zigs und West­preu­ßens als Akt der Wie­der­gut­ma­chung des nie ver­ges­se­nen Unrechts von 1793 betrach­te­ten, als die alte Han­se­stadt mit ihrer wech­sel­vol­len Geschich­te im Rah­men der zwei­ten pol­ni­schen Tei­lung an Preu­ßen gefal­len war. Soll­te Polen Dan­zig nicht bekom­men, dann sei „der Krieg für Polen ver­lo­ren“ (äußer­te Pade­rew­ski z. B. am 6. 4. 1919 gegen­über der Nachrichten- und Pres­se­agen­tur AP).

Der Weg bis zum Kompromiss

Ohne inten­si­ver auf Details ein­zu­ge­hen, für den bri­ti­schen Pre­mier und sei­ne Regie­rung blieb „Grea­ter Pol­and – Groß­po­len“ mit Ein­be­zie­hung vie­ler Min­der­hei­ten gegen deren Wil­len vor allem ein Fak­tor zukünf­ti­ger Insta­bi­li­tät. Aktu­ell moch­te die Sie­ger­mäch­te (mit unter­schied­li­chen Schluss­fol­ge­run­gen zum ange­ra­te­nen Reagie­ren) beson­ders beun­ru­hi­gen, dass sich Polen wei­ter­hin in erklär­ten oder nicht erklär­ten Krie­gen mit sei­nen Nach­barn befand und sich im Spät­win­ter / Früh­jahr 1919 der bewaff­ne­te Kon­flikt mit den Sowjets deut­lich ver­schärf­te – in Ver­sailles kon­zen­trier­te sich die per­spek­ti­vi­sche Haupt­sor­ge um die Über­zeu­gung, dass die Weg­nah­me Dan­zigs und West­preu­ßens im Bewusst­sein aller Deut­schen ein „nie auf hören­des“ Gefühl unge­rech­ter Behand­lung erzeu­ge. Mit wahr­schein­lich fata­len Fol­gen für Euro­pa wür­de auf die­se Wei­se in Paris die Saat einer neu­en gro­ßen Kata­stro­phe gelegt. Ame­ri­ka­ni­sche Di­plomaten berich­te­ten aus ihren Ein­satz­län­dern z. B., dass die gesam­te pol­ni­sche Nati­on einen direk­ten See­zu­gang mit Dan­zig als unver­zicht­ba­re For­de­rung ansä­he, wäh­rend alle Deut­schen von links bis rechts eine Abtre­tung Dan­zigs und die Schaf­fung eines Kor­ri­dors für Polen als „ekla­tant unge­recht“ betrach­te­ten. Eine erzwun­ge­ne Über­ga­be Dan­zigs und West­preu­ßens wür­de dem­nach zu „end­lo­sen Aus­ein­an­der­set­zun­gen“ füh­ren und zu einer mäch­ti­gen Waf­fe in der Hand radi­ka­ler Natio­na­lis­ten wer­den. In West­preu­ßen waren sich alle deut­schen poli­ti­schen Par­tei­en zumin­dest in einem Ziel einig :  der „Deut­scher­hal­tung Dan­zigs und West­preu­ßens“. Dage­gen gab es für die pol­ni­schen Zei­tun­gen von der Gaze­ta Grud­ziądzka bis zur Gaze­ta Toruńs­ka nur eine Lösung – Dan­zig und West­preu­ßen muss­ten Teil Polens wer­den. Unter­stüt­zung fan­den sie in eini­gen Arti­keln gro­ßer ame­ri­ka­ni­scher Zei­tun­gen, in denen davor gewarnt wur­de, vita­le Inter­es­sen Polens zu opfern. In einem lan­gen Bei­trag der Washing­ton Post vom 24. Mai 1919 unter der Über­schrift „Fail­ure to give Dan­zig port to Pol­and may lea­ve war spoils in grasp of Huns“ argu­men­tier­te ein nament­lich nicht genann­ter „ Ex-Attaché“, dass ohne wei­ten und siche­ren See­zu­gang mit Dan­zig kein star­kes Polen und damit auch nicht der nöti­ge „mäch­ti­ge Puf­fer­staat“ mög­lich sei, um Russ­land von Deutsch­land zu tren­nen und vor „ger­ma­ni­scher poli­ti­scher und öko­no­mi­scher Aggres­si­on zu schüt­zen“ :  Man dür­fe Polen des­halb nicht als „Kriegs­beu­te in den Fän­gen der Hun­nen lassen“.

In der erbit­ter­ten Kon­tro­ver­se mit der fran­zö­si­schen Füh­rung kon­zen­trier­te sich Lloyd Geor­ge auf die aus bri­ti­scher Sicht vom vor­ge­schla­ge­nen Weich­sel­ab­kom­men aus­ge­hen­den Gefah­ren zukünf­ti­ger Krie­ge. Die Washing­ton Post vom 24. März infor­mier­te über sei­ne Auf­fas­sung, dass die geplan­te Ein­glie­de­rung vie­ler Deut­scher in Polen sehr wahr­schein­lich nur die Saat für einen „wei­te­ren Krieg“ lege. Wäh­rend der inter­nen Ver­hand­lun­gen der Gro­ßen Drei frag­te er, ob jemand (in der spä­te­ren Nor­ma­li­tät des Frie­dens) bereit sei, zur Behaup­tung pol­ni­scher Herr­schaft über die deut­sche Groß­stadt Dan­zig gege­be­nen­falls eige­ne Trup­pen in Marsch zu set­zen. Das Schwei­gen selbst Cle­men­ce­aus sprach für sich. Auf die direkt an Cle­men­ceau gerich­te­te Fra­ge, ob denn jemand wol­len kön­ne, dass die Deut­schen, so wie es die Fran­zo­sen nach 1871 mit Straß­burg getan hat­ten, in ihren Städ­ten Sta­tu­en von Dan­zig „in Trau­er“ auf­stell­ten, da ant­wor­te­te der star­ke Mann der fran­zö­si­schen Poli­tik :  „Auch ich will das nicht.“ Wil­son, der in der Danzig-Korridor-Frage grund­sätz­lich die bri­ti­schen Argu­men­te unter­stütz­te, ver­wies auf die rea­le Mög­lich­keit, dass bei den Deut­schen spä­ter ein­mal der Wunsch ent­ste­hen kön­ne, ihre Lands­leu­te wie­der von pol­ni­scher Herr­schaft zu befrei­en. Er füg­te hin­zu, „dass es schwer wäre, die­sem Wunsch zu widerstehen“.

Unter mas­si­vem Zeit- und Eini­gungs­druck ver­stän­dig­ten sich die Groß­mäch­te am 1. April grund­sätz­lich auf fol­gen­de Kom­pro­miss­li­nie :  Dan­zig und Umge­bung wer­den Frei­staat unter Garan­tie des Völ­ker­bun­des, und Polen bekommt garan­tier­te Hafen- und Tran­sit­rech­te sowie wei­te­re umfas­sen­de Son­der­rech­te und ohne Volks­ab­stim­mung als Teil des pol­ni­schen Staats­ge­bie­tes einen Kor­ri­dor am West­ufer der Weich­sel. Frank­reich muss­te als Gegen­leis­tung für das britisch-amerikanische Ent­ge­gen­kom­men Ple­bis­zi­te, nicht nur in Erm­land und Masu­ren, son­dern auch in Marienburg-Marienwerder akzep­tie­ren. Die für Polen ungüns­ti­gen Ergeb­nis­se der Volks­ab­stim­mun­gen im Juli 1920 wur­den in Lon­don und Washing­ton all­ge­mein erwartet.

Ein brüchiger Friede

Die pol­ni­sche Dele­ga­ti­on, die trotz fran­zö­si­schen Wun­sches vor der Ent­schei­dung nicht ange­hört wor­den war, zeig­te sich empört und such­te nach Wegen, doch noch eine pol­ni­sche Domi­nanz in Dan­zig zu errei­chen. Schon am 10. April infor­mier­te Esme Howard sei­ne Vor­ge­setz­ten, die „gro­ße Furcht der Polen“ sei, dass Dan­zig nun „sei­nen deut­schen Cha­rak­ter behal­ten wer­de“. Ame­ri­ka­ner und Bri­ten lehn­ten jedoch gegen­über Pade­rew­ski und Dmow­ski eine wie auch immer gear­te­te pol­ni­sche Auto­ri­tät über Dan­zig unmiss­ver­ständ­lich ab. Um befürch­te­te pol­ni­sche Ver­su­che von vorn­her­ein zu ver­hin­dern, Dan­zig im Hand­streich unter Kon­trol­le zu neh­men, soll­te – ent­ge­gen pol­ni­schen Inten­tio­nen – die Sicher­heit Dan­zigs allein dem Völ­ker­bund oblie­gen. Teil des Deals zwi­schen Frank­reich und Groß­bri­tan­ni­en war die Fest­le­gung, dass ein Bri­te solan­ge Hoch­kom­mis­sar in Dan­zig sein soll­te, wie ein Fran­zo­se Chef der Regie­rungs­kom­mis­si­on im Saar­land war.

Mit der Rati­fi­ka­ti­on des Ver­sailler Ver­tra­ges vom 18. Juni 1919, die das deut­sche Par­la­ment am 9. Juli 1919 voll­zog, wur­de die Bil­dung eines pol­ni­schen Kor­ri­dors zur Ost­see und die Umwand­lung Dan­zigs in einen Frei­staat unter dem Schutz des Völ­ker­bun­des gül­ti­ges Völ­ker­recht. Kaum jemand der inter­na­tio­nal Ver­ant­wort­li­chen nahm Notiz davon, dass die bis dahin ohne­hin kaum bekann­te Pro­vinz West­preu­ßen de fac­to in vier Tei­le zer­fiel :  Den pol­ni­schen Kor­ri­dor und die Freie Stadt Dan­zig. Alle west­lich der Weich­sel ver­blei­ben­den Gebie­te kamen zur spä­te­ren Grenz­mark Posen-Westpreußen und aus jenen öst­lich der Weich­sel wur­de sodann der Regie­rungs­be­zirk West­preu­ßen gebil­det und in die Pro­vinz Ost­preu­ßen integriert.

Noch offe­ne ein­zel­ne Fra­gen bzw. Regu­la­ri­en soll­ten unter der Ägi­de der Pari­ser Bot­schaf­ter­kon­fe­renz aus­ge­han­delt wer­den, was sich als ein mühe­vol­ler und sich hin­zie­hen­der Pro­zess her­aus­stel­len soll­te, der bei allen Betrof­fe­nen eine Men­ge an Frus­tra­ti­on her­vor­rief. Spe­zi­ell die genaue Rege­lung der Weich­sel­gren­ze lös­te in Deutsch­land Stür­me der Ent­rüs­tung aus, da sie Preu­ßen nahe­zu völ­lig vom Fluss abschnitt.

Wie nicht anders zu erwar­ten, wur­de die in Ver­sailles bestimm­te Danzig-Korridor-Regelung sowohl von Deut­schen als auch Polen hef­tig kri­ti­siert und empört zurück­ge­wie­sen. Mit Sor­ge kon­sta­tier­ten inter­na­tio­na­le Beob­ach­ter, dass Ber­lin wie War­schau oder Dan­zig den Ver­sailler Groß­mäch­te­kom­pro­miss pri­mär als Übergangs­stadium zur Rück- bzw. Ein­glie­de­rung Dan­zigs zu betrach­ten schienen.

Auch im Lager der Sie­ger­mäch­te waren die Mei­nun­gen geteilt. Nicht nur in der Lon­do­ner Dow­ning Street hielt man das Danzig-Korridor-Abkommen für kei­nen guten Kom­pro­miss, son­dern ledig­lich als das gerin­ge­re von zwei Übeln. Gro­ße Zwei­fel gab es an der Dau­er­haf­tig­keit der Rege­lung und Sor­gen vor deren Spreng­mäch­tig­keit. Ant­o­ny Len­tin hat tref­fend dazu bemerkt, dass sich „der (Holz)Wurm des Appease­ments“ – Ent­ge­gen­kom­men gegen­über Deutsch­land – schon „im Gebälk der Ver­sailler Kon­fe­renz“ ein­nis­te­te. Sehr früh begann vor allem bei Bri­ten und Ame­ri­ka­nern die Suche nach Mög­lich­kei­ten zur Ent­schär­fung des „gefähr­lichs­ten euro­päi­schen Kri­sen­her­des“ – wie es zuneh­mend hieß.

Die Zukunft muss­te zei­gen, ob die Opti­mis­ten unter den Ver­fech­tern der Frei­staat / Korridor-Lösung mit ihrer Hoff­nung Recht behiel­ten, dass schließ­lich doch die Vor­tei­le gedeih­li­cher Zusam­men­ar­beit auf der Grund­la­ge gegen­sei­tig guten Wil­lens Polen wie Dan­zi­ger und die Deut­schen in Deutsch­land damit aus­söh­nen wür­den, dass Dan­zig gleich­zei­tig Hafen Polens und ein deut­scher Stadt­staat sein konn­te. Damit ver­bun­de­ne Hoff­nun­gen erwie­sen sich in der Rea­li­tät aber als trü­ge­risch. Im Juli 1931 kam ein Memo­ran­dum des bri­ti­schen Außen­mi­nis­te­ri­ums zu dem ernüch­tern­den Schluss :  „Das Danzig-Abkommen hät­te nur auf der Basis von gutem Wil­len und Koope­ra­ti­ons­be­reit­schaft ver­nünf­tig funk­tio­nie­ren kön­nen. Nur dar­an man­gelt es auf bei­den Sei­ten völlig.“