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Vor 100 Jahren – Das Ende von Westpreußen (3)

Die „Vierteilung“ der Provinz Westpreußen nach dem Ersten Weltkrieg — Danzig und Westpreußen in der Politik der Siegermächte

Von Lutz Oberdörfer

ZUR AUSGANGSLAGE

Im Verlauf  des Weltkrieges zeich­neten sich im östlichen Europa drama­tische Verän­de­rungen der Verhält­nisse ab, die bis zu dessen Ausbruch durch die Dominanz dreier Großreiche als integraler Bestandteil der europäi­schen „balance of power“ bestimmt waren :  Russland, Deutschland und Österreich-Ungarn. Auch für das dreige­teilte Polen – Jochen Böhler hat gerade im Westpreußen dazu geschrieben – boten sich neue Möglich­keiten, deren konkrete Umsetzung aller­dings von der Entwicklung der Lage an den Fronten und den Kräfte- wie Interessen­verhältnissen am Ende des Großen Krieges abhing. Aus Raumgründen kann hier nur auf das Lager der Entente-Mächte kurz einge­gangen werden. Weil Großbri­tannien und Frank­reich das dominie­rende russische Interesse in der Region anerkannten, richteten die polni­schen National­demokraten ihre Bemühungen zunächst vor allem auf die Führung in Petrograd, wobei sie auf die heraus­ra­gende Bedeutung der Gewinnung von Danzig und Thorn verwiesen. Zwar zeigte sich Russland unter der wachsenden Last des Krieges gegenüber der Idee eines König­reiches Polen aufge­schlossen, wenn auch unter einer nicht verhan­del­baren Bedingung :  Polen musste sich eng an das Zaren­reich anlehnen und mit der Krone der Romanows verbunden bleiben. Gegenüber polni­schen Wünschen nach West- und Ostpreußen reagierten russische Diplo­maten eher unver­bindlich. Aller­dings, die Regie­rungen in Paris und Petrograd verstän­digten sich im März 1917 insgeheim darauf, dass Russland nach dem Krieg die weitrei­chenden franzö­si­schen Ziele bis zum Rhein unter­stützen werde. Frank­reich sicherte seiner­seits dem Bündnis­partner freie Hand für seine weitrei­chenden Terri­to­ri­al­ziele im Westen zu und bestä­tigte Russlands Entschei­dungs­recht in der polni­schen Frage. Anders als beim ebenfalls geheimen Sykes-Picot-Sasonow-Abkommen von 1916 zur Aufteilung des Osmani­schen Reiches oder dem Londoner Vertrag über den Preis des italie­ni­schen Kriegs­ein­tritts war London nicht beteiligt.

Offiziell schlossen sich Großbri­tannien und seine Entente-Partner dem Postulat des Ende 1916 knapp wieder­ge­wählten ameri­ka­ni­schen Präsi­denten Wilson an, nach dem das „Selbst­be­stim­mungs­recht“ aller Völker Grundlage für einen Friedens­schluss sein sollte. Ihre Zustimmung fand auch Wilsons Vorstoß von Anfang 1917 für ein „einiges, unabhän­giges und autonomes Polen“.

Schon Mitte 1916 hatte sich das britische Kabinett intern darauf verständigt, dass zur Schaffung der gewünschten stabilen Nachkriegs­ordnung das „Natio­na­li­tä­ten­prinzip einen der bestim­menden Faktoren“ für Terri­to­ri­al­ent­schei­dungen darstelle. Es dürfe aber – wenn irgend möglich – nie so weit getrieben werden, „dass daraus wahrschein­liche Gefahren für den zukünf­tigen Frieden Europas entstehen könnten“. Als Haupt­aufgabe der briti­schen Diplo­matie galt die Maxime, die Entstehung neuer Gefah­ren­herde (danger spots) „vom Elsass-Lothringen Typ“ zu vermeiden. Zu leicht könnte daraus in nicht zu ferner Zukunft der Funke für einen neuen Krieg (im Osten) schlagen, der dann wahrscheinlich auch England und sein Empire mit verhee­renden Folgen in einen zweiten gewal­tigen Waffengang hinein­ziehen würde. Diese Position bestimmte auch die Haltung zur Proble­matik eines Seezu­gangs für ein autonomes bzw. (später) unabhän­giges Polen. Aller­dings genoss diese Frage bei den weltweit engagierten angel­säch­si­schen Mächten keine große Priorität. Weder Ameri­kaner noch Briten hielten entspre­chende Forde­rungen für ein vitales Kriegsziel. Im briti­schen Kabinett dominerte die Auffassung, dass „die Briten“ nicht bereit wären, für einen direkten polni­schen Seezugang zu kämpfen und es schon allein deshalb unklug wäre, dieses zum briti­schen Kriegsziel zu erklären. In diesem Sinne hatte Premier Lloyd George am 5. Januar 1918 in seiner „Kriegs­ziele Rede“ erklärt, dass sein Land keine vertrag­lichen Verpflich­tungen übernommen habe, aber dem Grundsatz eines unabhän­gigen und vereinten Polens zustimme. In seiner 14-Punkte-Erklärung einige Tage später befür­wortete der ameri­ka­nische Präsident die „Errichtung“ eines unab­hängigen polni­schen Staates mit einem freien und sicheren Zugang zum Meer. Verständ­li­cher­weise zeigten sich polnische Vertreter wie Paderewski darüber irritiert, dass Wilson an dieser Stelle das Wort „muss“ (must) im Entwurf durch „sollte“ (should) ersetzt hatte.

ZWISCHEN DEM AUSSCHEIDEN RUSSLANDS AUS DEM KRIEG UND DER PARISER FRIEDENSKONFERENZ
Perspektiven und Postulate

Die skizzierte Situation änderte sich radikal mit dem Sieg der Bolsche­wisten im Oktober 1917 und dem Ausscheiden Russlands aus dem Krieg. Wenn auch der Krieg im Lager der Entente und der assozi­ierten USA bis in den Sommer 1918 hinein als noch lange nicht vor seinem Ende stehend gesehen wurde :  Die zukünftige Rolle eines unabhän­gigen Polens in Europa einschließlich seiner Grenzen kam nun auf die Tages­ordnung der Westmächte. Die damit verbun­denen Möglich­keiten vor Augen, inten­si­vierten polnische Vertreter massiv ihre Anstren­gungen in den alliierten Haupt­städten. Da die Wieder­her­stellung polni­scher Staat­lichkeit bei einer Niederlage der Mittel­mächte nun gesichert schien, konzen­trierten sie sich auf die zukünf­tigen Grenzen. Alle polni­schen politi­schen Gruppie­rungen waren sich trotz vielfäl­tiger Konflikte unter­ein­ander zumindest in der Forderung einig, dass der angestrebte starke und terri­torial ausge­dehnte polnische Staat einen eigenen und weiten Zugang zur Ostsee mit Danzig als Haupt­hafen haben müsse. Die Wünsche der ansäs­sigen Bewohner waren diesem Ziel unterzuordnen.

Schnell wurde deutlich, dass die Westmächte zwar im grund­sätz­lichen Ziel der Schaffung einer stabilen Nachkriegs­ordnung überein­stimmten, es über das Wie aber unter­schied­liche Auffas­sungen gab. Stark verall­ge­meinert :  Washington und London wollten, dass Deutschland einen sehr hohen Preis für den Krieg bezahlen müsse. Im Interesse eines funkti­ons­fä­higen inter­na­tio­nalen Gleich­ge­wichts und des Wieder­aufbaus Europas sollte Deutschland schritt­weise in eine liberal-kapitalistische Nachkriegs­ordnung einge­bunden werden. In einem stabilen und prospe­rierenden Umfeld könnten später „legitime Forde­rungen“ der wieder erstarkten Mächte Deutschland und Russland berück­sichtigt werden, ohne dabei das europäische Gleich­ge­wicht völlig zu zerstören. Frank­reich hingegen strebte die Rolle der konti­nen­talen Führungs­macht an, befür­wortete die maximale und dauer­hafte Schwä­chung Deutsch­lands einschließlich großer Gebiets­ver­luste im Westen und Osten und sah in Polen den Ersatz für Russland als östlichen Grund­pfeiler seines Allianz­systems. Deshalb unter­stützte Frank­reich auch weitrei­chende polnische Terri­to­ri­al­for­de­rungen, die im Osten die Grenzen des multi­na­tio­nalen Polen-Litauen vor der ersten Teilung als Grundlage nahmen und im Westen über diese hinaus­gingen. Häufig akzep­tierte Paris den Primat histo­ri­scher und strate­gi­scher Argumente ;  jeden­falls dann, wenn es für Frank­reich nützlich erschien. Dem polni­schen National­komitee unter Roman Dmowski versi­cherte Clemenceau sogar öffentlich, dass Frank­reich nach dem Sieg über Deutschland alles in seiner Macht stehende zur Wiederher­stellung eines freien, unabhän­gigen und mächtigen Polen auf der Grundlage der polni­schen Terri­to­ri­al­vor­stel­lungen tun werde. Dazu zählte ausdrücklich der direkte Zugang zur Ostsee über Danzig. Ein Memorandum des Quai d’Orsay vom Dezember 1918 betonte in diesem Zusam­menhang auch, dass eine umfang­reiche terri­to­riale Expansion Polens auf deutsche Kosten eine wünschens­werte Garantie für eine deutsch-polnische Dauer­feind­schaft darstelle. Auf diese Weise blieb Polen auf franzö­si­schen Goodwill angewiesen.

Völlig ausschließen mochte Paris eine bloße Internatio­nalisierung der Weichsel und polnische Freiha­fen­rechte in Danzig intern aber nicht. Jede Suche nach einer Paket­lösung schloss ein Geben und Nehmen ein.

Auch Briten und Ameri­kaner sahen mittel­ost­eu­ro­päische Fragen primär durch die Brille ihrer Deutschland- und Russland­po­litik. Anders als viele in der franzö­si­schen oder gar in der polni­schen Führung hielten sie es für völlig unver­meidlich, dass früher oder später beide wieder Vormächte der Region sein würden. Stabile Verhält­nisse in Mittelost– / Osteuropa wären dann nur noch mit, aber nicht gegen sie möglich. Allein vom Potenzial her bliebe Polen ihnen deutlich unterlegen.

Rasch mussten die von ungezählten Lobby­isten bedrängten Haupt­sie­ger­mächte – schon im Vorfeld der Friedens­konferenz – erkennen, dass die Durch­setzung gerechter Lösungen nur schwer reali­sierbar war. Denn was eine Seite als gerecht betrachtete, bewertete eine andere schnell als ungerecht. Das galt von der Danzig-Westpreußen-Problematik über Dalmatien bis zum Gebiet um Smyrna. Hinzu kam, es gab keine von allen Inter­es­senten akzep­tierten Statis­tiken zur natio­nalen Zusam­men­setzung in den vielen umstrit­tenen Gebieten, dafür umso mehr solche, die jeweilige Positionen unter­mauern sollten. Gleich­zeitig wurden zur Unter­strei­chung eigener Ansprüche auch strate­gische und ökono­mische sowie histo­rische Argumente beigebracht. Zu letzteren gehörten Berech­nungen wie die nationale Zusam­men­setzung ohne voran­ge­gangene Germa­ni­sierung, Poloni­sierung, Russi­fi­zierung, Madja­risierung oder Italia­ni­sierung aktuell wäre. Letztlich vergeblich argumen­tierten vor allem Briten und Ameri­kaner in einer Mischung aus Überredung und Warnung gegenüber den so genannten Nachfol­ge­staaten, dass sie es sich im eigenen Sicher­heits­in­teresse überhaupt nicht leisten könnten, unver­söhnlich auf Terri­torien zu bestehen, auf die zwei oder mehr Staaten kompro­misslos Anspruch erhoben :  z. B. auf das Teschener Schlesien, das Wilna-Gebiet, Ostga­lizien, Sieben­bürgen, dalma­ti­nische und istrische Gebiete, das Banat oder die Dobrudscha. Die zwangs­weise daraus entste­henden insta­bilen Verhält­nisse würden die dringend benötigten Inves­toren abschrecken und noch dazu eine spätere Revisi­ons­po­litik begünstigen.

Memoranden und Statistiken

In Vorbe­reitung der Friedens­kon­ferenz ließ die britische Führung eine Reihe von Denkschriften erarbei­teten, die den bishe­rigen Meinungs­bil­dungs­prozess und die diesem zugrunde gelegten Fakten, Perzep­tionen und Wertungen zusam­men­fassten und als eine Art von Grund­la­gen­pa­pieren für die in Paris bevor­ste­henden kompli­zierten Verhand­lungen angelegt waren. Von grund­sätz­licher Bedeutung waren die Wieder­her­stellung und Sicherung eines stabilen Mächte­gleich­ge­wichts. Brisante Terri­to­ri­al­fragen wurden fast ausschließlich im Osten erwartet. Nur „gerechte Abkommen“ versprachen Stabi­lität und Dauer­haf­tigkeit. Dazu zitierte die Denkschrift über Grund­lagen der zu schaf­fenden Friedens­ordnung ausdrücklich Präsident Wilson mit den Worten :  „Wir müssen (auch) jenen gegenüber gerecht sein, gegenüber denen wir wünschten ungerecht zu sein.“ In der vom Außen­mi­nis­terium erarbei­teten „Polen­denk­schrift“ wurde die Bedeutung eines ethno­gra­fisch kompakten Polens bekräftigt. Die Umsetzung der viel weiter­ge­henden Forde­rungen der Polen würde ihren Staat tenden­ziell schwächen „und seine Position unmöglich machen“. Wörtlich hieß es :

Falls die Friedens­kon­ferenz größere Teile von Deutschen oder Russen bewohnten Landes oder Gebiete, deren Bewohner eine Union mit Russland oder Deutschland wünschen, an Polen übergibt, laufen wir das Risiko wieder jene Umstände zu beleben, die im 18. Jahrhundert zur Teilung Polens führten.

Sollte die nationale Einheit Deutsch­lands und Russlands gebrochen und ihre wichtigsten natio­nalen Inter­essen verletzt werden, dann „werden sie sich ohne Zweifel zusam­mentun“, um das ihnen in der Stunde ihrer Schwäche „aufge­zwungene Unrecht“ wieder gut zu machen. Deshalb und um der sicheren Zukunft Polens willen müsste allen „überzo­genen“ polni­schen Forde­rungen mit Härte begegnet werden. Anders als etwa Senator William Borah, der die polni­schen Forde­rungen zumindest in der Seeküs­ten­frage weitgehend unter­stützte, teilte Wilsons Intimus Walter Lippmann die briti­schen Beweg­gründe. Für ihn war das von Frank­reich unter­stützte Streben nach einem Polen mit großen natio­nalen Minder­heiten „ein gefähr­liches Stück Torheit“. Polen würde sich ohne klare Mäßigung seiner Terri­to­ri­al­for­de­rungen zu „einer Geisel des Glücks“ machen.

 Doch wie sollte Polens „Zugang zur (Ost)See“ gewähr­leistet werden ?  – Bis Ende 1918 befür­wor­teten England und die USA eine garan­tierte Nutzung der Weichsel sowie einen polni­schen Freihafen in Danzig. Es handelte sich im Kern um eine Lösung, wie Prag und Berlin sie nach einem Beschluss der Friedens­kon­ferenz für die Tsche­cho­slo­wakei akzep­tierten und erfolg­reich umsetzten :  Ungehin­derte Nutzung von Elbe und Oder sowie Freihäfen in Hamburg und Stettin. Ähnliches sollte die deutsche Regierung im Frühjahr – wenn auch ergeb­nislos – Polen für die Oder und Stettin, die Weichsel und Danzig sowie den Pregel und Königsberg anbieten.

Da die große Mehrheit der Danziger wie auch das Gebiet östlich der Weichsel deutsch war und weil nach den vorlie­genden Infor­ma­tionen sich alle politi­schen Gruppie­rungen in Deutschland darin einig waren, dass der Verlust dieser Gebiete völlig unannehmbar sei, wollte London (wie eine Mehrheit in der Washing­toner Adminis­tration) dieses so spreng­mächtige heiße Eisen möglichst nicht anfassen :  Als Problem stellte sich auch heraus, dass es zwischen Riga, Libau, Memel, Königsberg und Danzig nicht einen möglichen Hafen mit wenigstens starker polni­scher Minderheit gab. Ein Korridor durch Westpreußen wie die Übergabe „des rein deutschen Danzigs“ würde „wahrscheinlich die Position Polens unhaltbar machen, falls und wenn Deutschland sich wieder erholt hat“. In den Worten des stell­ver­tre­tenden Außen­mi­nisters Lord Cecil musste jede Abtrennung Ostpreußens durch einen wie immer gearteten Korridor unter­bleiben, weil damit nur eine „nie heilende Wunde aufge­rissen würde“.

Inzwi­schen benutzten die Verant­wort­lichen offen­sichtlich Daten, die nahelegten, dass sich „eine Zunge polni­schen Landes“ links der Weichsel zur Ostsee erstreckte. Statt der als fingiert bewer­teten deutschen Statis­tiken zur Bevöl­ke­rungs­ver­teilung wurden jetzt offen­sichtlich polnische verwandt, die (wie Roger Moorhouse zeigen konnte) ähnlich fraglich waren. Kein Wunder, dass in der inter­na­tio­nalen Presse unter­schied­liche Einschät­zungen über die nationale Zusam­men­setzung der Bevöl­kerung kursierten. Die renom­mierte Current History ging davon aus, dass der deutsche Anteil der Bewohner Danzigs bei 95 % lag und westlich der Weichsel keine klaren Mehrheits­ver­hält­nisse bestanden. Die ebenfalls renom­mierte New York Times bevor­zugte polnische Angaben, die auf „privaten Unter­su­chungen“ beruhten. Demnach stellte die „gegen­wärtige polnische Bevöl­kerung“ rund die Hälfte der Danziger. Ohne Einbe­ziehung der Garnison, der in Rüstungs­be­trieben Beschäf­tigten sowie der Regierungs­beamten hätte Danzig eine klare polnische Mehrheit. Auffällig ist nicht nur für die New York Times, dass die Kaschuben, deren Anzahl in Westpreußen bei 200.000 lag, nicht einmal erwähnt werden. Die New York Times übernahm (wie auch andere Blätter) ebenfalls die polnische Auffassung von einer klaren Dominanz polni­scher Bevöl­kerung im Danzig westlich umgebenden Terri­torium sowie in der südöst­lichen Region bis zur russi­schen Grenze. Die Bewertung wurde geteilt, nach der Danzig als polni­scher Seehafen stark prospe­rieren, unter deutscher Herrschaft hingegen besten­falls stagnieren würde. Deutschland wäre im Besitz von Danzig jedoch in der Lage, Polen an den Rand des ökono­mi­schen Ruins zu treiben.

Um auf die erwähnte britische Denkschrift vom Dezember 1918 zurück­zu­kommen :  Weiterhin erschien weder die Übergabe Danzigs an Polen noch die Abtrennung Ostpreußens vom übrigen Deutschland politisch ratsam. Doch vielleicht könnte – und das war neu – der polni­schen Forderung nach einem Hafen im Mündungs­gebiet der Weichsel durch die Schaffung einer Enklave um Neufahr­wasser „nicht weit weg von polni­schem Gebiet“ zusammen mit den Kreisen Putzig und Neustadt genüge getan werden. Zusätzlich sollte Polen Garantien für die freie Nutzung der Weichsel und der Eisenbahn nach Süden bekommen. Im „Gegenzug“ müssten zur Sicherung einer Landver­bindung zwischen Pommern und Ostpreußen aber „die polni­schen Kreise Karthaus, Berent, Konitz und Stargard geopfert werden“.

Anders als Frank­reich, aber ähnlich Großbri­tannien und Italien hatten die USA im Vorfeld der Friedens­kon­ferenz über amtliche Verlaut­ba­rungen allge­meiner Art (wie Wilsons 14-Punkte-Erklärung) hinaus konkrete Zusagen gegenüber Polen vermieden. Trotz inten­siver polni­scher Lobby­arbeit blieb das Weiße Haus dabei, dass allein schon aus Gründen prakti­scher Politik der befür­wortete Zugang zum Meer nur über die inter­na­tio­na­li­sierte Weichsel und Freiha­fen­rechte gesichert werden könne. Um eventuell noch bestehende Unsicher­heiten auszu­räumen, erklärte Wilson am 18. 12. 1918 gegenüber Mitgliedern der US-Verhandlungsdelegation folgende drei Grund­sätze :  Posen müsse an Polen fallen, Ostpreußen dürfe nicht durch einen Korridor vom übrigen Deutschland getrennt werden und der polnische Zugang zur Ostsee könne „lediglich“ durch die „Umwandlung Danzigs in einen Freihafen“ und garan­tierte Nutzungs­rechte der Eisenbahn- und Fluss­ver­bin­dungen geschaffen werden.

DIE DANZIG-KORRIDOR-FRAGE IN VERSAILLES 
Konkurrierende Modelle

Als am 18. Januar 1919 im Spiegelsaal von Versailles die Friedens­kon­ferenz zusam­mentrat, lag eine Fülle von schwie­rigsten und zum Teil kaum lösbar mitein­ander verwo­benen wie konflikt­träch­tigen Problemen vor den Friedens­ma­chern. Die Neuordnung Ostmit­tel­eu­ropas genoss zwar nicht die höchste Priorität, galt aber von vornherein als konflikt­be­laden. Das lag nicht nur, aber zum erheb­lichen Teil an den polni­schen Grenz­fragen und deren unter­schied­licher Bewertung durch die Siegermächte.

Schon am 29. Januar 1919 präsen­tierte der Leiter der polni­schen Delegation, Roman Dmowski, dem Obersten Rat die Terri­to­ri­al­for­de­rungen der Warschauer Regierung. Im Osten sollten die Grenzen von 1772 als Ausgangs­punkt von Verhand­lungen dienen. Im Norden und Westen wollte Warschau darüber teilweise hinaus­gehen. Ausdrücklich nannte Dmowski Posen, Oberschlesien, einen kleineren Teil der preußi­schen Provinz Pommern, ganz Westpreußen mit Danzig sowie das südliche Ostpreußen. Der Norden Ostpreußens mit Königsberg sollte eng mit Polen verbunden und schritt­weise poloni­siert werden. Memel konnte im Rahmen der angestrebten Union an Litauen fallen und zum Haupt­hafen für das noch zu gewin­nende große Ostpolen werden. Dmowski wieder­holte am 29. Januar die Ablehnung jeder Korri­dor­lösung, weil sie zu einem Dauer­kon­flikt mit Deutschland führe und Polen zu wenig Sicherheit böte. Die Deutschen würden immer bestrebt sein, eine terri­to­riale Verbindung zu einem bei Deutschland bleibenden Ostpreußen wieder­her­zu­stellen. Während Frank­reich generelle Zustimmung signa­li­sierte, lehnten Briten und Ameri­kaner den Umfang der Forde­rungen ab.

Bei den Verhand­lungen der damit beauf­tragten Kommission für polnische Angele­gen­heiten unter Leitung von Jules Cambon schien sich dennoch eine für Polen günstige Lösung anzubahnen. Die aller­dings ohne spezielle Instruktion handelnden Vertreter der USA und Großbri­tan­niens stimmten unter Betonung strate­gi­scher, ökono­mi­scher und kommer­zi­eller Gründe, die dem Selbst­be­stim­mungs­recht der betrof­fenen Deutschen vorgehen müssten, einer unein­ge­schränkten Kontrolle Polens über Danzig und einem breiten Korridor beider­seits der Weichsel zu. Unter Berufung auf franzö­sische Quellen berichtete die New York Times am 18. März, dass der Korridor von einer Linie östlich von Lauenburg, Konitz und Schnei­demühl bis über das Frische Haff bis zu einer Linie westlich von Elbing und ­Osterode verlaufen solle. Während die polnische Delegation grund­sätzlich positiv reagierte, kam rasch heftige Kritik aus London und der Delegation des briti­schen Empire. Nachhaltige Unter­stützung erhielt ihre Position von führenden liberalen Zeitungen wie Guardian oder Observer und aus der Labour-Partei, die die Einbe­ziehung west- und ostpreu­ßi­scher Gebiete gegen den Willen der Bewohner in ein so­genanntes Großpolen wie die Errichtung eines Korridors durch deutsches Gebiet ablehnte. Der notwendige Seezugang für Polen sei nur über eine Inter­na­tio­na­li­sierung der Weichsel und Freiha­fen­rechte in Danzig akzep­tabel. Unter­stützung bekam die Kommission für ihre Empfehlung hingegen aus der radikalen und konser­va­tiven Presse.

Unter­stützt von Wilson, bemühte sich Lloyd George nach seiner Rückkehr aus London intensiv um eine Revision der von Frank­reich vehement befür­wor­teten Kommissions­empfehlungen. Für ihn überwogen weiterhin die Nachteile eines polni­schen Danzigs und eines weiten Korridors die von den Befür­wortern vorge­brachten Vorteile für Polen :  Nur so könnte Polen wirtschaftlich prospe­rieren, seine Unabhän­gigkeit sichern und sich gegen später zu erwar­tende deutsche Revan­che­be­stre­bungen behaupten. Unabhängig vom Umfang ihrer Terri­to­ri­al­ver­luste – die Deutschen würden sich nie mit ihrer Niederlage abfinden und „respek­tierten allein Stärke“, meinte nicht nur Cambon. Die Stabi­lität und der Frieden Europas erfor­derten ein mächtiges Polen als Bündnis­partner Frank­reichs, ein großes Polen mit weitem Zugang zum Meer. Ähnlich argumen­tierten die Vertreter Polens, die gleich­zeitig „die Rückgabe“ Danzigs und Westpreußens als Akt der Wieder­gut­ma­chung des nie verges­senen Unrechts von 1793 betrach­teten, als die alte Hanse­stadt mit ihrer wechsel­vollen Geschichte im Rahmen der zweiten polni­schen Teilung an Preußen gefallen war. Sollte Polen Danzig nicht bekommen, dann sei „der Krieg für Polen verloren“ (äußerte Paderewski z. B. am 6. 4. 1919 gegenüber der Nachrichten- und Presse­agentur AP).

Der Weg bis zum Kompromiss

Ohne inten­siver auf Details einzu­gehen, für den briti­schen Premier und seine Regierung blieb „Greater Poland – Großpolen“ mit Einbe­ziehung vieler Minder­heiten gegen deren Willen vor allem ein Faktor zukünf­tiger Insta­bi­lität. Aktuell mochte die Sieger­mächte (mit unter­schied­lichen Schluss­fol­ge­rungen zum angera­tenen Reagieren) besonders beunru­higen, dass sich Polen weiterhin in erklärten oder nicht erklärten Kriegen mit seinen Nachbarn befand und sich im Spätwinter / Frühjahr 1919 der bewaffnete Konflikt mit den Sowjets deutlich verschärfte – in Versailles konzen­trierte sich die perspek­ti­vische Haupt­sorge um die Überzeugung, dass die Wegnahme Danzigs und Westpreußens im Bewusstsein aller Deutschen ein „nie auf hörendes“ Gefühl ungerechter Behandlung erzeuge. Mit wahrscheinlich fatalen Folgen für Europa würde auf diese Weise in Paris die Saat einer neuen großen Katastrophe gelegt. Ameri­ka­nische Di­plomaten berich­teten aus ihren Einsatz­ländern z. B., dass die gesamte polnische Nation einen direkten Seezugang mit Danzig als unver­zichtbare Forderung ansähe, während alle Deutschen von links bis rechts eine Abtretung Danzigs und die Schaffung eines Korridors für Polen als „eklatant ungerecht“ betrach­teten. Eine erzwungene Übergabe Danzigs und Westpreußens würde demnach zu „endlosen Ausein­an­der­set­zungen“ führen und zu einer mächtigen Waffe in der Hand radikaler Natio­na­listen werden. In Westpreußen waren sich alle deutschen politi­schen Parteien zumindest in einem Ziel einig :  der „Deutscher­haltung Danzigs und Westpreußens“. Dagegen gab es für die polni­schen Zeitungen von der Gazeta Grudziądzka bis zur Gazeta Toruńska nur eine Lösung – Danzig und Westpreußen mussten Teil Polens werden. Unter­stützung fanden sie in einigen Artikeln großer ameri­ka­ni­scher Zeitungen, in denen davor gewarnt wurde, vitale Inter­essen Polens zu opfern. In einem langen Beitrag der Washington Post vom 24. Mai 1919 unter der Überschrift „Failure to give Danzig port to Poland may leave war spoils in grasp of Huns“ argumen­tierte ein namentlich nicht genannter „ Ex-Attaché“, dass ohne weiten und sicheren Seezugang mit Danzig kein starkes Polen und damit auch nicht der nötige „mächtige Puffer­staat“ möglich sei, um Russland von Deutschland zu trennen und vor „germa­ni­scher politi­scher und ökono­mi­scher Aggression zu schützen“ :  Man dürfe Polen deshalb nicht als „Kriegs­beute in den Fängen der Hunnen lassen“.

In der erbit­terten Kontro­verse mit der franzö­si­schen Führung konzen­trierte sich Lloyd George auf die aus briti­scher Sicht vom vorge­schla­genen Weich­sel­ab­kommen ausge­henden Gefahren zukünf­tiger Kriege. Die Washington Post vom 24. März infor­mierte über seine Auffassung, dass die geplante Einglie­derung vieler Deutscher in Polen sehr wahrscheinlich nur die Saat für einen „weiteren Krieg“ lege. Während der internen Verhand­lungen der Großen Drei fragte er, ob jemand (in der späteren Norma­lität des Friedens) bereit sei, zur Behauptung polni­scher Herrschaft über die deutsche Großstadt Danzig gegebe­nen­falls eigene Truppen in Marsch zu setzen. Das Schweigen selbst Clemen­ceaus sprach für sich. Auf die direkt an Clemenceau gerichtete Frage, ob denn jemand wollen könne, dass die Deutschen, so wie es die Franzosen nach 1871 mit Straßburg getan hatten, in ihren Städten Statuen von Danzig „in Trauer“ aufstellten, da antwortete der starke Mann der franzö­si­schen Politik :  „Auch ich will das nicht.“ Wilson, der in der Danzig-Korridor-Frage grund­sätzlich die briti­schen Argumente unter­stützte, verwies auf die reale Möglichkeit, dass bei den Deutschen später einmal der Wunsch entstehen könne, ihre Lands­leute wieder von polni­scher Herrschaft zu befreien. Er fügte hinzu, „dass es schwer wäre, diesem Wunsch zu widerstehen“.

Unter massivem Zeit- und Einigungs­druck verstän­digten sich die Großmächte am 1. April grund­sätzlich auf folgende Kompro­miss­linie :  Danzig und Umgebung werden Freistaat unter Garantie des Völker­bundes, und Polen bekommt garan­tierte Hafen- und Transit­rechte sowie weitere umfas­sende Sonder­rechte und ohne Volks­ab­stimmung als Teil des polni­schen Staats­ge­bietes einen Korridor am Westufer der Weichsel. Frank­reich musste als Gegen­leistung für das britisch-amerikanische Entge­gen­kommen Plebiszite, nicht nur in Ermland und Masuren, sondern auch in Marienburg-Marienwerder akzep­tieren. Die für Polen ungüns­tigen Ergeb­nisse der Volks­ab­stim­mungen im Juli 1920 wurden in London und Washington allgemein erwartet.

Ein brüchiger Friede

Die polnische Delegation, die trotz franzö­si­schen Wunsches vor der Entscheidung nicht angehört worden war, zeigte sich empört und suchte nach Wegen, doch noch eine polnische Dominanz in Danzig zu erreichen. Schon am 10. April infor­mierte Esme Howard seine Vorge­setzten, die „große Furcht der Polen“ sei, dass Danzig nun „seinen deutschen Charakter behalten werde“. Ameri­kaner und Briten lehnten jedoch gegenüber Paderewski und Dmowski eine wie auch immer geartete polnische Autorität über Danzig unmiss­ver­ständlich ab. Um befürchtete polnische Versuche von vornherein zu verhindern, Danzig im Handstreich unter Kontrolle zu nehmen, sollte – entgegen polni­schen Inten­tionen – die Sicherheit Danzigs allein dem Völkerbund obliegen. Teil des Deals zwischen Frank­reich und Großbri­tannien war die Festlegung, dass ein Brite solange Hochkom­missar in Danzig sein sollte, wie ein Franzose Chef der Regie­rungs­kom­mission im Saarland war.

Mit der Ratifi­kation des Versailler Vertrages vom 18. Juni 1919, die das deutsche Parlament am 9. Juli 1919 vollzog, wurde die Bildung eines polni­schen Korridors zur Ostsee und die Umwandlung Danzigs in einen Freistaat unter dem Schutz des Völker­bundes gültiges Völker­recht. Kaum jemand der inter­na­tional Verant­wort­lichen nahm Notiz davon, dass die bis dahin ohnehin kaum bekannte Provinz Westpreußen de facto in vier Teile zerfiel :  Den polni­schen Korridor und die Freie Stadt Danzig. Alle westlich der Weichsel verblei­benden Gebiete kamen zur späteren Grenzmark Posen-Westpreußen und aus jenen östlich der Weichsel wurde sodann der Regie­rungs­bezirk Westpreußen gebildet und in die Provinz Ostpreußen integriert.

Noch offene einzelne Fragen bzw. Regularien sollten unter der Ägide der Pariser Botschaf­ter­kon­ferenz ausge­handelt werden, was sich als ein mühevoller und sich hinzie­hender Prozess heraus­stellen sollte, der bei allen Betrof­fenen eine Menge an Frustration hervorrief. Speziell die genaue Regelung der Weich­sel­grenze löste in Deutschland Stürme der Entrüstung aus, da sie Preußen nahezu völlig vom Fluss abschnitt.

Wie nicht anders zu erwarten, wurde die in Versailles bestimmte Danzig-Korridor-Regelung sowohl von Deutschen als auch Polen heftig kriti­siert und empört zurück­ge­wiesen. Mit Sorge konsta­tierten inter­na­tionale Beobachter, dass Berlin wie Warschau oder Danzig den Versailler Großmäch­te­kom­promiss primär als Übergangs­stadium zur Rück- bzw. Einglie­derung Danzigs zu betrachten schienen.

Auch im Lager der Sieger­mächte waren die Meinungen geteilt. Nicht nur in der Londoner Downing Street hielt man das Danzig-Korridor-Abkommen für keinen guten Kompromiss, sondern lediglich als das geringere von zwei Übeln. Große Zweifel gab es an der Dauer­haf­tigkeit der Regelung und Sorgen vor deren Spreng­mäch­tigkeit. Antony Lentin hat treffend dazu bemerkt, dass sich „der (Holz)Wurm des Appease­ments“ – Entge­gen­kommen gegenüber Deutschland – schon „im Gebälk der Versailler Konferenz“ einnistete. Sehr früh begann vor allem bei Briten und Ameri­kanern die Suche nach Möglich­keiten zur Entschärfung des „gefähr­lichsten europäi­schen Krisen­herdes“ – wie es zunehmend hieß.

Die Zukunft musste zeigen, ob die Optimisten unter den Verfechtern der Freistaat / Korridor-Lösung mit ihrer Hoffnung Recht behielten, dass schließlich doch die Vorteile gedeih­licher Zusam­men­arbeit auf der Grundlage gegen­seitig guten Willens Polen wie Danziger und die Deutschen in Deutschland damit aussöhnen würden, dass Danzig gleich­zeitig Hafen Polens und ein deutscher Stadt­staat sein konnte. Damit verbundene Hoffnungen erwiesen sich in der Realität aber als trüge­risch. Im Juli 1931 kam ein Memorandum des briti­schen Außen­mi­nis­te­riums zu dem ernüch­ternden Schluss :  „Das Danzig-Abkommen hätte nur auf der Basis von gutem Willen und Koope­ra­ti­ons­be­reit­schaft vernünftig funktio­nieren können. Nur daran mangelt es auf beiden Seiten völlig.“