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Vergiftete Nachbarschaft

Vor 100 Jahren – Das Ende von Westpreußen (2): Die umkämpfte deutsch-polnische Kontaktzone von den „Teilungen“ bis zum Zweiten Weltkrieg

Von Jochen Boehler

Finis Poloniae

Als der Ers­te Welt­krieg aus­brach, exis­tier­te der pol­ni­sche Staat gar nicht. Ende des 18. Jahr­hun­derts war das geschwäch­te polnisch-litauische Com­mon­wealth, einst das größ­te Reich des früh­neu­zeit­li­chen Euro­pas, infol­ge eines „der größ­ten Raub­über­fäl­le in der moder­nen euro­päi­schen Geschich­te“ (Nor­man Davies) von sei­nen mäch­ti­gen Nach­barn Russ­land, Öster­reich und Preu­ßen euphe­mis­tisch gespro­chen „geteilt“, in Wirk­lich­keit von der Land­kar­te getilgt wor­den. Jede der „Tei­lungs­mäch­te“ annek­tier­te Gebie­te des ehe­ma­li­gen Polens und unter­warf sei­ne pol­nisch­spra­chi­gen Ein­woh­ner einer Fremd­herr­schaft. Der größ­te Teil zwi­schen Ost­see und Schwar­zem Meer wur­de als „West­ter­ri­to­ri­um“ (russ.: Zapad­nyĭ Kraĭ), spä­ter als „Weich­sel­land“ (russ.: Pri­vis­lin­s­kiĭ Kraĭ) ein wesent­li­cher Bestand­teil des rus­si­schen Rei­ches. In Pol­nisch hie­ßen und hei­ßen die­se Gebie­te land­läu­fig aller­dings bezeich­nen­der­wei­se das „Weg­ge­nom­me­ne Land“ (Zie­mie Zab­ra­ne) und – nach dem Wie­ner Kon­gress 1815, auf dem das nach­na­po­leo­ni­sche Euro­pa auf­ge­teilt wur­de – „Kon­gress­po­len“ (Kon­gresów­ka). Mit­te des 19. Jahr­hun­derts besaß Russ­land über 80 Pro­zent, Österreich-Ungarn etwas mehr, Preu­ßen etwas weni­ger als zehn Pro­zent der Land­mas­se des ehe­ma­li­gen Polen-Litauen.

Wäh­rend die Pol­nisch spre­chen­de Bevöl­ke­rung im rus­si­schen ‚Tei­lungs­ge­biet‘ stark benach­tei­ligt und im öster­rei­chi­schen stark bevor­teilt war, ging Preu­ßen in sei­nen dazu­ge­won­ne­nen öst­li­chen Ter­ri­to­ri­en einen Mit­tel­weg. Seit Jahr­hun­der­ten eine deutsch-polnische Kon­takt­zo­ne, erleb­ten sie von Anfang an eine Wel­le der „Ger­ma­ni­sie­rung“, die mit der Grün­dung des Deut­schen Rei­ches im Jah­re 1871 an Fahrt auf­nahm. Die staat­li­che Poli­tik ziel­te hier­bei auf die Assi­mi­la­ti­on von eth­ni­schen Polen ab, die – bei einer Gesamt­be­völ­ke­rung von fast vier Mil­lio­nen Men­schen – durch­schnitt­lich etwa einen von drei Stadt­bür­gern und drei von fünf Land­be­woh­nern stell­ten. Neben der Min­der­heit von einem Pro­zent Juden bil­de­ten sie die bedeu­tends­te eth­ni­sche Grup­pe in Pom­me­rel­len (poln.: Pomor­ze) und Groß­po­len (poln.: Wiel­ko­pol­ska). Die bald ein­set­zen­den dis­kri­mi­nie­ren­den Maß­nah­men hat­ten jedoch einen gegen­läu­fi­gen Effekt und lei­te­ten den stärks­ten pol­ni­schen National- und Iden­ti­täts­bil­dungs­pro­zess aller drei „Tei­lungs­zo­nen“ ein. Zugleich jedoch ver­zeich­ne­te das preu­ßi­sche „Tei­lungs­ge­biet“ – gemes­sen an den ande­ren – einen höhe­ren Lebens­stan­dard und brach­te zahl­rei­che moder­ne pol­ni­sche Ver­tre­tun­gen wie Ver­ei­ne, Ver­la­ge oder Arbei­ter­ge­werk­schaf­ten nach deut­schem Vor­bild her­vor. Dadurch unter­schie­den sich die Polen auf preu­ßi­schem Gebiet erheb­lich von ihren Mit­bür­gern in Österreich-Ungarn und Russland.

Der polnische Nationalismus erwacht

Im 19. Jahr­hun­dert erwach­te der pol­ni­sche Natio­na­lis­mus, und die For­de­rung nach der Wie­der­her­stel­lung eines pol­ni­schen Staa­tes bil­de­te das sei­ne ver­schie­de­nen Lager einen­de Ziel. Unei­nig­keit bestand hin­sicht­lich der Wahl der Mit­tel: Wäh­rend man im rechts­kon­ser­va­ti­ven Spek­trum unter Roman Dmow­ski auf „orga­ni­sche Arbeit“ in den drei Par­la­men­ten setz­te, ent­schied sich der lin­ke sozia­lis­ti­sche Flü­gel unter Józef Pił­su­ski für den bewaff­ne­ten Kampf gegen Russ­land: zunächst im Unter­grund mit ter­ro­ris­ti­schen Anschlä­gen, nach Aus­bruch des Ers­ten Welt­krie­ges dann mit regu­lä­ren Streit­kräf­ten, „pol­ni­sche Legio­nen“ genannt, auf Sei­ten Österreich-Ungarns. Das war ein Ritt auf Mes­sers Schnei­de, denn 1915 besetz­ten Deutsch­land und Öster­reich auch das rus­si­sche „Tei­lungs­ge­biet“. Pol­ni­sche Sol­da­ten dien­ten also nun den Her­ren, die sie eigent­lich auf lan­ge Sicht aus ihrem Land ver­trei­ben woll­ten, und kämpf­ten zugleich gegen Sol­da­ten auf rus­si­scher Sei­te, die eben­falls Pol­nisch sprachen.

Aus deut­scher Sicht war der Ein­satz zusätz­li­cher pol­ni­scher Trup­pen­kon­tin­gen­te drin­gend erfor­der­lich. Dafür war man sogar zu poli­ti­schen Zuge­ständ­nis­sen bereit: 1916 wur­de im deut­schen Besat­zungs­ge­biet, dem Gene­ral­gou­ver­ne­ment War­schau, ein pol­ni­scher Regent­schafts­rat ins Leben geru­fen, der offi­zi­ell als Vor­form pol­ni­scher Staat­lich­keit aus­ge­ge­ben wur­de, in Wirk­lich­keit aber nicht mehr war als eine Mario­net­ten­re­gie­rung von deut­schen Gnaden.

Den­noch wur­de ein Sieg der Mit­tel­mäch­te immer unwahr­schein­li­cher. In die­ser Situa­ti­on kün­dig­ten Pił­sud­ski und sei­ne Legio­nä­re dem deut­schen Kai­ser die Gefolg­schaft und gin­gen als Mär­ty­rer in die Gefan­gen­schaft. Ein Mythos war geboren.

Als die deutsch-österreichische Herr­schaft im Osten im Novem­ber 1918 zusam­men­brach, blick­te man auf einen Scher­ben­hau­fen. Für die Polen, die im Ers­ten Welt­krieg kämpf­ten, war ihr Ein­satz im Rück­blick ledig­lich ein Schritt auf dem Weg zur Unab­hän­gig­keit, aber nur weni­ge hat­ten die­ses Ziel im Sinn gehabt, als sie sich 1914 zum Dienst mel­de­ten. Es war vor allem die har­te Rea­li­tät der deut­schen und öster­rei­chi­schen Herr­schaft, die die pol­ni­sche Zivil­be­völ­ke­rung ent­frem­de­te und sie zuneh­mend für eine natio­na­le Alter­na­ti­ve emp­fäng­lich mach­te. Die Besat­zung der Mit­tel­mäch­te in Polen zwi­schen 1914 und 1918 ist zwar kei­nes­wegs mit der zwi­schen 1939 und 1945 zu ver­glei­chen. Doch trotz gegen­tei­li­ger Absichts­er­klä­run­gen hat­te man die Gele­gen­heit ver­passt, der pol­ni­schen Bevöl­ke­rung eine gewis­se Auto­no­mie zu gewäh­ren, und sie viel­mehr gegen sich auf­ge­bracht, indem man ihr Land ledig­lich als bil­li­ges Wirtschafts- und Arbeits­kräf­te­re­ser­voir betrach­te­te. Aus­beu­tung und Zwangs­ar­beit soll­ten ein Vier­tel­jahr­hun­dert spä­ter unter deut­scher Herr­schaft in neu­en, schreck­li­chen Dimen­sio­nen wiederkehren.

Ein ostmitteleuropäischer Bürgerkrieg

Der Novem­ber 1918 ist ohne Fra­ge ein Schlüs­sel­mo­ment der euro­päi­schen Geschich­te, nur wird er im Wes­ten des Kon­ti­nents ganz anders wahr­ge­nom­men als im Osten. Hier bil­den die Waf­fen­still­stän­de das Ende des Ers­ten Welt­krie­ges, dort bil­det der Nie­der­gang der Impe­ri­en die Grün­dung neu­er Natio­nal­staa­ten (und wei­ter öst­lich schon zuvor des bol­sche­wis­ti­schen Russ­lands). Die Gren­ze zwi­schen bei­den Erin­ne­rungs­kul­tu­ren ver­läuft genau zwi­schen Deutsch­land und Polen: Auf der einen Sei­te die Nie­der­la­ge, auf der ande­ren Sei­te der wie­der­erstan­de­ne Staat.

Ende 1918 herrsch­te in der Zwei­ten Pol­ni­schen Repu­blik aber nicht nur die Hoff­nung auf eine glor­rei­che Zukunft vor, son­dern auch die Erin­ne­rung an eine alb­traum­haf­te Ver­gan­gen­heit. Die pol­ni­sche Unab­hän­gig­keit nahm in zer­stör­ten Räu­men Gestalt an. Vor sei­ner Blü­te­zeit im Novem­ber 1918 hat­te Polen enorm unter den Aus­wir­kun­gen des Krie­ges gelit­ten und eini­ge der hef­tigs­ten Schlach­ten der Ost­front erlebt, die in ihren Schre­cken den­je­ni­gen der West­front nicht nach­stand. Epi­de­mien und Hun­gers­nö­te plag­ten die länd­li­che und städ­ti­sche Bevöl­ke­rung Ende 1918, die Men­schen star­ben noch immer in Mas­sen. Mit dem Rück­zug der deut­schen Ober-Ost-Truppen man­gel­te es gro­ßen Tei­len Ost­po­lens monate- oder sogar jah­re­lang an wirk­sa­mer staat­li­cher Kon­trol­le. Der spä­te­re US-Präsident Her­bert Hoo­ver, der damals die ame­ri­ka­ni­sche Hilfs­be­hör­de lei­te­te, bemerk­te 1919 zutref­fend, dass Tei­le Polens wäh­rend des Krie­ges sie­ben Inva­sio­nen und Rück­zü­ge mit Hun­dert­tau­sen­den von Opfern erlebt hat­ten, die von mas­si­ven Zer­stö­run­gen beglei­tet waren.

Zugleich bil­de­ten die Jah­re 1918 bis 1921 das End­sta­di­um eines welt­wei­ten Kon­flikts, der im Osten von einem weit­ge­hend kon­ven­tio­nel­len Krieg zwi­schen den Mit­tel­mäch­ten und Russ­land in einen Bür­ger­krieg ihrer ehe­ma­li­gen Unter­ta­nen über­ging. Hier wur­den die Gren­zen der nun inmit­ten der impe­ria­len Rui­nen auf­stre­ben­den Natio­nal­staa­ten aus­ge­foch­ten. Geo­gra­fisch im Auge des Zyklons, bean­spruch­te der auf­stre­ben­de eth­ni­sche pol­ni­sche Natio­nal­staat Gebie­te, in denen sich Min­der­hei­ten fast aller an die­sem „mit­tel­eu­ro­päi­schen Bür­ger­krieg“ betei­lig­ten Natio­nen befan­den. Zwi­schen 1918 und 1921 befan­den sich die Polen in einem per­ma­nen­ten Zustand des erklär­ten oder uner­klär­ten Krie­ges an buch­stäb­lich allen Gren­zen, mit Aus­nah­me der rumä­ni­schen: mit Ukrai­nern im Osten, mit Litau­ern im Nor­den, mit Tsche­chen im Süden – und mit Deut­schen im Wes­ten. Auch wenn die­se Grenz­kämp­fe in der pol­ni­schen His­to­rio­gra­phie als natio­na­le Unabhängigkeits­kämpfe sti­li­siert wer­den, soll­ten sie in der Pra­xis der Zwei­ten Repu­blik schlicht­weg ihr Über­le­ben sichern: ers­tens durch Gebiets­er­obe­run­gen – denn wie anders soll­te sonst das ein gutes Jahr­hun­dert zuvor von der Land­kar­te getilg­te pol­ni­sche Staats­we­sen wie­der­rich­tet wer­den –, zwei­tens durch die Siche­rung geo­gra­phi­scher und wirt­schaft­li­cher Vor­tei­le – wie einen Zugang zur Ost­see und den Anschluss indus­tri­el­ler und urba­ner Zen­tren – und drit­tens durch die Schaf­fung einer mög­lichst loya­len Mehr­heits­be­völ­ke­rung in den umkämpf­ten Grenzgebieten.

Kampf um Grenzen und Menschen

Der Ärger in der deutsch-polnischen Kon­takt­zo­ne begann mit dem Besuch Igna­cy Pade­rew­skis in Posen im Dezem­ber 1918. Der poly­glot­te Star­pia­nist, der gewöhn­lich in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten leb­te und tour­te, setz­te sich seit vie­len Jah­ren für einen unab­hän­gi­gen pol­ni­schen Staat ein. Eigent­lich hat­te sei­ne Rei­se nach War­schau gehen sol­len, den Sitz der neu gebil­de­ten Regie­rung unter Józef Pił­sud­ski. Statt­des­sen hat­ten sei­ne Gast­ge­ber ihn nach Posen gelotst, die Hoch­burg der pol­ni­schen Natio­nal­de­mo­kra­ten und zugleich – als ehe­ma­li­ge deut­sche Haupt­stadt im groß­pol­ni­schen „Tei­lungs­ge­biet“ – ein Hexen­kes­sel, in dem pro- und anti­pol­ni­sche Emo­tio­nen bro­del­ten. Am 27. Dezem­ber hielt Pade­re­we­ski vom Fens­ter sei­nes Hotel­zim­mers aus vor 50.000 begeis­ter­ten Zuschau­ern – aber auch vie­len deut­schen Gegen­de­mons­tran­ten – eine impro­vi­sier­te flam­men­de Rede zum Wie­der­auf­bau Polens. Als deut­sche Sol­da­ten die alli­ier­ten Flag­gen, die die Polen gehisst hat­ten, nie­der­ris­sen, gin­gen bei­de Grup­pen auf­ein­an­der los. Der Hexen­kes­sel koch­te über. Die Polen waren bes­ser vor­be­rei­tet und über­nah­men im Lau­fe des Tages die Macht in Posen und den umlie­gen­den Städ­ten. Sie ent­waff­ne­ten die ver­blüff­ten deut­schen Sol­da­ten. Für den Moment gab es kei­nen gro­ßen Kampf und nur weni­ge Ver­lus­te. Die deut­schen Trup­pen konn­ten die pol­ni­schen Auf­stän­di­schen nur in den Städ­ten mit deut­scher Mehr­heit wei­ter nörd­lich und west­lich aufhalten.

Im Gegen­satz zu ihren deut­schen Kol­le­gen hat­ten die Män­ner der „Pol­ni­schen Mili­tär­or­ga­ni­sa­ti­on“ – einer para­mi­li­tä­ri­schen Miliz, die bereits wäh­rend des Ers­ten Welt­krie­ges gegen die deut­schen Besat­zer gekämpft hat­te – sowie demo­bi­li­sier­te pol­ni­sche Sol­da­ten aus den Rei­hen des deut­schen Hee­res ein kla­res Ziel. Immer­hin hat­ten eini­ge von ihnen jah­re­lang auf die­sen Moment hin­ge­ar­bei­tet. Die deut­schen Sol­da­ten waren ihrer­seits von den Ereig­nis­sen der ver­gan­ge­nen Wochen über­wäl­tigt: der bedin­gungs­lo­sen Kapi­tu­la­ti­on ihrer Armee; dem Zusam­men­bruch der Regie­rung, für die sie gekämpft hat­ten; und der Bil­dung einer neu­en Regie­rung, die ihnen kei­ne kla­ren Anwei­sun­gen gab, wie sie sich ange­sichts des pol­ni­schen „Ver­rats“ zu ver­hal­ten hat­ten. Vie­le deut­sche Sol­da­ten aus der Arbei­ter­klas­se sym­pa­thi­sier­ten sogar offen mit ihren ehe­ma­li­gen pol­ni­schen Kame­ra­den. Die Situa­ti­on änder­te sich, als auch deut­sche Para­mi­li­tärs die Büh­ne betra­ten: die Frei­korps, gebil­det aus demo­bi­li­sier­ten Sol­da­ten des deut­schen Hee­res und Män­nern, die zu jung gewe­sen waren, um selbst im Welt­krieg zu kämp­fen und sich nun an der Front bewäh­ren woll­ten. Sie folg­ten bereit­wil­lig dem Ruf der Reichs­re­gie­rung, die deut­schen Ost­ge­bie­te gegen den pol­ni­schen Ansturm zu verteidigen.

Was sich nun im Raum Groß­po­len und bald auch in Ober­schle­si­en Bahn brach, war ein uner­klär­ter Krieg zwi­schen aus­wär­ti­gen deut­schen und pol­ni­schen Para­mi­li­tärs, dem sich zwar Tei­le der ört­li­chen Bevöl­ke­rung auf bei­den Sei­ten anschlos­sen, der aber für ihre über­wie­gen­de Mehr­heit kein natio­na­ler Hel­den­kampf, son­dern eine Tra­gö­die war, denn bei­de Sei­ten beraub­ten und ermor­de­ten Zivi­lis­ten. Nun setz­te in der Regi­on ein Bür­ger­krieg ein, der die vier vor­aus­ge­hen­den Jah­re des Welt­krie­ges bei wei­tem in den Schat­ten stell­te. Im zwi­schen Deutsch­land und Polen umkämpf­ten Gebiet sind sei­ner­zeit min­des­tens 6.500 Men­schen umge­kom­men, von einer hohen Dun­kel­zif­fer ist aus­zu­ge­hen. Es ist schlicht­weg unmög­lich, hier­bei zwi­schen ‚pol­ni­schen‘ und ‚deut­schen‘ Opfern zu unter­schei­den. Das Natio­na­li­täts­prin­zip war der Regi­on von außen von bei­den Kon­flikt­par­tei­en über­ge­stülpt wor­den, noch dazu in Form zwei­er Hüte gleich­zei­tig, die nie­man­dem rich­tig pas­sen woll­ten. Die Bevöl­ke­rung Ober­schle­si­ens war gemischt, mehr­spra­chig und über eth­ni­sche Gren­zen hin­weg mit­ein­an­der seit über hun­dert Jah­ren nach­bar­schaft­lich, weit­ge­hend freund­schaft­lich und teil­wei­se durch Fami­li­en­ban­de ver­bun­den. Neue Stu­di­en zei­gen, dass Ober­schle­sie­rin­nen und Ober­schle­si­er häu­fig unter Natio­na­li­tät schlicht­weg eine tem­po­rä­re Loya­li­tät ver­stan­den und dass sie sich häu­fig je nach wirt­schaft­li­cher oder poli­ti­scher Lage bewusst für die deut­sche oder die pol­ni­sche Sei­te entschieden.

Von pol­ni­scher Sei­te wer­den sowohl die Erhe­bung im Raum Posen als auch die drei Erhe­bun­gen in Ober­schle­si­en damals wie heu­te als „Auf­stän­de“ dekla­riert. Man soll­te jedoch beden­ken, dass zumin­dest Ober­schle­si­en mit sei­nem pro­spe­rie­ren­den Indus­trie­ge­biet jahr­hun­der­te­lang Teil des Hei­li­gen Römi­schen Rei­ches gewe­sen und Polen nicht im Zuge der „Tei­lun­gen“ weg­ge­nom­men wor­den war. Der Kon­flikt dreh­te sich hier um Ter­ri­to­ri­en und Wirt­schafts­gü­ter, nicht dar­um, sich gegen eine deut­sche Fremd­herr­schaft aufzulehnen.

Letzt­lich hat­te Deutsch­land als „Schur­ken­staat“ in Ver­sailles den­noch die schlech­te­ren Kar­ten: Die pol­ni­schen Erobe­run­gen in Groß­po­len wur­den gebil­ligt, und die Auf­tei­lung Ober­schle­si­ens spie­gel­te das Ergeb­nis der Volks­ab­stim­mung in Ober­schle­si­en von 1923 nicht adäquat wider: Deutsch­land hat­te die Wahl zwar gewon­nen, aber den­noch sein Indus­trie­ge­biet ver­lo­ren. Eben­so schmerz­lich für die deut­sche Sei­te war die Ein­rich­tung eines „Kor­ri­dors“ durch West­preu­ßen, der das pol­ni­sche Staats­ge­biet mit der Ost­see ver­band und zugleich Ost­preu­ßen vom Rest des Rei­ches trenn­te. West­preu­ßen war aller­dings vor den „Tei­lun­gen“ seit der Lub­li­ner Uni­on von 1569 pol­ni­sches Staats­ge­biet gewe­sen. Hier war for­mal­ju­ris­tisch kein neu­er Zustand geschaf­fen, son­dern ein alter wie­der­her­ge­stellt wor­den, der frei­lich auf­grund der zwi­schen­durch erfolg­ten Reichs­grün­dung 1871 nun dazu führ­te, dass Deutsch­land fort­an geteilt war (sie­he Kar­te 1).

„Entdeutschung“

Als die bür­ger­kriegs­ähn­li­chen Wir­ren an sei­nen Ost- und West­gren­zen in den frü­hen 1920er Jah­ren abge­klun­gen waren, mach­te sich der pol­ni­sche Staat dar­an, dort – meta­pho­risch gespro­chen – die nicht pas­sen­den Hüte pas­send zu machen. Im Osten geschah dies durch eine Poli­tik der „Polo­ni­sie­rung“, denn Ukrai­ner und Weiß­rus­sen gal­ten als prin­zi­pi­ell inte­grier­bar. Das­sel­be galt nicht für Deut­sche im Wes­ten. Wie­so eigent­lich nicht? In kul­tu­rel­ler und sprach­li­cher Hin­sicht war die deutsch-polnische Kon­takt­zo­ne eben­so durch­mischt wie die polnisch-ukrainische. Ent­schei­dend ist, dass nach über hun­dert Jah­ren deutsch-österreichischer Ober­ho­heit in beträcht­li­chen – und nach vier Jah­ren Besat­zung in allen – pol­nisch­spra­chi­gen Gebie­ten das Tisch­tuch zwi­schen den Nach­barn zer­schnit­ten war. Im Wes­ten ver­folg­te die Regie­rung der Zwei­ten Pol­ni­schen Repu­blik daher eine gegen­läu­fi­ge Poli­tik der „De-Germanisierung“. Die Blau­pau­se dafür hat­te ihr die frü­he­re „Germanisierungs“-Politik des Deut­schen Rei­ches gelie­fert. Nun wur­den statt deutsch­spra­chi­ger pol­nisch­spra­chi­ge Sied­ler aus ande­ren Lan­des­tei­len in die umstrit­te­nen Gebie­te gelockt, statt pol­nisch­spra­chi­gen deutsch­spra­chi­ge Ein­woh­ner durch staat­li­che Maß­nah­men drang­sa­liert. Land­re­for­men benach­tei­lig­ten deut­sche Groß­grund­be­sit­zer im Wes­ten und bevor­teil­ten zugleich pol­ni­sche Groß­grund­be­sit­zer im Osten. Indus­trie­an­la­gen in deut­scher Hand wur­den staat­lich ent­eig­net, deut­sche Arbei­ter in Mas­sen ent­las­sen. Staat­li­che Lizen­zen für deut­sche Betrie­be wur­den oft aus faden­schei­ni­gen Grün­den nicht ver­län­gert. Die Fol­ge war ein wah­rer Exodus deutsch­stäm­mi­ger Fami­li­en. Mit­te der 1920er Jah­re über­stieg die Zahl deut­scher Emi­gran­ten aus Groß­po­len und Pom­me­rel­len bereits eine hal­be Mil­li­on, bis 1939 wuchs sie noch­mal um etwa die Hälf­te. Wo gan­ze deut­sche Schul­klas­sen ver­schwan­den, konn­te der pol­ni­sche Staat deut­sche Schu­len schlie­ßen. Das Vor­ge­hen ent­sprach ganz der Linie, die der Mar­schall des pol­ni­schen Par­la­ments (Sejm) Sta­nisław Grab­ski bereits 1919 in sei­nem „Posen-Programm“ vor­ge­ge­ben hat­te: „Wir wol­len unse­re Bezie­hun­gen auf Lie­be grün­den, aber es gibt eine Art von Lie­be für Lands­leu­te und eine ande­re für Aus­län­der. Ihr Pro­zent­satz unter uns ist defi­ni­tiv zu hoch; Posen kann uns zei­gen, wie der Pro­zent­satz von 14 Pro­zent oder sogar 20 Pro­zent auf 1,5 Pro­zent gesenkt wer­den kann. Das frem­de Ele­ment wird über­le­gen müs­sen, ob es anders­wo nicht bes­ser dran ist. Pol­ni­sches Land für die Polen!“ Zugleich dräng­te die Reichs­re­gie­rung deut­sche Fami­li­en, in Polen zu blei­ben, da sie sie als Faust­pfand ansah.

Da die Grenz­fra­ge zwi­schen Wei­mar und War­schau in den 1920er Jah­ren viru­lent blieb, wur­de die deut­sche Min­der­heit in Polen zum Spiel­ball bei­der Sei­ten. Selbst ein gemä­ßig­ter Poli­ti­ker wie Außen­mi­nis­ter Stre­se­mann nann­te 1925 als wich­tigs­te Zie­le neben der Lösung der Repa­ra­ti­ons­fra­ge „den Schutz der Aus­lands­deut­schen, jener 10–12 Mil­lio­nen Stam­mes­ge­nos­sen, die jetzt unter frem­dem Joch in frem­den Län­dern leben“ sowie „die Kor­rek­tur der Ost­gren­zen: die Wie­der­ge­win­nung von Dan­zig, vom pol­ni­schen Kor­ri­dor und eine Kor­rek­tur der Gren­ze in Ober­schle­si­en“. Den­noch soll­te die poli­ti­sche Bri­sanz des deutsch-polnischen Kon­flik­tes nicht dar­über hin­weg­täu­schen, dass in der Kon­takt­zo­ne selbst bis unmit­tel­bar vor dem Zwei­ten Welt­krieg ein weit­ge­hend nor­ma­les deutsch-polnisches Zusam­men­le­ben mög­lich war.

Regie­run­gen kön­nen sich strei­ten, Nach­barn müs­sen irgend­wie im All­tag mit­ein­an­der klar­kom­men. Aber auch wenn sie ihre Ver­tre­tun­gen im pol­ni­schen Par­la­ment hat­ten: Ange­hö­ri­ge von Min­der­hei­ten – nicht nur der deut­schen – waren in der Zwei­ten Pol­ni­schen Poli­tik de fac­to Bür­ger zwei­ter Klas­se. Nach sei­nem Bei­tritt 1926 brach­te Deutsch­land die Lage der deut­schen Min­der­heit in Polen wie­der­holt vor den Völkerbund.

Ausblick

Die emo­tio­na­le Auf­la­dung des poli­ti­schen Kon­flik­tes hat­te lang­fris­tig fata­le Fol­gen für die deutsch-polnische Nach­bar­schaft. Die Offi­ziers­rän­ge der para­mi­li­tä­ri­schen und mili­tä­ri­schen Ver­bän­de des „Drit­ten Rei­ches“  – SS und Wehr­macht – waren voll von ehe­ma­li­gen Frei­korps­kämp­fern, die ihr Res­sen­ti­ment gegen Polen ver­ein­te. Ähn­lich, nur mit umge­kehr­tem Vor­zei­chen, sah es in den Vete­ra­nen­ver­bän­den pol­ni­scher „Auf­stän­di­scher“ aus. Der ame­ri­ka­ni­sche His­to­ri­ker Win­son Chu hat aber dar­auf hin­ge­wie­sen, dass das poli­ti­sche Gezer­re um die deut­sche Min­der­heit in Polen in den 1920er Jah­ren auch die Gemü­ter der nach­kom­men­den Gene­ra­ti­on ver­gif­te­te. In einer Umfra­ge im Deut­schen Reich von 1932 gaben über 90 Pro­zent der nahe der Ost­gren­ze leben­den Schü­le­rin­nen und Schü­ler im Alter zwi­schen 11 und 14 Jah­ren an, Polen und sei­ne Bewoh­ner zu has­sen. Sie sei­en der Feind im Osten, den es zu zer­stö­ren gel­te. „So war die Ein­stel­lung der­je­ni­gen Gene­ra­ti­on“, resü­miert Chu, „die 1939 Waf­fen tra­gen sollte“.


Wenn es um das Ende von Westpreußen geht, sind für deutsche Beobachter die Profile der Kontrahenten in der Regel klar bestimmt: An der jeweiligen Zuordnung von Recht und Unrecht, Makellosigkeit und Verworfenheit oder – ganz allgemein – von Hell und Dunkel gibt es kaum Zweifel. Ungeachtet dieser Zuweisungen, die hier wohlgemerkt gar nicht zur Debatte stehen, zeigt sich allerdings, dass Polen, der eine Akteur, dem die Charakteristika des Finsteren, Illegitimen zufallen, oft auf seine reinen Funktionen innerhalb des Rollenspiels beschränkt bleibt. Der östliche Widerpart wirkt dann eigentümlich konturlos: ohne eigenständige Geschichte, ohne nachvollziehbare eigene Handlungsgründe und auch ohne interne Konflikte. – In einer umfangreichen Artikelserie, die sich mit der „Vierteilung“ Westpreußens auseinandersetzt, können derartige Verkürzungen allerdings nicht fortgeschrieben werden, denn hier ist es unausweichlich, auch jenen Gegenspieler differenziert zu betrachten und dessen spezifische Perspektive auf das Geschehen zur Kenntnis zu nehmen. Diese heikle Aufgabe hat dankenswerterweise Jochen ­Boehler übernommen, der sich seit vielen Jahren mit Problemen der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte beschäftigt und erst im letzten Jahr im äußerst renommierten Verlag der Universität Oxford eine Untersuchung zum Bürgerkrieg in Zentraleuropa während der Jahre 1918 bis 1921 und zur Wiederbegründung des polnischen Staates veröffentlicht hat. DW