Zur Diskussion um den Danziger Paramentenschatz
Von Tilman Asmus Fischer
Am 8. Dezember 2022 hatten die Union Evangelischer Kirchen in der EKD (UEK), das Erzbistum Danzig und die Gemeinde der Danziger Marienkirche in Hannover einen Letter of Intent unterzeichnet, dessen Inhalt nach Bekanntwerden durch eine offizielle Pressemitteilung zu anhaltenden kontroversen Diskussionen geführt hat: Die im Besitz der UEK befindlichen Stücke des Danziger Paramentenschatzes sollen durch Schenkung in den Besitz der Marienkirche übergehen. Parallel zur – teils mit verbitterten Stellungnahmen geführten – öffentlichen Debatte kam es inzwischen zu konstruktiven Gesprächen zwischen der UEK bzw. EKD und Vertretern aus dem Bereich der Vertriebenenpolitik. – Der in diesem Zusammenhang gewonnene Kenntnisstand, der die Gesamtlage in einem deutlich veränderten, klareren Licht erscheinen lässt, soll hier dokumentiert und zudem auf die hiermit verbundenen kulturpolitischen Perspektiven hin befragt werden.
Nachdem es am 28. April 2023 in Hannover zu einem Gespräch zwischen dem Präsidenten des BdV, Dr. Dr. h.c. Bernd Fabritius, und dem Präsidenten des EKD-Kirchenamtes, Dr. Hans Ulrich Anke, über grundsätzliche Fragen der Beziehung zwischen beiden Institutionen gekommen und dabei auch die Problematik des Paramentenschatzes angesprochen worden war, wandte sich am 16. Mai Bischöfin Petra Bosse-Huber in einem Brief an den BdV – und bezog die Westpreußische Gesellschaft wie den Bund der Danziger in die Korrespondenz mit ein. In ihrem Schreiben erläutert die Vizepräsidentin des Kirchenamtes und Leiterin des Amtsbereichs der UEK das Vorhaben zum Danziger Paramentenschatz. Diese bisher umfassendste offizielle kirchliche Stellungnahme sei hier mit Erlaubnis der Verfasserin dokumentiert.
Die Union Evangelischer Kirchen in der EKD (UEK) ist als Rechtsnachfolgerin der früheren Evangelischen Kirche der Union (EKU) bzw. der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union (ApU) Eigentümerin der (vorwiegend liturgischen) Gegenstände, die aus den am Ende des Zweiten Weltkriegs untergegangenen deutschen Evangelischen Kirchengemeinden im heutigen Polen von Mitgliedern dieser Gemeinden auf ihrer Flucht nach Westen mitgenommen und auf diese Weise häufig vor Verlust und Zerstörung gerettet worden sind. Diese Gegenstände sind von der EKU erfasst und in regulären Verfahren entweder an Evangelische Kirchengemeinden in Deutschland zu kirchlichem Gebrauch ausgeliehen worden oder werden als Dauerleihgaben der EKU/UEK in Museen in Deutschland aufbewahrt und ausgestellt. Ersuchen des polnischen Staates zur »Rückführung« solcher Gegenstände nach Polen wurden seit Jahrzehnten (und werden grundsätzlich weiterhin) von der EKU/UEK abschlägig beschieden; dies wird zum einen mit den Eigentumsrechten begründet, die durch ein Urteil des Berliner Kammergerichts aus dem Jahr 1970 der EKU zugesprochen wurden, zum anderen mit dem Hinweis auf ausstehende zwischenstaatliche Gesamtregelungen zur Rückführung von Kulturgütern.
Allerdings wurden bereits in früheren Jahren in Einzelfällen Gegenstände – so ein Abendmahlskelch aus Jauer und einige historische Kirchenbücher aus Schweidnitz – an die betreffenden Kirchen, die heute zur Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen gehören, übergeben; dies war jeweils mit persönlichen Begegnungen der Beteiligten und mit gemeinsamen Gottesdiensten verbunden.
Auf Initiative des damaligen Bischofs der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Dr. Dr. h. c. Markus Dröge, und auf Beschluss des Präsidiums der UEK nahm die UEK im Jahr 2018 über das Erzbistum Danzig Kontakt zur Marienkirche Danzig auf, um wegen einer möglichen Rückkehr des von dort stammenden Dreifaltigkeitsaltars zu sondieren; dessen Retabel und Predella waren seit Jahrzehnten von der EKU/UEK an die Gemäldegalerie Berlin und an die St. Johannis-Kirchengemeinde Berlin Moabit ausgeliehen. Auf der Grundlage eines zwischen der UEK und der Marienkirche Danzig abgeschlossenen Schenkungsvertrages (und damit unter Anerkennung der vormaligen Eigentümerstellung der UEK) kehrte der Altar im März 2020 in seine Heimatkirche zurück. Aus Anlass einer Ökumenischen Vesper, die zum Trinitatisfest 2022 vom Erzbistum und der Marienkirche Danzig und von der UEK vor diesem Altar gemeinsam gefeiert wurde, wurde die Erarbeitung eines Letter of Intent zum »Danziger Paramentenschatz« in Aussicht genommen. In ihm sollte – analog zum beim Dreifaltigkeitsaltar gewählten Verfahren – vereinbart werden: (1) die förmliche Schenkung der aus der Marienkirche Danzig stammenden, von Mitgliedern der dortigen Evangelischen Kirchengemeinde gegen Kriegsende bei der Flucht in den Westen geretteten und seit Jahrzehnten in Museen in Lübeck und Nürnberg aufbewahrten Stücke des »Danziger Paramentenschatzes« von der UEK an die Marienkirche Danzig; (2) ihre Rückkehr zur Marienkirche Danzig zu einem Zeitpunkt, zu dem sie dort museologisch adäquat aufbewahrt und ausgestellt werden können. Ein solcher Letter of Intent wurde am 8. Dezember 2022 in Hannover vom UEK-Vorsitzenden, Kirchenpräsident Dr. Dr. h. c. Volker Jung, vom Danziger Erzbischof Dr. Tadeusz Wojda und vom Pfarrer der Marienkirche Danzig, Prälat lreneusz Bradtke, unterzeichnet. Die Absichtserklärung sieht außer der Eigentumsübertragung durch Schenkung und der Rückkehr der Paramente nach Danzig vor, dass, wie es schon gegenwärtig der Fall ist, auch künftig in Lübeck und Nürnberg einzelne Paramente – dann als Leihgaben der Marienkirche Danzig – ausgestellt sein werden und dass ein gemeinsamer Fachbeirat die Umsetzung des Vorhabens begleitet.
Die auch künftige, dauerhafte Präsenz von Danziger Paramenten in Lübeck und Nürnberg soll gewährleisten, dass die dankbare Erinnerung an die Rettung des Danziger Paramentenschatzes vor Kriegsverlust und ‑zerstörung durch die aus Danzig geflüchteten und vertriebenen Evangelischen weiterhin in Deutschland lebendig bleibt und gepflegt wird. Diese Erinnerung gehört aber – und das erscheint uns genauso wichtig – zu der Narration, die mit der Rückkehr der Paramente an ihren Ursprungsort, die Marienkirche Danzig, auch dort erzählt werden soll und erzählt werden wird: die Narration von einer gemeinsamen deutschen und polnischen, evangelischen und katholischen Geschichte an der Marienkirche Danzig, die zur Entwicklung einer gemeinsamen europäischen und ökumenischen Zukunftsperspektive herausfordert. Für diese heute mehr als in früheren Jahrzehnten mögliche Sicht, dass auf der Grundlage geschichtlicher Verbundenheit gemeinsame Verantwortung erwächst, muss, das ist der UEK sehr bewusst, auf beiden Seiten von Oder und Neiße geworben werden. Ich werde mich bei meinem Besuch in Danzig Anfang Juni, der wieder mit einem ökumenischen Gottesdienst verbunden sein wird, bei meinen dortigen Gesprächspartnern persönlich dafür einsetzen. Bitte betrachten Sie auch dieses Schreiben als Ausdruck meines Wunsches – und des Anliegens der UEK –, auch bei denen, für die die deutsch-polnische und die evangelisch-katholische Beziehung durch schmerzliche persönliche und familiäre Erinnerungen belastet ist, um Zustimmung zu dem Vorhaben, das ich Ihnen geschildert habe, zu werben.
Einige Tage später, am 25. Mai, nahm die UEK zudem in einer öffentlichen Erklärung zu Vorwürfen Stellung, die das Kirchenamt seit Publik-Werden des Letter of intent erreichten. Dieses Dokument ist auch deshalb bedeutsam, weil es – zugespitzter als der Brief von Bischöfin Bosse-Huber – Befürchtungen zu zerstreuen vermag, welche die Pressemitteilung im Dezember des Vorjahres hatte wecken können.
So wird zum einen der politische Kontext des Vorhabens erhellt und betont, dass die »Initiative zu dem Projekt […] nicht von polnischer Seite, sondern allein von der UEK« ausgegangen sei und bei ihrer Umsetzung – wie bereits im Falle des Dreifaltigkeitsaltars – »für die UEK nur die Kirche, namentlich die Marienkirche und das Erzbistum Danzig, als Gegenüber auf polnischer Seite in Betracht« komme. Dabei zieht sich die UEK nicht darauf zurück, dass es sich bei diesen Vorgängen um eine rein »kirchliche« Angelegenheit ohne politische Implikationen handelt, sondern zeigt sich gerade dafür sensibel: So sei »vor der Rückkehr des Dreifaltigkeitsaltars in die Marienkirche Danzig die Zustimmung zuständiger Stellen der deutschen Bundesregierung eingeholt worden« und es hätten »an den aus diesem Anlass stattfindenden Feierlichkeiten auch Vertreterinnen und Vertreter der deutschen und der polnischen Politik teilgenommen. Zudem wurde im Letter of Intent zum Danziger Paramentenschatz festgelegt, dass zu den Aufgaben des gemeinsamen Fachbeirats auch die Klärung politischer Fragen gehört, die sich bei diesem Vorhaben stellen.« Dabei wäre es – so ließe sich anschließen – wünschenswert, dass die Klärung politischer Fragen über den Kreis eines Beirates hinaus auch in die deutschen und polnischen Öffentlichkeiten hineinwirken möge; denn zwischen beiden Staaten und Zivilgesellschaften sind bei allen Fortschritten der letzten Jahrzehnte weiterhin gewichtige Fragen offen. Sie betreffen sowohl die in beiden Ländern betriebenen Erinnerungspolitiken als auch die von Bosse-Huber benannten »ausstehende[n] zwischenstaatliche[n] Gesamtregelungen zur Rückführung von Kulturgütern«. Vielleicht – so eine leise Hoffnung – können die Bemühungen um die Zukunft des Paramentenschatzes den Ausgangspunkt für eine grundsätzliche Diskussion um Perspektiven des deutsch-polnischen Umgangs mit dem gemeinsamen Kulturerbe sein. Dabei – und das muss deutlich gesagt werden – besteht Klärungsbedarf hinsichtlich der (bewusst in den Plural gesetzten) Erinnerungspolitiken – nicht nur zwischen Deutschland und Polen, sondern auch innerhalb Deutschlands. Denn mit den Regelungen zum Verbleib »nur« einiger Stücke der Paramente in der Bundesrepublik stellt sich – ganz unabhängig von Fragen der Besitzstandswahrung – die Frage, welche Bedeutung und Aufmerksamkeit dem ostdeutschen Kulturerbe im bundesrepublikanischen »Kulturbetrieb« zukommt. Die UEK mit ihrer jetzigen Entscheidung für hier ganz offensichtlich bestehende gesamtgesellschaftliche Defizite in Geiselhaft nehmen zu wollen, geht am Ziel vorbei. Wenn wir jedoch anlässlich der Paramente darüber ins Gespräch kommen können, welchen Platz ostdeutsches Kulturgut in deutschen Museen und Kultureinrichtungen hat und haben soll, wäre das nur zu begrüßen.
Zum anderen wendet sich die EKU gegen Spekulationen, »als seien die Paramente unrechtmäßig nach Lübeck bzw. Nürnberg und ins Eigentum der UEK, der Rechtsnachfolgerin der untergegangenen evangelischen Marienkirchengemeinde Danzig, gelangt oder als würden sie auf eine Forderung hin zurückerstattet«. Dementsprechend sei »nicht von einer Rückgabe, Rückführung oder Restitution die Rede, sondern von ihrer Rückkehr oder auch Heimkehr zur Marienkirche Danzig«. Die UEK stelle »den Gedanken in den Mittelpunkt, dass die Paramente als historische Objekte und als kulturelles Erbe untrennbar mit der Marienkirche Danzig verbunden sind und dorthin zurückkommen«. Dass dies seitens der UEK so deutlich benannt wird, ist in doppelter Hinsicht zu begrüßen. Erstens steuert eine solche Klarstellung der Gefahr, das Vorhaben in den derzeit in Deutschland populären postkolonialen Restitutionsdiskurs einzulesen – und damit die Geschichte der vertriebenen Danziger Evangelischen in einer Weise zu beschädigen, die nicht nur erinnerungspolitisch fatal, sondern vor allem auch unter pastoralen Gesichtspunkten unverantwortlich wäre. Zweitens tragen die klaren Worte der UEK dazu bei, das Vorhaben auch davor abzusichern, wiederum in Polen von politischen Akteuren (jenseits der unmittelbaren Kooperationspartner) in die dort geführten Restitutionsdiskurse eingelesen zu werden, deren Forderungen fortwährend an Deutschland adressiert werden. Das Problembewusstsein hierfür scheint bei der UEK in jedem Fall vorhanden zu sein. So schließt die Erklärung mit den Worten: »Den Partnern ist bewusst, dass eine solche neue Erzählung und die sie begleitenden Zeichen der Versöhnung sowohl in Deutschland als auch in Polen ernsten Vorbehalten begegnen, die aus den geschichtlichen Belastungen zwischen beiden Ländern und Konfessionen herrühren. Sie fühlen sich verpflichtet, diesen Vorbehalten verständnisvoll zu begegnen und gleichwohl für die gemeinsam gewonnene Einsicht zu werben.« Eine aktive Einbeziehung der vertriebenen Danziger (und dabei im Sinne der Ökumene nicht nur der Protestanten) bzw. ihrer Nachfahren und deren Organisationen und Institutionen – wie der Westpreußischen Gesellschaft oder der Kulturstiftung Westpreußen – kann zum Gewinnen von Verständnis gewiss nur beitragen. In jedem Fall ist dem gesamten Fachbeirat, der sich am 2. und 3. Juni in Danzig konstituiert hat, zu wünschen, dass es ihm gelingt, an der von den Initiatoren angestrebte »Narration« festzuhalten, sie zu stärken und gegen politische Angriffe wie Instrumentalisierungsversuche zu verteidigen, die es gewiss diesseits wie jenseits der Oder geben wird.