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Preußen – Faszinosum und Skandalon

Ein Sammelband dokumentiert die kontroversen deutschen Debatten

Auch wenn auf dem Cover der Name dieses Staates als erstes ins Auge fällt: Dieses Buch handelt nicht von Preußen, zumindest nicht unmit­telbar. Das Mittelbare, nicht die „Sache selbst“, sondern die verschie­denen Stand­punkte, die zu ihr einge­nommen wurden und werden, sind sein eigent­liches Thema. Preußen – Deutsche Debatten 18.–21. Jahrhundert stellt solche Stand­punkte aus vier Jahrhun­derten neben- und gegen­ein­ander, es vereint Einblicke in die Vorstellung preußi­scher Amtsträger von ihrem Staat sowie die ganze Spann­breite rückbli­ckender Einschät­zungen und Urteile über das Phänomen Preußen, die Literaten und Histo­riker hervor­ge­bracht haben.

Heraus­ge­geben wurde diese ambitio­nierte und opulente Antho­logie von Hans-Jürgen Bömelburg, dem Träger des Westpreu­ßi­schen Kultur­preises 2019, und Andreas Lawaty. Beide sind Osteuropa-Historiker und befassen sich schwer­punkt­mäßig mit der deutsch-polnischen Bezie­hungs­ge­schichte. Am Anfang der von den beiden Heraus­gebern ausge­wählten Quellen­texte steht das „Politische Testament“ von Preußen­könig Friedrich II. aus dem Jahre 1768. Die von den Texten gezogene Linie führt dann weiter durch verschiedene Phasen preußi­scher Geschichte und Nachge­schichte bis zu den teilweise immer noch heftig geführten Ausein­an­der­set­zungen der Gegenwart. Weit mehr als nur ein ausführ­liches Vorwort ist die Einführung der Heraus­geber, die sich bereits auf fast einhundert Seiten ausdehnt. Sie liefert ein Koordi­na­ten­system, das die einzelnen Quellen­texte einzu­ordnen hilft, indem sie die gesamte histo­rische Wegstrecke im Voraus schon einmal schnellen Schrittes erkundet. Danach könnte es sich durchaus auch empfehlen, die Route einfach im eigenen Tempo wieder rückwärts zu gehen, sprich: die Texte gegen­läufig zur Chrono­logie zu lesen, von den jüngeren zu den älteren.

Preußen – Deutsche Debatten 18.–21. Jahrhundert macht es niemandem leicht. Viele der im Buch zusam­men­ge­stellten Texte waren Ausgangs­punkte von Kontro­versen oder können als deren Dokumen­tation verstanden werden. Preußen-Verehrer sehen sich hier mit vielen kriti­schen Perspek­tiven konfron­tiert. Damit sind keineswegs nur die Ergeb­nisse der neueren Geschichts­wis­sen­schaft gemeint. Heinrich Heines Kritik am Staate Preußen ist noch vertraut, dass aber Theodor Fontane schrieb, Preußen sei eine Lüge gewesen, und damit die Künst­lichkeit dieses Staats­ge­bildes unter­strich, dürfte weniger bekannt sein. Doch auch Preußen-Verächter dürfen hier vieles lesen, das einer Verkürzung dieser Geschichte auf Milita­rismus und Obrig­keits­staat zuwider­läuft. Nicht zuletzt die nach dem Zweiten Weltkrieg auch von den Alliierten vertretene These, wonach das strikte preußische Law-and-Order-Prinzip direkt den Natio­nal­so­zia­lismus vorbe­reitet habe, erscheint heute kaum noch haltbar. Schon früh einer Einordnung als Verehrer oder Verächter Preußens entzogen hat sich der Biele­felder Histo­riker Hans-Ulrich Wehler mit einem Beitrag aus dem Jahr 1979, der in der Antho­logie ebenfalls abgedruckt ist. Wehler forderte damals eine kritische Distanz zu beiden Tendenzen ein und stellte fest: „Verklärung und Verteu­felung führen gleicher­maßen in die Irre.“

Wichtiger als solche eindeu­tigen Urteile ist ohnehin das Bewusstsein von der vielfäl­tigen Instru­men­ta­li­sierung des Andenkens an die preußische Geschichte, von der die Führung des natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deutschen Reiches in der Tat intensiv Gebrauch gemacht hat, man denke nur an den „Tag von Potsdam“ im Jahre 1933, mit dem Goebbels ganz bewusst eine Konti­nuität zwischen dem „Zweiten“ und dem „Dritten Reich“ insze­nierte. Seit der „Preußen­welle“ um 1980, als es in Berlin West wie Ost große Preußen-Ausstellungen gab, sind immer wieder Bedenken formu­liert worden, wenn neue Formen der Bezug­nahme auf Preußen erkennbar wurden. Im Falle des Humboldt-Forums, der gerade entste­henden Kopie des preußi­schen Stadt­schlosses in Berlin-Mitte, konnte ein sich nach und nach abzeich­nendes Nutzungs­konzept als Weltkulturen-Museum zumindest politische Vorbe­halte einiger­maßen ausräumen. Bei der ebenfalls beabsich­tigten Rekon­struktion der Potsdamer Garni­son­kirche ist die Diskussion in vollem Gange. Mit einem wortge­wal­tigen Wider­spruch zu diesem Vorhaben, den der Theologe und Journa­liste Christoph Dieckmann formu­liert hat, endet dann auch die Debatten-Anthologie von Bömelburg und Lawaty.

Eine allge­meine, breite Leser­schaft hat in Preußen – Deutsche Debatten 18.–21. Jahrhundert mögli­cher­weise gewisse Hürden zu nehmen, denn trotz der äußerst hilfreichen Einführung durch die Heraus­geber sind einige der enthal­tenen Texte ziemlich voraus­set­zungs­reich. Auch daran, dass geschichts­wis­sen­schaft­liche Fachbe­griffe wie „Teleo­logie“ (die Annahme, dass geschicht­liche Prozesse auf ein Ziel gerichtet sind) oder „borus­sische Gesinnung“ (ein preußi­scher Patrio­tismus, der Preußen als Keimzelle der deutschen Nation sah) unerläutert bleiben, sollte man sich nicht zu sehr stören. Eine beglei­tende Kommen­tierung oder ein Glossar wäre hier sicher sinnvoll gewesen. Die Bezeichnung „Antho­logie“ aber verdient diese Veröf­fent­li­chung voll und ganz: Sie ist ein kompaktes und zugleich vielschich­tiges (Hand-)Buch, eine umsichtige Sammlung von Schlüssel-Texten, das man zum Thema Preußen immer wieder zurate ziehen kann und wird.

Alexander Klein­schrodt