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Die Schaubühne als wandelbare Gestalt

Text: Alexander Kleinschrodt, Fotos: Matteo Piazza

In Danzig sorgt seit einiger Zeit ein neues Bauwerk für internationales Aufsehen: Das Shakespeare-Theater, von außen sich fast geheimnisvoll verschlossen gebend, verfügt über eine erstaunliche Mechanik und eröffnet Spielräume für ein vielfältiges Kulturleben. Bei aller Modernität knüpft der Neubau jedoch an lokale Traditionen an.

Im Süd­wes­ten der Dan­zi­ger Recht­stadt steht es, das neue ­Thea­ter. Gleich dane­ben ver­läuft auf hohen Stüt­zen die sechs­spurige Stadt­au­to­bahn, von der aus der Bau gut zu sehen ist: Eine dunk­le, breit lagern­de Anla­ge, die auf den ers­ten Blick nur wenig gemein­sam hat mit den oft auf­trump­fen­den Kul­tur­bau­ten neue­ren Datums, für deren Ent­wür­fe heu­te eine Rie­ge glo­bal täti­ger Star-­Architekten bereit­steht. Vie­le Städ­te ver­spra­chen sich in den letz­ten Jah­ren von sol­chen Neu­bau­ten einen »Bilbao-Effekt«, einen kul­tu­rel­len Auf­schwung, wie ihn ein Able­ger des New Yor­ker Guggenheim-Museums in die nord­spa­ni­sche Hafen­stadt brachte.

Dan­zig ist nicht Bil­bao, obwohl eine »Ver­bes­se­rung des Stadt­bilds durch die Ent­wick­lung eines kul­tu­rel­len Ange­bots auf euro­päi­schem Niveau« durch­aus eines der Zie­le des Pro­jek­tes »Shakespeare-­Theater« war. Der an der Uni­ver­si­tät von Vene­dig leh­ren­de Rena­to Riz­zi, mit sei­nem Ent­wurf im Jahr 2005 Sie­ger eines Wett­be­werbs, ist auch kein Star-Architekt. Lan­ge hat­ten sei­ne Ideen Zeit zu rei­fen, ehe der Bau dann zwi­schen 2011 und 2014 rea­li­siert wer­den konn­te. Vom Autor um eini­ge Erläu­te­run­gen zu sei­nem Bau­werk gebe­ten, ent­schul­digt Riz­zi sich knapp, aber freund­lich. Zur­zeit habe er viel zu tun, und über­haupt fie­le es ihm nicht leicht, sei­ne Gedan­ken zum Dan­zi­ger Thea­ter zusam­men­zu­fas­sen: »Das aus­zu­füh­ren wür­de hei­ßen, ein Buch zu schreiben.«

Wer sich in den Stra­ßen der Dan­zi­ger Recht­stadt etwas aus­kennt, kann das Shakespeare-Theater nicht ver­feh­len. Vom Lan­gen Markt kom­mend und hin­ein in die Lang­gas­se, geht es vor­bei am Fer­ber­haus und dem Post­amt, dann gleich dahin­ter in die frü­he­re ­Post­stra­ße. Nach eini­gen Schrit­ten öff­net sich zur Lin­ken eine klei­ne Grün­flä­che, rech­ter Hand hat der Neu­bau sei­nen Platz gefun­den. Aber was macht ­eigent­lich ein Shakespeare­Theater – die pol­ni­sche Bezeich­nung lau­tet Gdań­ski Teatr ­Szeks­pi­row­ski – aus­gerechnet in Danzig?

Bis zum Zwei­ten Welt­krieg stand auf dem Ge­lände die Gro­ße Syn­ago­ge, im Früh­jahr 1939 wur­de das weit­hin sicht­ba­re ­Gebäu­de auf Geheiß der Dan­zi­ger nationalsozia­listischen Füh­rung ab­­ge­rissen. Das jüdi­sche Got­tes­haus war zwar 1887 an die­ser Stel­le errich­tet wor­den, für das 17. Jahr­hun­dert bele­gen ein Stich sowie Fun­da­ment­fun­de aber hier bereits die soge­nann­te Fecht­schu­le. Dort fan­den vie­le Thea­ter­auf­füh­run­gen statt, schon damals gab es Gast­spie­le eng­li­scher Trup­pen. Die Popu­la­ri­tät der Wer­ke Shake­speares ist in Polen auch heu­te unge­bro­chen. Seit den neun­zi­ger Jah­ren setz­te sich des­halb eine För­der­gesellschaft für einen an die­se Tra­di­tio­nen anschlie­ßen­den Thea­ter­neu­bau in Dan­zig ein. Auch der bri­ti­sche Thron­fol­ger Prinz Charles gehör­te zu den Unterstützern.

Wer vor Ort ange­kom­men ist, für den hält das Shakes­peare-Theater gleich die ers­te Irri­ta­ti­on bereit: Man sucht die Schau­sei­te des Baus – und fin­det sie nicht. Die Bau­kör­per sind, mit Aus­nah­me des her­vor­ste­hen­den Trep­pen­hau­ses, von einer Mau­er umge­ben. Wäh­rend der zwei­ge­schos­si­ge Ver­wal­tungs­flü­gel dahin­ter ver­bor­gen bleibt, tre­ten Thea­ter­saal und Büh­nen­turm oben dar­aus her­vor. Die unauf­fäl­li­gen Zugän­ge, klei­ne Ein­schnit­te in die umlau­fen­de Mau­er, fin­den sich an den Längs­sei­ten. Sie füh­ren zunächst ins Inne­re des ein­ge­mau­er­ten Bezirks, wo sich klei­ne Plät­ze und ver­schie­de­ne Gän­ge eröff­nen. Von hier aus erfolgt zum einen der Zugang ins Foy­er, zum ande­ren aber bie­tet sich die Mög­lich­keit, auf den Mau­er­kranz zu stei­gen. Die­ser Par­cours ist öffent­lich zugäng­lich und führt zu einer Platt­form ober­halb des Büro­trakts, von wo der Blick über Dan­zig schwei­fen darf. Rena­to Riz­zi hat vor­ge­schla­gen, auch die­se Flä­che als Thea­ter­spiel­ort zu begrei­fen. In die­sem Som­mer gibt es hier oben bereits ein Open-Air-Kino.

Wenn Archi­tek­ten heu­te in his­to­ri­schem Umfeld bau­en, wird von ihnen meis­tens eine sen­si­ble Ein­fü­gung in den Bestand erwar­tet. Riz­zi hat für das Thea­ter Back­stein ver­wen­det und folgt damit der loka­len Bau­tra­di­ti­on. War­um aber – und hier wäre schon das zwei­te Irri­ta­ti­ons­mo­ment – hat er sich für ein doch auf­fäl­lig dunk­le­res Mate­ri­al ent­schie­den, als es bei den mit­tel­al­ter­li­chen Bau­ten der Stadt zu fin­den ist? Der Ein­druck der Ober­flä­chen, die sich voll­stän­dig aus den bei­na­he schwar­zen Stei­nen zusam­men­fü­gen, erin­nert eher an Bau­ten aus den 1920er Jah­ren (wie das im ­UNESCO­-Welterbe gelis­te­te Chi­le­haus in Ham­burg). Woll­te Riz­zi den Rück­be­zug hier ein­fach nicht zu offen­sicht­lich machen?

In den Innen­räu­men ergibt sich ein star­ker Kon­trast. Das klei­ne, nicht vie­le Ablen­kun­gen bie­ten­de Foy­er und die Trep­pen­häu­ser sind matt­weiß ver­putzt, die Böden sind aus hell­grau­em Natur­stein. Der für etwa 600 Zuschau­er aus­ge­leg­te Thea­ter­saal schließ­lich ist von Holz­oberflächen geprägt. Ansons­ten weicht er aller­dings fun­da­men­tal von ande­ren moder­nen Thea­tern ab. Mit dem his­to­ri­schen Bezug auf die Shakespeare-Zeit wur­de ernst gemacht: Die Flä­che des Saals ist nicht beson­ders groß, jedoch ist er an drei Sei­ten von drei­ge­schos­si­gen Empo­ren umge­ben. Oben sitzt man hin­ter höl­zer­nen Balus­tra­den und genießt eine Rundumsicht.

Was man dort sieht, ist aller­dings nicht ein für alle­mal fest­ge­legt. Das Shakespeare-Theater als ein Cha­mä­le­on zu beschrei­ben, grif­fe noch zu kurz. Wenn schon, dann müss­te man es mit einem Fabel­we­sen ver­glei­chen, das völ­lig unter­schied­li­che Gestal­ten anneh­men kann. Sei­ne Wan­del­bar­keit ver­dankt der Saal einer Unterkon­struktion, mit der der Boden bewegt wer­den kann. Dadurch wer­den ver­schie­de­ne »Kon­fi­gu­ra­tio­nen« mög­lich, die jeweils ganz eige­ne Vor­aus­set­zun­gen für das Gesche­hen schaf­fen – sei­en es Theater­­auf­führungen oder etwas ande­res. Neben einer nor­ma­len Guck­kas­ten­büh­ne ist zum Bei­spiel ein »eli­sa­be­tha­ni­sches« Modell mög­lich mit einer weit in den Raum ragen­den Vor­der­büh­ne. Das Publi­kum steht dann, wie in Shake­speares Lon­do­ner Glo­be Theat­re, um das Podest her­um. Für expe­ri­men­tel­le Thea­ter­for­men sind schie­fe Ebe­nen mach­bar, für Fes­te kann der gan­ze Saal zu einer ebe­nen Flä­che wer­den. So ste­cken in dem einen Gehäu­se eigent­lich gleich meh­re­re Thea­ter. Ver­mut­lich ist das der Traum vie­ler Intendanten.

Letzt­lich ist es jedoch die Dach­kon­struk­ti­on, die dem Dan­zi­ger Thea­ter so viel Auf­merk­sam­keit ein­ge­bracht hat. Rena­to Riz­zi hat hier eine Fines­se ein­ge­baut, wie sie in Sport­sta­di­en oder Schwimm­bä­dern schon häu­fi­ger zu sehen ist: Bei schö­nem Wet­ter lässt das Dach sich öff­nen. Damit wird ein Thea­ter­spiel unter frei­em Him­mel mög­lich, auch das in Anleh­nung an his­to­ri­sche Vor­bil­der aus Eng­land. Wenn die ent­spre­chen­den Schal­ter gedrückt wer­den, ist es, als ob sich lang­sam die Flü­gel­tü­ren einer Kathe­dra­le auf­tun, die hier ins Monu­men­ta­le gestei­gert und in die Hori­zon­ta­le gekippt wur­den. Das Pro­ze­de­re hat selbst schon etwas Thea­tra­li­sches. Einem ange­hen­den Archi­tek­ten, so war in einer eng­li­schen Fach­zeit­schrift zu lesen, wür­de man die­se Lösung in einer Examens­ar­beit als Taschen­spie­ler­trick ange­krei­det haben. Rena­to Riz­zi hat­te offen­bar Glück: Er war auf eine der sel­te­nen Gele­gen­hei­ten gesto­ßen, eine extra­va­gan­te Idee auch rea­li­sie­ren zu können.

Am 19. Sep­tem­ber 2014 ist das Shakespeare-Theater ein­ge­weiht wor­den. Im Hau­se und dar­um her­um gab es ein gro­ßes Spek­ta­kel mit Moti­ven aus Shake­speares Wer­ken und sei­ner Zeit, der Ein­tritt war frei. In die­sen Tagen geht dort das 20. Shakespeare-Festival zu Ende, eine Platt­form für Thea­ter­grup­pen aus der gan­zen Welt, die mit neu­en Shakespeare-Adaptionen um die Gunst des Publi­kums und einen Preis des Fes­ti­vals rin­gen. Auch als Kon­zert­ort für anspruchs­vol­le Pop­mu­sik hat sich das Thea­ter bereits eta­bliert. Rena­to Riz­zi hat Dan­zig ein groß­ar­ti­ges Spiel-Zeug geschenkt: Es for­dert die Krea­ti­vi­tät des Kul­tur­be­triebs her­aus, der die Mög­lich­kei­ten des Hau­ses auch bald zwei Jah­re nach sei­ner Eröff­nung sicher noch nicht aus­ge­schöpft hat.


Die Redak­ti­on dankt Matteo Piaz­za sehr herz­lich für die groß­zü­gi­ge Erlaub­nis, sei­ne ein­drucks­vol­len Foto­gra­fien des Dan­zi­ger Shakespeare-Theaters in die­ser Zeit­schrift ver­öf­fent­li­chen zu dürfen.