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Nach dem Ende der Illusionen

Die Politik­wis­sen­schaft­lerin Prof. Dr. Gwendolyn Sasse hat bereits acht Monate nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine eine fundierte Überblicks­dar­stellung der Hinter­gründe und Entwick­lungen des Krieges vorgelegt. Im Interview mit Tilman A. Fischer spricht die Wissen­schaft­liche Direk­torin des Zentrums für Osteuropa- und inter­na­tionale Studien (ZOiS) in Berlin über die Impli­ka­tionen für die europäische Außen- und Sicherheitspolitik.

Frau Professor Sasse, Sie üben wiederholt Kritik an der – teils überwun­denen – Perspektive »des Westens« auf Russland. Welche westlichen Illusionen sind mit und seit dem 24. Februar 2022 zertrümmert worden?

Zum einen ist das die Illusion, dass man Russland von außen verändern kann. Aller­dings hatten sich vielleicht auch schon weniger Menschen in der deutschen und europäi­schen Politik dieser Illusion hinge­geben; aber die Illusion, die es noch gab, war die Vorstellung, dass man das Verhältnis managen und die einseitige Energie­ab­hän­gigkeit ausba­lan­cieren könnte. Zwischen diesen Ideen von »Wandel durch Handel« oder zumindest »sicher­heits­po­li­ti­scher Stabi­lität durch Handel« bewegt sich diese Haupt­il­lusion, die am 24. Februar 2022 zerbrach. Zum anderen gehört dazu, dass man in der deutschen und europäi­schen Öffent­lichkeit gar kein klares Bild von der Ukraine als Staat und Gesell­schaft hatte. Nur so erklärt sich, wie überrascht man nach Kriegs­beginn hierzu­lande über die militä­rische, politische und gesell­schaft­liche Resilienz der Ukraine war.

Was lehrt uns dieser Befund über den vor dem Angriffs­krieg einge­übten Blick Deutsch­lands und Europas auf Ost- und Ostmitteleuropa?

Dazu gehört wieder zweierlei: Einer­seits hat man zu lange das gespro­chene und geschriebene Wort Putins und einiger seiner Eliten über die Ukraine nicht ernst­ge­nommen – selbst das, was er in deutschen Zeitungen veröf­fent­licht hat. Man hat sich nicht vorstellen können, dass das wirklich in Politik umgesetzt werden könnte. Daraus folgt die Lehre, dass man Rhetorik – und vor allem staat­liche Rhetorik – ernst­nehmen muss. Anderer­seits hat man vor allem in Deutschland, aber auch in Europa, die Sowjet­union als Russland fortge­schrieben. Viele ostmit­tel­eu­ro­päische Staaten kamen in dieser Wahrnehmung gar nicht vor, und es gab keinen diffe­ren­zierten Blick auf Staaten wie die Ukraine; gleiches gilt für Moldau und Belarus. Es liegt eine große Schwäche darin, dass es nicht gelungen ist, den eigenen Blick den politi­schen Wirklich­keiten anzupassen, sondern sich vielmehr die Wahrnehmung – bewusst oder unbewusst – auf Russland verengt hat.

Vor welchen Heraus­for­de­rungen steht die EU nun nach dem Ende der Illusionen?

Was ganz deutlich wird, ist, dass die EU außen­po­li­tisch, aber auch im Innern, an die Grenzen ihrer Funkti­ons­fä­higkeit gestoßen ist. Es stehen außen- und sicher­heits­po­li­tische Grund­satz­fragen im Raum, aber auch interne Reformen, die u. a. für einen ukrai­ni­schen EU-Beitritt unerlässlich sind. 

Lassen Sie uns vielleicht zunächst die innere Verfasstheit der EU fokus­sieren! Mit Russland befindet sich die EU in einem offenen Konflikt mit einem autori­tären Staat. Welche Konse­quenzen hat dies für autoritäre Tendenzen in einzelnen EU-Mitglieds­staaten – mithin für die Spannungen zwischen der Visegrád-Gruppe und dem Westen der EU?

Wir sehen keine so klare Ost-West-Spaltung der EU, und das ist auch gut so. Aber natürlich bleiben die autori­tären Tendenzen und Regime, die es in der EU gibt, bestehen – vor allem in Ungarn, welches ein schwie­riger Partner in Fragen der Russland-Politik ist. Aller­dings war vor Februar letzten Jahres klar, dass Polen und Ungarn sich gegen­seitig unter­stützen und die wenigen Sankti­ons­mög­lich­keiten in der EU aushebeln würden. Das ist jetzt gebrochen, weil Polen sich mit Blick auf die Ukraine anders positio­niert als Ungarn. Das heißt aber nicht, dass sich innen­po­li­tisch in Polen irgend­etwas verändert hätte. Vielleicht kommt das noch. Aber im Moment ist das nicht zu erkennen. Die Heraus­for­derung im Moment ist, zu sehen: Wo gibt es Solida­rität, um in dieser Situation als EU zu funktio­nieren und die Bedin­gungen für eine Beitritts­per­spektive für einen ukrai­ni­schen EU-Beitritt zu schaffen? Denn, wenn es eine glaub­würdige Perspektive sein soll, setzt das voraus, dass sich auch die EU refor­miert. Die Probleme innerhalb der EU – und die inneren Gefähr­dungen für die Demokratie – bleiben bestehen, vielleicht aber schärft die Ausein­an­der­setzung mit dem autori­tären Regime in Moskau den Blick für sie.

Wie wird sich wiederum die Außen- und Sicher­heits­po­litik der EU verändern müssen?

Das ist eine offene Frage – aber die EU muss sich verändern und muss auch die Politik gegenüber ihrer sogenannten Nachbar­schaft anpassen. Denn es ist einiges in Bewegung: in der Ukraine ohnehin – und Ukraine und Moldau haben jetzt eine konkrete Beitritts­per­spektive. Hier wird es darum gehen, diese glaub­würdig zu gestalten und mit notwen­digen Reformen – und im Falle der Ukraine mit dem Wieder­aufbau – zu verknüpfen. Das wird eine sehr große Heraus­for­derung sein. Darüber hinaus wird die Politik, die sich an die weitere Nachbar­schaft richtet, Anpas­sungen erfahren müssen. Auch Bezie­hungen in den Südkau­kasus werden stärker als bisher diffe­ren­ziert werden müssen – insbe­sondere, wenn wir an das autoritäre Aserbai­dschan denken. Regional verändern sich in dieser Gegend die Macht­ver­hält­nisse, nicht zuletzt, da Russland sich momentan auf den Krieg in der Ukraine konzen­trieren muss, was Ressourcen bindet. Das hat Folgen für Akteure wie Aserbai­dschan, die im  militä­ri­schen Konflikt mit Armenien um Bergka­rabach den neuen Spielraum austesten, aber auch für die Rolle der Türkei oder des Irans in der Region. Daraufhin muss die EU sich in Ihrer Politik anpassen. 

Was ist hierzu notwendig?

Sie muss generell präsenter werden, auch über die Länder der östlichen Partner­schaft hinaus, und klarer formu­lieren, was sie in Bezie­hungen mit Ländern etwa in Zentral­asien, aber auch in Asien oder Afrika anzubieten hat. Das ist bisher eher diffus geblieben. Bedin­gungen wie die Regelungen zur Beschluss­fassung innerhalb der EU müssen verändert werden, wenn sie ein glaub­wür­diger Akteur in der Außen- und Sicher­heits­po­litik sein will, was von ihr erwartet wird: in der EU, in der Ukraine ohnehin, aber auch in Washington. Die USA erwarten schon seit langem, dass die EU souve­räner wird. Es gibt noch nicht einmal einen Konsens, was für ein sicher­heits­po­li­ti­scher Akteur die EU sein will und ob dazu auch eine gemeinsame militä­rische Dimension gehört, wie der franzö­sische Atomschirm. Auch der derzeitige Konsens hinter der militä­ri­schen Unter­stützung für die Ukraine könnte sowohl in Teilen der EU als auch in den USA brüchig werden.