Eine Begegnung mit Marianne Mewis
Bei der Ausschau nach Schriftstellerinnen, die in ihrem Empfinden und Schreiben insbesondere Westpreußen, seinen Menschen wie seiner Natur eng verbunden waren, fällt der Blick alsbald auf Marianne Mewis (1866–1938). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts etablierte sie sich als erfolgreiche, von vielen geschätzte Autorin von Romanen und Erzählungen, die sich sicher in verschiedenen literarischen Gattungen und Formen zu bewegen vermochte und stilistisch und rhetorisch im besten Sinne des Wortes ihr »Handwerk« verstand.
Deshalb möchten wir unsere Leserinnen und Leser einladen, der Westpreußin Marianne Mewis dank einer von uns aufbereiteten kompakten Version einer zur Weihnachtszeit spielenden Novelle zu begegnen, die erstmals 1903 in Berlin erschienen ist.
Die WP-Redaktion
Zwöschen Wießel on Noacht [Zwischen Weichsel und Nogat] – wer kennt die Gegend? – Niemand; denn man reist nicht, um Gras zu sehen. Aber selbst mitten im Winter malt uns die Phantasie einen grünen, wallenden See von unzähligen feinen Halmen. Das Licht spielt silbern darauf; die leichten Sommerwolkenschatten schleppen drüber hin, wie feine graue Schleier, die irgend eine heunische Weidelottin [altpreußisch: riesenhafte Priesterin oder Zauberin], ehe sie mit den Göttern zu Tanze geht, in den smaragdnen Wogen spült. Ein köstliches Aroma sättigt die weiche Luft, nicht der herbe Geruch der salzigen Meeresflut, sondern der süße Pflanzenduft dieses Oceans von Gräsern, der warme kräftige Hauch blühender Wiesen, besonnter Weizenfelder. Auf dem breiten lehmfarbigen Hauptarme des Stromes ziehen die hochmastigen Weichselkähne still dahin, und die Holztrawten gleiten, Floß an Floß gebunden, langsam talabwärts. Der bronzebraune, polnische Flisse, oft helläugig und flachshaarig, in der faltigen Hose, dem weitärmeligen Hemd aus gelbem Linnen, dem umgewandten rohen Schafpelze trotz allen Schmutzes eine malerische Gestalt, stößt die lange, ästige Ruderstange in das sommerlich seichte Wasser oder liegt zur Mittagsrast vor dem Strohhüttchen und taucht nach dem Beispiele des »Voressers« taktmäßig den Holzlöffel in die hölzerne Mulde, – oder entlockt auch abends, wenn der Sprosser in den Weiden des dammbegrenzten Vorlandes schlägt, seiner kleinen selbstgefertigten Fiedel eine eintönige Weise voll von der unbewußten Schwermut einer tief in Unwissenheit und Aberglauben versunkenen Menschenseele.
Als ein Friedensidyll würde man die Gegend bezeichnen, wenn nicht der weiten gleichförmigen Ebene ein Zug von Größe anhaftete, der sich mit dem Begriff eines Idylls schlecht vereinigt; wenn man auf die träge, gelbbleiche Weichsel niederblicken könnte, ohne sich schaudernd der unzähmbaren Leidenschaftlichkeit dieser slavischen Stiefschwester des klaren, grünen Rheins, der heiterstolzen blauen Donau zu erinnern. – So ist das Weichseldelta im Sommer.
Aber es verliert den idyllischen Charakter vollends, wenn man es im Winter sieht wie der Mann, der im starken Kastenschlitten aufrechtstand, die Zügel der schweren Pferde fest angezogen hielt und mit sorgenvollem Ausdrucke auf dem jungen ernsten Gesichte die Nogat betrachtete, den Himmel ansah und schließlich seinen Blick auf der Marienburg jenseits des Flusses haften ließ. – Es war einer von jenen feuchtwarmen Dezembertagen, die trotz der schneebedeckten Erde Frühlingsahnungen wecken, obwohl die härteste Winterszeit noch vor der Türe steht. Ein feiner Nebel gab der weiten, flachen Landschaft ringsum etwas Weiches, Träumerisches. Jetzt, am hohen Mittage, färbte ihn die unsichtbare Sonne mit warmem Tone. Die Erlen am Flusse zeigten ein blauduftig beschlagenes Rotlila, einzelne Goldweiden ein leuchtendes Orange; man sah deutlich, daß die kahlen Zweige nicht abgestorben, sondern voller Leben und Triebkraft waren. Der schmutziggelbe, hoch geschwollene Strom wälzte große graue Schollen, eine jede mit einem hellen schaumigen Rande von Schnee oder zerriebenem Eise umkränzt. Da und dort sammelten sich die einzelnen Eisscherben am Ufer, bildeten eine feste Halbinsel, stauten Treibholz, Rohr, Stroh, Gezweige zurück; und die wilde Flut quirlte zermalmte Teile davon in schlammigen Strudeln.
Drüben drängten sich die kleinen Backsteinhäuser der ›Vorburg‹ gleich schutzsuchenden Hörigen um die hochragende Ordensfeste. In tiefem Braunviolett, die Dächer schneegefleckt, wuchs das mächtige Ziegelgemäuer wie ein weltverlorenes Geisterschloß aus dem mütterlichen Boden und verlieh in seiner Vernachlässigung und seinem Verfalle dem ganzen schwermutsvollen Bilde das Gepräge düsterer Erhabenheit.
Der junge Mann, der hier wenige Tage vor Weihnachten mit seinem Kastenschlitten im Marienburger Werder unterwegs ist, heißt Isbrand Klaassen, er ist ein in der mennonitischen Tradition verwurzelter Westpreuße. Eine tiefgreifende Verbitterung und große Sorgen bedrücken ihn, denn sein Lebensweg hat eine folgenschwere Wendung genommen: Von jugendlichem Kampfesgeist besessen, hat er im Mai des Jahres 1813 – im Widerspruch zu seiner pazifistischen Glaubenslehre – zu den Waffen gegriffen und ist mit dem Grafen Dohna nach Danzig geritten, um das Vaterland gegen die Franzosen zu verteidigen. Als er zwei Jahre später nach Hause zurückgekehrt ist, musste er nicht nur erfahren, dass die Eltern verstorben sind, sondern auch, dass der Vater erhebliche Teile seines Vermögens für Kriegszwecke dem preußischem König übergeben hat, um so »auf seine Art zu dienen«.
Isbrand sieht sich weitestgehend mittellos, vor allem jedoch durch die Familie, Nachbarn und die Glaubensgemeinschaft geächtet. Er lebt wie ein Eremit, entsagt jeglicher Lebensfreude, und zudem lasten zunehmend Schulden auf ihm. An diesem Tag im Dezember nun bricht er missmutig zu seinem Geldverleiher nach Marienburg auf, jedoch vermag er wetterbedingt die Nogat nicht zu überqueren, und als er, in trübe Gedanken versunken, umkehrt, lässt ihn eine anrührende, geradezu biblische Erscheinung aufmerken.
Auf einem kleinen Tier, einem Esel vielleicht – nein, es war doch wohl ein Pferdchen oder ein Maultier – saß eine weibliche Gestalt in dunkelblauem Rocke. Über Kopf und Oberkörper hatte sie ein feuerrotes Kleidungsstück geschlagen. Darin hielt sie, wie es Isbrand schien, ein Kind, schaukelte es in den Armen und sang ihm ein Liedchen. Ihr Reittier führte ein Mann im langen Schafpelze, die Mitte mit einem Strick umschnürt, am Zügel.
»Die heilige Familie auf der Wanderschaft, wie sie in den rheinischen Kirchen zu sehen ist,« fuhr es Isbrand durch den Sinn. Als die kleine Karawane ziemlich nahe war, vernahm er klar die sehr liebliche Stimme der Sängerin, die einfache Melodie und selbst die Worte, wohl ein Weihnachtslied:
»Auf den Bergen da weht der Wind.
Da sitzt Maria mit ihrem Kind –
schum schei, schum schei, schum schei –«
Der Wind wehte nicht; nur der feine Nebel umschleierte das Bild und gab ihm etwas Unirdisches.
Der Gesang brach ab. Der Zug hielt, und die Reiterin fragte in den weichen Stimmlauten der Westpreußen polnischer Herkunft:
»Verzeihen gütigst – ist dies der Weg nach Marienburg?«
Isbrand nickte. Er war in seinem freiwilligen Eremitenleben linkisch und wortkarg geworden; und die lebhaften hellbraunen Augen der Fragerin verwirrten ihn. Lange hatte er nicht ein so reizendes Frauenbild zu Gesichte bekommen. Er sah nun, daß die Reiterin die dunkle, wattierte Kazawaika über den Kopf geschlagen hatte, so daß das feuerrote, gesteppte Seidenfutter nach außen kam und das zarte, von der Schneeluft frisch gerötete Gesicht mit den paar zerzausten rotbraunen Haarsträhnchen auf der weißen Stirn kleidsam umrahmte.
Rasch begreift Isbrand, in welcher Not die Reisenden sind und dass sie ihr Ziel an diesem Tage nicht werden erreichen können. Da sein Gehöft »bruchfrei« und somit sicher auf einer künstlichen Erhöhung liegt und er sich zugleich dem hohen Gebot der Gastfreundschaft verpflichtet fühlt – denn schon sein Vater »hätte niemals einen Obdachsuchenden von der Schwelle gewiesen« – lädt er die Drei zu sich ins Haus ein. Dies geschieht zur überraschenden Freude der Haushälterin, die die Fremden freundlich mit ihrem warmherzigen Platt willkommen heißt und sie mit Hingabe umsorgt. Die junge Frau stellt sich als Wanda Nehring vor, eine Witwe aus Danzig, die ihren Mann, einen Regimentschirurgen, vor einem Jahr verloren habe; und nun wolle sie zu Verwandten nach Marienburg ziehen. Auch wenn ihre Lebensgeschichte und das muntere Wesen ihres kleinen Sohnes das verstockte Herz Isebrands anzurühren scheinen, führen jedoch kulturelle und religiöse Differenzen immer wieder zu heftiger Gereiztheit und zu Konflikten.
Sie faßte mit beiden Händen den mächtigen unangeschnittenen Laib, drückte ihn, den Körper zurückbiegend, an sich, griff nach dem großen Messer und fuhr kreuzweis mit der Spitze über die Unterseite des Brotes.
Isbrand hatte ihr zugesehen. Nun runzelte er die Stirn und rief heftig: »Was tun Sie denn da? Das ist bei uns nicht der Brauch!«
Sie war zusammengefahren. »Es ist mir so in der Gewohnheit. Ich hab’s von der Mutterchen; die war katholisch,« sagte sie wie entschuldigend. »Aber wir Kinder wurden nach dem Vater lutherisch. – Es schadet doch dem Brotchen nicht,« setzte sie ein wenig trotzig hinzu.
Er schwieg unwillig, und sie versorgte ihn ebenfalls ziemlich schweigsam und rückte ihm die frischen guten Fleischwaren und übrigen Speisen mit knappem, aber freundlichem: »Ei Butter? – Ei Zunge? – Ei Wurst?« aufmerksam zur Hand.
Wenngleich deutlich verstimmt und gekränkt, wünscht man sich dennoch eine gute Nacht: Wanda äußert die Hoffnung, ab morgen nicht länger zur Last fallen zu müssen, während Isbrand mahnt, vor allem wegen des kränkelnden Knaben nicht überstürzt abreisen zu sollen. In den folgenden Stunden jedoch entscheidet allein die unerwartet geänderte Wetterlage über den weiteren Gang der Ereignisse.
Am anderen Morgen lagerte der Nebel wie eine dicke, milchweiße Wolke über der Niederung. Die Reisenden konnten nicht an Aufbruch denken. Als aber Schleier um Schleier sank und endlich die Sonne mild wie eine strahlenlose Mondscheibe niederblickte, war in der langen Winternacht heimlich und leise ein neuer Gast vor Isbrand Klaassens Hof geschlichen: Die Nogat.
Hatte sich wider Erwarten das Eis weiter stromab gestaut oder tief unten im Flußbette sich Grundeis zusammengeschoben und den Wasserlauf gesperrt? War der Damm überspült oder durchbrochen worden? – Man konnte nur mutmaßen, wie die drei, die in der Wohnstube des einsamen Werderhauses am Fenster standen und auf die Flut hinausschauten, es taten. – Welch ein liebliches Bild voller Ruhe und schwermütiger Schönheit! Wer mochte an Zerstörung, Not und Tod denken, wenn er dieses reizende Ungeheuer da unten gleich einer Katze, die Vogelnester zerstörte, sich in der Sonne strecken sah?! – Grauschimmernd wie eine schöne Edelzinnplatte dehnte sich die mattbeleuchtete Fläche nach allen Seiten und verschwamm in der Ferne mit dem perlfarbenen dunstigen Morgenhimmel. Hin und wieder unterbrach eine unregelmäßige Reihe von Weiden, dickköpfige Gnomen mit gesträubtem Haar, die Einförmigkeit und bezeichnete den Lauf eines Grabens. Eine Windmühle streckte die regungslosen Flügel wie hilfeflehende Arme zum Himmel empor. Einzelne Krähen zogen krächzend dahin und suchten einen Platz zum ausruhen. Hoch stand das Wasser nicht, und die Leute behaupteten, daß es aufgehört habe zu steigen.
An einen Aufbruch in Richtung Marienburg ist also nicht zu denken; Isbrand muss sich eingestehen, dass er seinerseits dankbar ist, nochmals die Klärung der misslichen Geldangelegenheiten verschieben zu können, und zudem scheint es ihm angenehm zu sein, seine Gäste auch weiterhin zu beherbergen. Freundlich und mit medizinischem Sachverstand wendet sich Isbrand dem kleinen, von einem Nesselfieber geplagten Patienten zu – fühlt sich sogar »wie von einem wunderlichen Zauber befangen«. Dieser Glücksmoment währt kurz, denn alsbald droht eine ungeheuerliche Situation neuerlich sein zaghaft wachsendes Vertrauen zu zerstören.
Als er eine halbe Stunde später wieder durch den Flur schritt, um in sein Zimmer hinaufzusteigen, klang aus der Wohnstube lustiger Gesang. Das erschien ihm im Hause seiner Eltern ungewohnt und ungehörig. Man hatte an dieser Stelle nur geistliche Lieder gesungen. Nun vernahm er sogar deutlich das Schleifen von Füßen, wie beim Tanze. »Tanz, Spiel, Schauspiel und derlei« galten ihm aber, seit er denken konnte, als Fallgruben des Bösen und waren allzeit streng verpönt gewesen. Er öffnete zornig die Tür; es hörte ihn indes niemand; und er blieb eine Weile, die Klinke in der Hand, unentschlossen auf der Schwelle stehen.
Die junge Mutter hielt ihr Kind im Arme, tanzte sehr zierlich in dem großen Raume rundherum und sang ein recht weltliches Tanzliedchen:
»Seht, da kommt mein Schätzchen her.
Welchen kecken Gang hat er:
Seht, wie ihm das Hutchen sitzt,
Das ihn vor der Liebe schützt!« –
Die alte Wirtschafterin klatschte in die Hände, und der Paserjunge stand grinsend am Ofen und trat taktmäßig von einem Fuß auf den anderen – ein unerhörter Anblick!
Jetzt sah auch die Tänzerin den neuen Zuschauer, nickte ihm lächelnd zu, wiegte sich schelmisch und fiel aus dem Polka- in den Walzertakt:
»Hinter dem Berge brennt ’ne Laterne.
Goldenes Schatzchen weit in der Ferne –
In der Laterne da brennt ein Licht.
Goldenes Schatzchen, verlaß mich nur nicht;«
Isbrand wurde dunkelrot im Gesicht. Die Alte und der Junge verschwanden durch eine Verbindungstür in der Küche.
Der junge Mann suchte nach Worten für seine Entrüstung. Er stotterte vor Erregung. »Hier – ist nie getanzt worden,« sagte er heiser.
Frau Wanda blieb hochatmend vor ihm stehen; ihr ganzes Gesicht blühte und glühte von der Bewegung, und ihre Augen strahlten. »Warum denn nicht?« fragte sie erstaunt.
»Es – es ist doch – Teufelswerk –«
»Teufelswerk?« Sie war ganz benommen, faßte sich aber schnell. »Ich denke, der König David tanzte sogar vor der Bundeslade?«
»Der König David!« sagte er verächtlich. »Er hat manches getan, was man sich nicht zur Richtschnur nehmen darf. Er war der Weinstock, auf dem das Edelreis wachsen sollte, aber er trieb noch viel wilde Schößlinge.« Unwillkürlich verfiel er in den Predigtton seines Vaters.
Weder dieser Zwischenfall noch sein unbändiger Zorn über das auf Wandas Schoß entdeckte Kartenspiel – »das Gebetbuch des Teufels« – können letztlich verhindern, dass Isbrand von zunächst irritierenden, tiefen Gefühlen, gar von Zärtlichkeit, sowohl für das Kind – er nimmt es auf den Arm, sitzt neckend mit ihm auf dem Boden – als auch für seine Mutter ergriffen wird. Zum ersten Male selbst lachend, hört er zu, wie sie in »drolligen Schilderungen« aus ihrem bisherigen Leben erzählt. Somit vermag doch noch eine heitere, friedliche Stimmung zum Heiligen Abend einkehren, der beim Schein von selbstgezogenen Talglichtern und einem reichlich gedeckten Tisch festlich begangen wird. Am Morgen des ersten Weihnachtstags versammelt sich die bunte Schar all jener, die zurzeit unter diesem Dache leben, zur Andacht des Hausherrn.
Er stimmte mit seinem dunklen Baryton einen Choral an. Während des Liedes ließ es den Blick nachdenklich auf der kleinen Schar um sich ruhen. Die Haushälterin war eine Reformierte. Sie hielt den Kopf gesenkt und sang laut und eifrig. Der ›Futterrock‹, ein Lutherischer, brummt in einem rauhen Baß unverständlich dazwischen, während der Paserjunge, baptistischer Eltern Kind, mit einer hellen, hohen Stimme sehr unmelodisch den Text deutlich und genau herausschmetterte. Der fremde Fuhrmann, der katholisch war, hielt die Mütze vor den Mund und schien mit niedergeschlagenen Augen andächtig zuzuhören. Über dem ganzen unharmonischen Durcheinander schwebte süß und klar Wanda Nehrings liebliche Stimme. Die junge Frau schaute zum Fenster hinaus auf den sich langsam erhellenden Morgenhimmel. Sie hielt ihr Kind im Arme, das – die Augen verträumt und die Bäckchen rotgeschlafen, – verwundert aufhorchte.
Über die beiden Feiertage ist das Wasser ums Haus langsam zu Eis gefroren, so dass der Aufbruch und der beiderseits immer schmerzlicher empfundene Abschied näher rücken. Auf Schlittschuhen unterwegs nach Kalthof, einem Vorort von Marienburg, trägt Isbrand den Jungen »nach Art der Frauen jener Gegend in einem großen um den Oberkörper geschlungenen Tuche vor der Brust gebunden«, während Wanda, die sehnsüchtig auf die Erfüllung ihrer heimlichen Liebe hofft, wie eine Möwe über das Eis fliegt. – Dann halten sie erschüttert vor einem verlassen Haus inne.
Nach einiger Zeit führte sie ihr Weg an einem einzelnen tiefliegenden Häuschen vorüber. Das Wasser reichte fast bis unter die Fenster. Die Fensterflügel standen offen. Die Läufer schauten hinein. Innen ein Bild der Öde und der Verheerung: umgestülpte Stühle, der große Tisch im Eise festgefroren, anderes Gerät wohl auf den Heuboden gerettet, – die Bewohner geflüchtet, der Herd leer und kalt. Wanda traten die Tränen in die Augen. »Jetzt friert mich,« sagte sie tonlos und faßte Isbrands Hand fester. Ihm schwoll das Herz, aber er sprach nicht. – Der Schnee fiel dichter. Bald schaute des Jungchens rosiges Gesicht unter einem weißen Dache hervor, das Isbrand von Zeit zu Zeit fortfegte; er zog das Tuch weiter über die kleine Stirn. Endlich stob es wie Daunen vom Himmel. Ein blendendes Gewimmel von taumelnden Riesenflocken hinderte jeden Ausblick. Der helle Fleck an der Stelle, wo sich die Sonne verbarg, schwand. Schnell ging das gelbliche Licht in eine sanfte Dämmerung über. Der eisige Schwanenflaum legte sich auf die Gesichter, hängte sich an Brauen und Wimpern und verwehrte das Sehen. Nach einiger Zeit sagte sich Isbrand, daß er die Richtung nicht mehr wisse.
Die Novelle strebt unaufhaltsam ihrem dramatischen wie emotionalen Höhepunkt und ihrer Katharsis entgegen. Bedrohlich macht sich die Dunkelheit breit; während die Kräfte Wandas schwinden, kämpft Isbrand mit seinen aufgewühlten Gefühlen. Immer aussichtsloser scheinen für die Umherirrenden ein Fortkommen oder gar die Rettung, denn sie sind »wie in einem großen lebendigen, tanzenden, wirbelnden Kerker gefangen«. In ihrer höchsten Verzweiflung kommen sie einander näher – und vermögen sich endlich füreinander zu öffnen.
Sie machte einen Versuch, sank aber wieder zurück. »Lieber Isbrand – das Jungchen – –« Sie verstummte. Da faßte er sie in die Arme, zog sie empor und hielt sie samt dem Kinde fest an seine Brust gedrückt. Nach einer Weile schien sie sich etwas zu erholen und fing von neuem an: »Rette dich, Lieber – und das Kind« – Er antwortete nicht, sondern hielt sie nur fester und küßte sie sanft. In dieser großen Not fielen endlich alle engherzigen Bedenklichkeiten vom ihm ab. Wanda brach in Schluchzen aus. »Heilige Mutter Gottes, hilf uns doch,« stammelte sie. Er dachte nicht daran, ihr gram zu sein und schickte einen Stoßzeufzer auf seine Art zum Himmel. – Tiefes Schweigen – – – Der Knabe war erwacht. »Mamma – Hanschen hause gehn!« rief er mit seinem hellen Stimmchen bittend.
Isbrand ächzte und schaute verzweifelt um sich. Da sah er mit einem Male – war ihm der schwache Schein bisher entgangen, das Dunkel tiefer oder das Gestöber weniger dicht geworden? – einen kleinen rötlichen Stern durch die Nacht schimmern. Er kehrte der Weinenden Kopf nach der Richtung. Wanda stieß einen Jubelruf aus und zog, wie neu belebt, den verwunderten Mann vorwärts. Schnell wandelte sich der Stern in ein flackerndes Licht. Das Lämpchen aber erhellte ein kleines nischenartiges Kapellchen auf einer Anhöhe, ›Buszamenka‹, und warf zitternde Strahlen auf eine buntbemalte, flittergekrönte Holzmadonna und das gleich geschmückte Christkind in ihrem Arme.
Beglückt standen die Geretteten vor dem lieblichen farbenstrahlenden Weihnachtswunder inmitten der grauen Einöde, dem freundlichen Wegzeiger zum nahen Dorfe, aus dem nun auch verwehte Klänge, Hundegebell, ein Ruf, das Brüllen einer Kuh, bis zu ihnen drangen.
Der junge Mann kauerte nieder, um die Schlittschuhe zu lösen, denn der Boden erhob sich zu bruchfreier Höhe. Wanda neigte sich und strich über Isbrands Wange. »Ich will deine Bräuche ehren, wie du’s in deinem Hause für recht hältst,« sagte sie zwischen Lachen und Weinen; »aber schilt mir auch nicht meine gute Heilige –
Die Madonna im Schnee.«