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Ein Sommertag am Meer

Von Patrycja Szczerba

Der Tag ist schön und heiß. Das Blau des Him­mels spie­gelt sich im Fluss Pias­nitz (Pias­ni­ca) wider. Man hört Meeres­rauschen, Vogel­ge­sang, das Lachen der baden­den Kin­der. Die Strand­besucher tei­len die schma­le Brü­cke mit zahl­rei­chen Rad­fah­rern, die einem belieb­ten Rad­weg ent­lang der Ost­see­küs­te fol­gen. Am Fluss­ufer legen gera­de Kajaks an. Auf­ge­reg­te Teen­ager, die eben ihre ers­te Kajak­fahrt absol­viert haben, stei­gen immer noch etwas unsi­cher aus. Es han­delt sich um deut­sche Schü­ler auf Klas­sen­fahrt, die für eine Woche bei einer Schu­le ihrer pol­ni­schen Part­ner­ge­mein­de zu Gast sind. Die Betreu­er wei­sen auf eine gro­ße bun­te Tafel und einen Stein mit der Inschrift: „Ver­sailles 28. 6. 1919“ hin. Gäbe es die bei­den Hin­wei­se nicht, so wüss­ten weder die Kin­der noch die vie­len Tou­ris­ten, die jedes Jahr nach Dem­beck (Dęb­ki) strö­men, dass die deutsch-polnische Gren­ze frü­her ein­mal durch das Gebiet der Gemein­de Kroc­kow (Kro­ko­wa) verlief.

Der am 28. Juni 1919 unter­zeich­ne­te Frie­dens­ver­trag bestimm­te in sei­nem 27. Arti­kel unter ande­rem auch die west­li­che Gren­ze Polens. Polen erhielt dem­nach den größ­ten Teil Groß­po­lens sowie Hin­ter­pom­mern ohne Dan­zig, das zu einem unab­hän­gi­gen Staat, der Frei­en Stadt Dan­zig, erklärt wur­de. Die neue deutsch-polnische Gren­ze hat­te eine Län­ge von ins­ge­samt 1912 Kilo­me­tern. Die Zuge­hö­rig­keit von Streit­ge­bie­ten soll­te durch eine Volks­ab­stim­mung fest­ge­legt wer­den. Der Frie­dens­ver­trag wur­de für Polen von ­Igna­cy Pade­rew­ski und Roman Dmow­ski unter­zeich­net und am 1. Sep­tem­ber 1919 von der Repu­blik Polen rati­fi­ziert. Am 10. Febru­ar 1920 fand dann in Put­zig (Puck) die soge­nann­te „Ver­mäh­lung Polens mit dem Meer“, statt, eine sym­bo­li­sche Bekräf­ti­gung des pol­ni­schen Anspruchs auf die Ost­see­küs­te: In die­sem fei­er­li­chen Akt wur­de ein Ring ins Meer gewor­fen, und damit wur­den qua­si die Ost­see und Polen mit­ein­an­der „ver­hei­ra­tet“.

Auch Aus­se­hen, Grö­ße und Gestal­tung der Grenz­stei­ne wur­den im Frie­dens­ver­trag von Ver­sailles fest­ge­legt. Man erkann­te sie an der Inschrift: „Ver­sailles“ mit dem Datum sowie den Buch­sta­ben „P“ von der pol­ni­schen und „D“ von der deut­schen Sei­te. Sie wur­den im Abstand von weni­gen Kilo­me­tern auf­ge­stellt, mit klei­ne­ren Mark­stei­nen dazwi­schen. Einer von ihnen – kein his­to­ri­sches Relikt mehr, son­dern eine ori­gi­nal­ge­treue Replik – befin­det sich jetzt in Dęb­ki. Zusam­men mit einer Info­ta­fel bil­det er eine his­to­risch gepräg­tes Ensem­ble, des­sen Ein­rich­tung sich auf Über­le­gun­gen zum Tou­ris­mus­mar­ke­ting zurück­füh­ren lässt: Die loka­le Geschich­te wird in den Küs­ten­ge­mein­den mit einer Rei­he von Info­ta­feln erläu­tert, die den Bade­or­ten ­einen zusätz­li­che Reiz ver­lei­hen wol­len. In all ihren Facet­ten soll die kom­pli­zier­te und zugleich hoch­in­ter­es­san­te Geschich­te der Woi­wod­schaft Pom­mern ver­mit­telt wer­den, so das Bestre­ben des Bür­ger­meis­ters. Mit dem nach­ge­ahm­ten Grenz­stein will er die schwie­ri­ge Lebens­la­ge der loka­len Bevöl­ke­rung vor dem Zwei­ten Welt­krieg ver­an­schau­li­chen. Am Anfang erweck­te die Idee aller­dings gro­ßes Auf­se­hen und stieß auf all­ge­mei­ne Miss­bil­li­gung. Dar­aus ergab sich sogar, dass die ers­te Tafel durch Van­da­lis­mus zer­stört wur­de. Trotz­dem wur­de bald eine wei­te­re Tafel auf­ge­stellt, auf der aus­führ­lich, mit rei­chem Bild­ma­te­ri­al und in drei Spra­chen über die Geschich­te die­ses Grenz­steins berich­tet wird. Inzwi­schen scheint der alte Arg­wohn ver­ges­sen zu sein. Das Schild ist unan­ge­tas­tet geblie­ben, obwohl (oder gera­de weil) der neue Stand­ort gut sicht­bar und all­ge­mein zugäng­lich ist. (Ver­mut­lich wird dadurch ein grö­ße­rer Schutz gewähr­leis­tet, in die­ser Erwar­tung könn­te dann auch der Grund dafür lie­gen, dass der Stein um etwa 200 m von sei­ner ursprüng­li­chen Stel­le ver­scho­ben wor­den ist.)

Die ursprüng­li­che Gren­ze begann an ­einem Sand­weg und lief dann wei­ter an ­einem Melio­rationsgraben über Lüb­kau­er und Pias­nit­zer Wie­sen, um schließ­lich über die Dünen zum Meer zu gelan­gen. Im All­ge­mei­nen folg­te sie dem Fluss Pia­ś­ni­ca oder, wie man­che Quel­len behaup­ten, sei­nem Zufluss, dem Alten Piasnitz-Bach (Stru­ga Pia­ś­ni­cka). Unge­fähr 15 m von dem Grenz­stein ent­fernt, stand die soge­nann­te Ver­sailler Eiche, die in den 1920er Jah­ren als der nord­west­lichs­te Baum ganz Polens gerühmt wur­de. Die Eiche wur­de zu einem belieb­ten Aus­flugs­ziel – bei­spiels­wei­se für den Schüt­zen­ver­ein in Put­zig. Über 20 m groß und mit einem Stamm­um­fang von 357 cm, eig­ne­te sich der Baum ganz aus­ge­zeich­net als eine tou­ris­ti­sche Attrak­ti­on. Die hohe Sym­bol­kraft der Eiche, die seit der Anti­ke für Stär­ke und Kraft steht, unter­mau­er­te die­sen Sta­tus noch. Lei­der über­dau­er­ten aber weder die Eiche noch der ech­te Grenz­stein den Zwei­ten Weltkrieg.

Ande­re Rest­be­stän­de der Ver­gan­gen­heit sind dem­ge­gen­über aber durch­aus noch zu ent­de­cken, sind sich His­to­ri­ker und Kul­tur­wis­sen­schaft­ler doch dar­in einig, dass – unab­hän­gig von den aktu­el­len Staats­gren­zen – durch­aus auch noch soge­nann­te Phantom­grenzen bestehen, die das Bewusst­sein wei­ter­hin bestim­men und sich u. a. in Ele­men­ten des gegen­wär­ti­gen sozio­lo­gi­schen oder sprach­li­chen Raums äußern. So kann man in der Gemein­de Kro­ko­wa eben­falls auf Spu­ren sol­cher sym­bo­lisch fort­be­stehen­den Gren­zen sto­ßen. Fährt man bei­spiels­wei­se nach Wier­schutz­in (Wierz­chu­ci­no), das nach dem Ers­ten Welt­krieg im Staats­ge­biet des Deut­schen Rei­ches blieb, dann sagen die Leu­te auch heu­te noch oft, sie füh­ren „ins Ausland“.

Heu­te brau­chen wir aber kei­nen Pass, um über die klei­ne Brü­cke in Dęb­ki zu lau­fen. Der Fluss, der ein­mal zwei Völ­ker trenn­te, wird nun oft zu einem Begeg­nungs­ort für Tou­ris­ten aus aller Her­ren Län­der, die zum Sport oder zur Erho­lung hier­her kom­men und von einer gemein­sa­men Hoff­nung getra­gen wer­den, und zwar von der Hoff­nung, dass die Mäan­der der Geschich­te so ruhig blei­ben mögen wie die Piasnitz-Strömung. Mit dem glei­chen Emp­fin­den machen wir einen kur­zen Halt beim Grenz­stein Nr. 001, beob­ach­ten die son­nen­ge­bräun­ten Urlau­ber und sind froh und glück­lich über einen wei­te­ren schö­nen und fried­vol­len Tag unse­res Lebens.


Patryc­ja Szc­zer­ba war von 2012 bis 2013 Lei­te­rin des Regio­nal­mu­se­ums in Krockow.