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Kaschubische Riten zur Sommersonnenwende

Von Grazyna Patryn

Zum Sommerbeginn brennt auch in Krockow das Sonnenwendfeuer. Hier, in der Kaschubei, haben sich über die Jahre hin ebenso wie anderswo viele einheimische Riten mit dem auch sonst geläufigen Brauchtum vermischt. Aber diese besondere Zeit hat gerade an diesem Ort immer noch etwas eigentümlich Magisches und Geheimnisvolles – wie ehedem, als die Johannisfeuer auf den Hügeln rund um die Dörfer brannten.

Mit Blumen­kränzen geschmückte Mädchen treffen sich am Eingang zur Eulen­schlucht und gehen singend am Fichte-Denkmal vorbei bis zu »Dianas Bad«, um ihre Kränze ins Wasser zu werfen. Einige Zeit später kommen die Jungen zur Stelle am Wasser und beginnen ganz erfreut, die Kränze heraus­zu­fi­schen. Unter Lachen und großer Erwartung tragen sie die Blumen­kränze und erkennen daran ihre jeweils »Auser­wählte«; denn jeder einzelne Bube wird sich heute nun bevorzugt um »sein« Mädchen kümmern. Eine alte Geschichte erinnert sie zudem an den wichtigsten Auftrag, der noch zu erfüllen ist: die magische Farnblüte zu finden. Unterwegs zum Feuer können die Mädels und Jungs ihre Findigkeit, ihren Einfalls­reichtum und ihre Kennt­nisse von Pflanzen und Kräutern unter Beweis stellen.

Wenn sie beim Feuer in der Nähe des Schlosses ankommen, gibt es zunächst eine kleine Stärkung, dann wird geprüft, ob die Aufgaben richtig gelöst worden sind – was natürlich auch jeweils belohnt werden muss. Plötzlich erhebt sich in einer Ecke ein Geschrei. Es sind Anklagen gegen den Rotmilan, den zwei kaschu­bisch gekleidete Frauen zum Feuer zerren und ihn dabei auch noch beschimpfen. Welche Sünden hat der »arme Vogel« im letzten Jahr auf sich geladen? Auf jeden Fall war das Wetter nicht gut genug, die Note aus der Mathe­ma­tik­arbeit war wieder nur »ausrei­chend«, die Kniewunde vom letzten Fußball­spiel, das zerrissene neue Kleid … an all dem ist der Milan schuld! Und so kann es nicht weiter­gehen! Er muss bestraft werden! Er soll dem reinen Sonnenwend-Feuer überant­wortet werden!

Wie war es denn damals in der Johan­nis­nacht? – fragen nun die Kinder. Bożena Hartyn-Leszczyńska und Marianna Styn, die mit den kaschu­bi­schen Tradi­tionen vertraut sind und sie an die junge Generation weiter­geben wollen, rufen nochmals die Rotmilan-­Geschichte in Erinnerung und erzählen ihren jungen Zuhöre­rinnen und Zuhörern von weiteren Bräuchen aus ihrer Region. Das alles ist für die Kinder ebenso spannend wie lustig; – danach erklären die Frauen die Eigen­schaften der Kräuter. Einige haben die Kinder schon auf dem Weg zum Feuer kennen­ge­lernt und nennen jetzt ganz stolz deren Namen. Zur Zufrie­denheit der beiden Kaschubinnen fangen sie auch an, ihre selbst ausge­dachten Kräuter-Beschwörungen vorzu­tragen. Die beiden Frauen weisen die Kinder an, die Kräuter ins reini­gende Johan­nis­feuer zu werfen, damit die Beschwö­rungen auch erfolg­reich sind. Bald kommt aller­dings schon die Abend­däm­merung, und es wird Zeit, nach Hause zu gehen. Schade, finden die Teilneh­me­rinnen und Teilnehmer der erleb­nis­reichen Feier, – aber sie wissen natürlich genau, dass sie nächstes Jahr zur Sommer­son­nen­wende wieder kommen werden. Und heute Abend können sie doch immerhin noch ­einen Blumen­kranz für die Kuh des Nachbarn flechten …


Kaschubische Legenden vom Roten Milan

Im Laufe der Jahrhun­derte sind verschiedene Geschichten über diesen Vogel entstanden, die zuweilen bis in die Zeit der Schöpfung zurückreichen:

Als der liebe Gott die Welt erschaffen hat, gab es in der Kaschubei einen sehr heißen Sommer, der noch dazu besonders lange dauerte. Alle Pfützen, Teiche, Seen, sogar das Meer waren fast vollständig ausge­trocknet. Kein Tier vermochte noch eine Tränke zu finden. Besonders schwer hatten es die Vögel, die aus großer Höhe keine Wasser­stellen mehr ausmachen konnten. Und Gott hatte Mitleid mit den Tieren und riet ihnen, einen Brunnen zu graben. Sie begannen ernsthaft und fleißig zu arbeiten – nur der Rotmilan wollte seine Klauen nicht gefährden. Er ging statt­dessen umher und beklagte sich über die Forderung, seine Füße zu beschmutzen und sich Schmerzen zuzumuten. Daraufhin wurde Gott zornig und verbot ihm, Wasser aus diesem Brunnen, aber auch aus allen anderen Gewässern zu trinken. Bis heute schämt sich deshalb der Milan wegen seiner Faulheit, und er fliegt, um Wasser zu trinken, ganz weit hinaus aufs Meer, oder traut sich sonst lediglich, aus Regen­pfützen einige wenige Tropfen aufzunehmen.

An diese Geschichte knüpfen kaschu­bische Legenden immer wieder an. Der Rotmilan leidet ständig unter Durst und sucht nach Wasser. Der Klang seiner Stimme ähnelt ein wenig demje­nigen des Bussards, die Kaschuben aber meinen, der Milan riefe nach Regen. Zudem erscheint dieser Vogel häufig als ein Wesen aus der magischen Welt – und er wird mit Vorstel­lungen des Negativen verbunden. Einmal wird er zu einem Zauberer, der mit seinen Kräften über lange Zeit den Regen zurückhält, um die ganze Welt zu erobern. Letztlich gelingt es aber, ihn zu überwäl­tigen und in die Gestalt des Greif­vogels zurück­zu­ver­wandeln. Ein anderes Mal ist es – in einer Geschichte aus der Nordka­schubei – eine Frau, die dem dürstenden Jesus einen Schluck Wasser aus ihrem Brunnen verweigert – und zur Strafe in einen stets durstigen Milan verwandelt wird. Grund­sätzlich schreibt man dem Vogel auch sonst – selbst wenn er nicht direkt als Zauberin gezeichnet wird – viele verschiedene weibliche Bosheiten zu.

In Volks­er­zäh­lungen und im Aberglauben kündigt das Erscheinen des Milans eine lange Trockenzeit im Sommer an – er wird dort aller­dings auch als Vorbote eines inten­siven, verhee­renden Regen­gusses in Anspruch genommen, der Wiesen, Obstgärten und Felder zerstört. Die schlimmste Wirkung des legen­den­um­wo­benen großen Vogels wird freilich darin gesehen, dass er Mädchen zu einem unmora­li­schen Verhalten verleitet. Da die fürsorg­lichen Eltern dies nicht zulassen dürfen, gehört diese Untat zum festen Bestand der jährlichen Anklagen – und ganz offenbar gibt es von Jahr zu Jahr auch immer wieder aufs Neue gute Gründe, diese Vorwürfe zu erheben …