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Juden in Westpreußen von der Gründungder preußischen Provinzbis zum Ende des Kaiserreichs

Ein Aufriss

Von Michael K. Schulz

Die Vergan­genheit jüdischen Lebens in Deutschland lässt sich anhand verschie­dener Narrative darstellen. Je nachdem, ob wir Juden als ein Volk, eine Nation, eine Kultur oder eine Religions- bzw. Schick­sals­ge­mein­schaft verstehen, richten wir unter­schiedlich große Aufmerk­samkeit auf spezielle Aspekte wie Tradition, Sprache, kollektive Identität oder politische Orien­tie­rungen. Ähnlich wie für andere in der Diaspora (Galut) lebende jüdische Gemein­schaften bietet es sich auch für jene in Westpreußen an, ihre Geschichte maßgeblich als die einer religiös-ethnischen Minderheit aufzu­fassen, die – abhängig vom sozial­po­li­ti­schen Kontext – mehr oder weniger große Entfal­tungs­mög­lich­keiten genoss.

Bei der Beschreibung histo­ri­scher Prozesse und Ereig­nisse ist es dringend angeraten, ein möglichst vielper­spek­ti­vi­sches Bild zu zeichnen. Um dieses Ziel im Folgenden zu erreichen, werden die wichtigsten Aspekte jüdischen Lebens in Westpreußen während der Zeitspanne von 1772 bis 1918 in drei Blöcken dargestellt. 

  • Erstens, das Verhältnis des Staates zu den Juden. Wie wurde ihr Status offiziell definiert? Was unter­schied sie von ihren nicht­jü­di­schen Nachbarn? Was wurde ihnen erlaubt und was verboten? 
  • Zweitens, das inner­jü­dische Leben, insbe­sondere das Judentum als eine Kultur und Religion, das Gemein­de­leben und jüdische Identi­täten. Welche ideellen Entwick­lungen gab es dabei? Wie organi­sierten sich die Juden und wie normierten sie Verhal­tens­regeln untereinander? 
  • Drittens, soziale Bezie­hungen zwischen jüdischer Minderheit und Mehrheits­ge­sell­schaft. Dabei stellt sich zunächst die Frage, in welchen Zusam­men­hängen die Kontakte überhaupt statt­fanden: im Berufs­leben, im öffent­lichen oder privaten Raum? Wie intensiv waren diese Bezie­hungen und was prägte sie am stärksten, etwa gegen­seitige wirtschaft­liche Inter­essen, antijü­dische Ressen­ti­ments oder Desinteresse? 

Auch wenn einigen dieser Fragen hier nur kurze Ausfüh­rungen gewidmet werden können, gewährt uns diese Multi­per­spek­ti­vität doch die Chance, ein Bild zu zeigen, in dem sowohl das inner­jü­dische Leben wie auch dessen Wechsel­wir­kungen mit der »Außenwelt« berück­sichtigt werden.

Der Staat und die Juden

Bis zu den Teilungen Polen-Litauens 1772, 1793 und 1795 war es den Juden großen­teils verboten, sich in den Städten des König­lichen Preußens nieder­zu­lassen. Aus diesem Grunde lebte zum einen ein Drittel der 1772 verzeich­neten 3.601 Juden der neuge­grün­deten Provinz Westpreußen in den Vororten Danzigs, in Gebieten außerhalb der städti­schen Juris­diktion. Zum anderen hielten sich, nachdem die früher dem Netze­di­strikt angehö­rigen Landkreise Deutsch Krone und Flatow Westpreußen zugeschlagen worden waren, die meisten der anderen westpreu­ßi­schen Juden dort auf, gefolgt von ihren Glaubens­ge­nossen in den Landkreisen Schlochau und Preußisch Stargard. Bis zum Ersten Weltkrieg blieb der südliche Regie­rungs­bezirk Marien­werder seinem Danziger Pendant in absoluten Zahlen der jüdischen Bewohner überlegen; deren Rückgang war seit den 1870er Jahren gleichwohl deutlich stärker als in den nördlichen Teilen der Provinz.

Neben ihren Auswir­kungen auf die Nieder­las­sungs­mög­lich­keiten markierten die Teilungen Polen-Litauens auch eine Zäsur im Status der Juden gegenüber dem Staat und hinsichtlich ihrer Erwerbs­mög­lich­keiten. Nach der ersten Teilung im Jahr 1772 führte Friedrich II. in der Provinz Westpreußen das seit 1750 in seiner Monarchie geltende Juden-Reglement ein. Als Ausdruck der absolu­tis­ti­schen Schutz­ju­den­po­litik bestimmte dieser Rechtsakt den Status der jüdischen Minderheit im Land und den Rahmen ihrer wirtschaft­lichen Aktivität und der Gemein­de­au­to­nomie. Den »Schutz« des Staates verdienten demzu­folge insbe­sondere wohlha­bende oder zumindest dieje­nigen Juden, die ihre Familien selbst­ständig unter­halten konnten. Alle anderen wurden aufge­fordert, das Land zu verlassen bzw. durften als »Tolerierte« bei den Schutz­juden kleine Hilfs­dienste leisten. 

Infolge der zweiten Teilung Polen-Litauens im Jahr 1793 wurde auch Danzig Teil der preußi­schen Monarchie und zur westpreu­ßi­schen Haupt­stadt. Obwohl die neuen Herrscher die bisherige restriktive Politik der Stadt formal unter­stützten, wuchs die jüdische Gemein­schaft an der Mottlau, bis sie in den ersten Jahren des 19. Jahrhun­derts knapp 800 Personen erreichte (ca. 2 % aller Danziger). Ausschlag­gebend für die Weiter­ent­wicklung des jüdischen Lebens in Danzig waren die Stadt­be­la­ge­rungen durch franzö­sische bzw. russische Truppen 1807 und 1813. Da während­dessen ein Großteil der vorstäd­ti­schen Bebauung zerstört wurde, tolerierten die lokalen Behörden den Umzug der Juden aus dem Danziger Großraum in die Stadt. 

Während sich Danzig als eine unter franzö­si­scher Aufsicht gegründete Freie Stadt in einem recht­lichen Konflikt zwischen den jahrzehn­te­langen republikanisch-autonomischen Freiheiten und modernen Verfas­sungs­lö­sungen nach dem Muster des revolu­tio­nären Frank­reichs befand, führte Friedrich Wilhelm III. im Rahmen der – im Nachhinein als Stein-Hardenbergsche Reformen bezeich­neten – Gesetz­gebung am 19. November 1808 die Städte­ordnung und am 11. März 1812 das sogenannte Emanzi­pa­ti­ons­edikt ein. Das erste Gesetz ermög­lichte den Juden Zugang zu Stadt­bür­ger­rechten, womit das aktive und passive Wahlrecht bei der kommu­nalen Selbst­ver­waltung verbunden war. Das zweite Gesetz brachte zwar keine volle Gleich­be­rech­tigung (Emanzi­pation), garan­tierte den Juden aber doch eine freie Wahl des Wohnorts und die fast unein­ge­schränkte Berufs­freiheit. Als identi­täts­stif­tender Rechtsakt forderte das Emanzi­pa­ti­ons­edikt jüdische Hausväter auf, feste Famili­en­namen anzunehmen und für Verträge und Handels­bücher keine jüdischen Sprachen (Hebräisch oder Jiddisch) zu verwenden. Im Gegenzug wurden sie als »Einländer« und »Staats­bürger« anerkannt.

Rückbli­ckend bildete das Emanzi­pa­ti­ons­edikt den Ausgangs­punkt des langen Wegs, an dessen Ende im Jahr 1871 den Juden die Gleich­be­rech­tigung mit den anderen deutschen Bürgern garan­tiert wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte es über ein halbes Jahrhundert lang immer wieder Rückschritte im Gleich­stel­lungs­prozess sowie zahlreiche Unklar­heiten bezüglich der Auslegung der existie­renden Vorschriften gegeben. In Danzig wurde etwa das Emanzi­pa­ti­ons­edikt im Jahr 1814 einge­führt – dies bestä­tigte Friedrich Wilhelm III. aber erst 18 Jahre später endgültig. Des Weiteren stellte die Regierung von Marien­werder in den 1840er Jahren fest, dass das Reglement von 1750 nach wie vor eine gesetz­liche Grundlage darstelle, auch wenn viele von ihren Bestim­mungen seit langem nicht mehr beachtet worden seien.

Die Rechtslage in Preußen war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhun­derts besonders kompli­ziert. Bezogen auf den Status der jüdischen Bevöl­kerung existierten gleich­zeitig nahezu 20 unter­schied­liche Regelungen. Allein in Westpreußen galten Sonder­be­stim­mungen für Danzig und für einen Teil des Marien­wer­der­schen Regie­rungs­be­zirks (und zwar für die Kreise Kulm und Michelau sowie die Stadt Thorn), der in den Jahren von 1807 bis 1815 dem Herzogtum Warschau angehört hatte. Eine angesichts dieser Lage oft kompli­zierte Entschei­dungs­findung, z. B. bei der Frage, ob sich ein Jude in Westpreußen nieder­lassen dürfe, verein­fachten die Beamten gelegentlich, indem sie sich an der Herkunft des Antrag­stellers orien­tierten. Es lässt sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhun­derts ein Muster der amtlichen Praxis erkennen, wonach beispiels­weise einem aus Westpreußen stammenden Juden unabhängig von Geset­zes­än­de­rungen eine Rückkehr in die Provinz seiner Eltern meistens erlaubt wurde. Hingegen wurde etwa einem aus dem Zaren­reich oder aus der preußi­schen Provinz Posen stammenden Juden ein solcher Umzug eher verweigert. Durch dieses Vorgehen wurde der jüdische Westpreuße durch die regio­nalen Behörden in gewisser Weise als »Hiesiger« anerkannt – und, anders als dies jahrhun­der­telang üblich gewesen war, nicht wie ein Fremder behandelt.

Das innerjüdische Leben

Im Mittel­punkt des organi­sierten inner­jü­di­schen Lebens stand die jüdische Gemeinde (Kehila, Mehrzahl: Kehilot). Sie schuf Bedin­gungen, die es ihren Mitgliedern ermög­lichten, nach dem Religi­ons­gesetz des Judentums zu leben. Sie war für Kultus und Religi­ons­un­ter­richt, Wohltä­tigkeit und Verwaltung der Gemein­de­ein­rich­tungen zuständig. Ihr Vorstand bestand aus einigen in der lokalen jüdischen Gemein­schaft wertge­schätzten Männern, die für das Erfüllen der Gemein­de­auf­gaben eine von der Größe und den finan­zi­ellen Möglich­keiten einer Kehila abhängige Anzahl von Beamten beschäf­tigten. Der Rabbiner fungierte als Experte in Religi­ons­an­ge­le­gen­heiten und betreute die lokale Religi­ons­schule. Der Kantor (Chazan) leitete Gottes­dienste und insbe­sondere in kleineren Kehilot erfüllte er gleich­zeitig die Aufgabe des Schächters (Schochet), der die zum Verzehr zugelas­senen Tiere nach den jüdischen Speise­regeln (Kaschrut) schlachtete. Der Schul­be­diente (Schammes) betreute die Synagoge, rief Gemein­de­mit­glieder zum Gottes­dienst zusammen und erfüllte abhängig von konkreten Verein­ba­rungen auch kleinere Aufgaben, etwa als Bote zwischen dem Vorstand und den Mitgliedern. Neben diesen Kernbe­amten beschäf­tigten einige Kehilot unter anderem auch einen Arzt, eine Kranken­schwester, einen Lehrer (Melamed) oder einen Bestatter.

Eine grund­le­gende Bedeutung für das deutsche Judentum im 19. Jahrhundert hatte die jüdische Aufklärung (Haskala) und das sich langfristig daraus entwi­ckelnde Reform­ju­dentum. Im Kern dieser geistigen Bewegung stand die Histo­ri­sierung der jüdischen Religion, die Einführung säkularer Fächer ins Schul­cur­ri­culum sowie eine grund­le­gende Wertschätzung der Vernunft in der Philo­sophie und im Denken generell. Im Verlauf der Zeit kamen aus dieser Bewegung immer öfter Stimmen, die eine äußer­liche Anpassung an die Mehrheits­ge­sell­schaft, etwa durch die Ablehnung des Jiddi­schen als Alltags­sprache, verlangten. In Westpreußen entstanden zwar keine bekannten Haskala-Zentren – wie jene in Berlin, Königsberg oder Breslau –, trotzdem waren die Auswir­kungen der Aufklärung auf die Religi­ons­aus­übung und Lebens­weise jüdischer Westpreußen durchaus bemerkbar. Allmählich wurden etwa deutsch­spra­chige Predigten in die synago­galen Gottes­dienste einge­führt, wobei solche Ansprachen bis in die 1840er Jahre hinein nur in Elbing und Preußisch Stargard regel­mäßig statt­fanden. Zu dieser Zeit konsta­tierte ein westpreu­ßi­scher Beamter, es ließen sich in der Provinz zwei religiöse Strömungen – die tradi­ti­ons­ge­bundene und die reform­ori­en­tierte – erkennen, aber keine von ihnen dominiere zahlen­mäßig die andere.

Eine weitge­hende äußer­liche Anpassung des jüdischen Bürgertums an die mehrheit­liche Kultur fand bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhun­derts statt. In Danzig traf man zu dieser Zeit jüdische Kaufleute, die sich im äußeren Erschei­nungsbild von ihren christ­lichen Zunft­kol­legen nicht unter­schieden. Die deutsche Sprache bestimmte ihren Alltag, und wenn die Aussprache noch manchmal ihre jüdische Herkunft erkennen ließ, war auch diese Beson­derheit in der heran­wach­senden Generation bereits verschwunden. Gleich­zeitig war es in den Ortschaften, in denen regel­mäßig polnische Unter­nehmer verkehrten, nicht unüblich, tradi­tionell gekleidete Juden, etwa im Kaftan, anzutreffen, die als Jiddisch-Muttersprachler Deutsch lediglich als Fremd­sprache beherrschten. Für einen von Vorur­teilen gelei­teten Beobachter muteten die in der Danziger Nieder­stadt in den 1830er Jahren zu beobach­tenden polni­schen Juden sogar »asiatisch« an.

Aufgrund von Handels­be­zie­hungen mit dem König­reich Polen blieben die Ortho­doxen bis zum Ende des 19. Jahrhun­derts eine bedeu­tende Minderheit innerhalb der Danziger Juden­schaft. Bis 1883 existierten hier neben­ein­ander sogar fünf Kehilot, eine Beson­derheit, die zu dieser Zeit nirgendwo sonst im deutsch­spra­chigen Raum zu finden war. Um die Verei­nigung der Gemeinden voran­zu­treiben, verpflichtete sich die reform­ori­en­tierte Mehrheit, auch in den kommenden Jahrzehnten ein ortho­doxes Gebetshaus zu unter­halten, das insbe­sondere durch ältere Danziger besucht wurde.

Auch wenn die Verbreitung der Ortho­doxie in Westpreußen noch zu erfor­schen wäre, lässt sich annehmen, dass sie vor allem im südlichen Teil der Provinz länger dominant blieb. Dies beruhte auf den Bezie­hungen der dortigen Juden­heiten mit ihren Glaubens­ge­nossen in der Provinz Posen, die für ihre tradi­ti­ons­ge­bundene Ausrichtung bekannt waren.

Insgesamt lassen sich im ausge­henden 19. Jahrhundert bei den Juden­schaften Westpreußens eindeutige Säkula­ri­sie­rungs­ten­denzen beobachten. Aus Danzig wurde über Familien berichtet, die die Regeln der Kaschrut entweder ganz aufgaben oder sie nur zuhause prakti­zierten. Der Danziger Rabbiner Max Freudenthal soll im Jahr 1906 sogar das Verbot des Schwei­ne­fleisch­ver­zehrs relati­viert haben. Auch der Besuch von Gemein­de­ein­rich­tungen, die als Merkmale der Frömmigkeit galten, wurde seltener. Über das zur rituellen Reinigung dienende Bad (Mikwe) verfügten im Jahr 1906 beispiels­weise rund 60 % (23 von 39) der Kehilot Westpreußens, ein Anteil, der deutlich geringer war als in der Provinz Posen (mit 80 %), zugleich aller­dings auch höher als der gesamt­preu­ßische Anteil von 45 %.

Soziale Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden

Da die Nieder­lassung von Juden in Westpreußen vornehmlich aus wirtschaft­lichen Gründen erfolgte, war das Berufs­leben ein Bereich, in dem es an erster Stelle zu regel­mä­ßigen Kontakten zwischen Juden und Nicht­juden kam. Der Handel war das ganze 19. Jahrhundert hindurch eine vorherr­schende Tätigkeit der Juden. Des Weiteren verdiente etwa ein Fünftel bis ein Drittel der jüdischen Erwerbs­tä­tigen seinen Unterhalt in Handwerk und Industrie. Insbe­sondere in den südlichen Regionen der Provinz beschäf­tigte auch die Schank­wirt­schaft einige wenige Prozent von jüdischen Erwach­senen. Mit der Ausformung des modernen Bürgertums nahmen zudem zahlreiche jüdische Kaufleute, Bankiers, Fabrik­be­sitzer und Geschäfts­führer als Wirtschafts­bürger am gesell­schaft­lichen Leben teil. Darüber hinaus widmeten sich jüdische Aufsteiger im Bildungs­bür­gertum vornehmlich den freien Berufen und gehörten beispiels­weise als Ärzte und Rechts­an­wälte zu den intel­lek­tu­ellen und finan­zi­ellen Eliten ihrer lokalen Gemeinschaften.

Grund­sätzlich waren die jüdischen Westpreußen meistens als Selbst­ständige tätig. Ein typischer Händler war stets bemüht, seinen Laden so lange wie möglich zu behalten, ehe er sich als Angestellter oder Arbeiter hätte engagieren lassen. Diesem Festhalten am eigenen Geschäft lag eine Überzeugung zugrunde, nach der ein eigenes Unter­nehmen materielle Sicherung in Krisen­jahren garan­tiere. Darüber hinaus ermög­lichte es die Einhaltung jüdischer Feiertage und schützte vor Antise­mi­tismus im Berufs­leben, dem jüdische Angestellte und Arbeiter unter Umständen hätten begegnen müssen.

Jüdische Viertel oder Shtetl, wie diese aus einigen mittel­al­ter­lichen Städten bzw. osteu­ro­päi­schen Regionen bekannt sind, gab es im Westpreußen des 19. Jahrhun­derts nicht, auch wenn es gewisse Nieder­las­sungs­muster gab. Die Kaufleute und Händler unter den jüdischen Westpreußen waren häufig daran inter­es­siert, im Stadt­zentrum, in der Nähe des Marktes zu wohnen. Darüber hinaus lebten Juden vermehrt in unmit­tel­barer Nähe der Synagoge oder anderer Gemeindeeinrichtungen.

Soweit bekannt, waren die Bezie­hungen zwischen jüdischen und christ­lichen Stadt­be­wohnern durch typische nachbar­schaft­liche Themen, Freund­schaften und Feind­schaften – und gewiss auch durch den Antise­mi­tismus geprägt. Insbe­sondere von letzterem Phänomen zeugen zahlreiche histo­rische Quellen. Neben indivi­du­ellen antise­mi­ti­schen Vorfällen im öffent­lichen Raum gab es im Westpreußen des 19. Jahrhun­derts einige Ausbrüche der Massen­gewalt gegen Juden. In Danzig kamen die ableh­nenden Haltungen gegenüber dem Emanzi­pa­ti­ons­prozess in Ausschrei­tungen zum Ausdruck, die am wichtigsten jüdischen Feiertag, dem Jom Kippur, im September 1819 statt­fanden. Dies lässt sich im Nachhinein in eine Welle antijü­di­scher Krawalle, bekannt als »Hep-Hep-Unruhen«, einordnen, die von Sommer bis Herbst 1819 in einer Reihe deutscher Städte, darunter in Würzburg, Heidelberg, Frankfurt am Main und Hamburg, hervor­ge­rufen worden sind. Zwei Jahre später kulmi­nierten in Danzig die auch schon für frühere Jahre nachge­wie­senen Feind­se­lig­keiten zwischen den Ausstellern und der lokalen Bevöl­kerung beim jährlich veran­stal­teten Dominik-Markt in dreitä­gigen antijü­di­schen Übergriffen. Während der beiden Ausbrüche wurden mehrere Juden verletzt, etliche ihrer Wohnungen beschädigt, einige Geschäfte geplündert und die von den jüdischen Händlern für den Jahrmarkt aufge­stellten Kramläden komplett zerstört. Die mangelnde Bericht­erstattung über ähnliche Vorfälle in den darauf­fol­genden Jahren lässt vermuten, dass sich die Situation während des Dominik-Jahrmarkts wieder beruhigte.

Weitere Ausschrei­tungen dieses Ausmaßes ereig­neten sich in Westpreußen erst 1881, als sich die antijü­dische Massen­gewalt, ausgehend von der Provinz Pommern, gen Osten und Süden verbreitete. Davon erfasst wurden im Juli und August unter anderem die Städte Hammer­stein (Kreis Schlochau), Jastrow (Kreis Deutsch Krone) und Konitz. Begleitet wurden die Ausschrei­tungen zwar durch eine neuartige, sich aus der Rassen­lehre speisende antise­mi­tische Propa­ganda, das Ziel der Angriffe war dennoch vor allem der jüdische Besitz, weniger die Menschen selbst.

In den darauf­fol­genden Jahrzehnten stieß insbe­sondere die in ihren Ursprüngen mittel­al­ter­liche Ritual­mord­le­gende auf breite Resonanz in Deutschland, darunter nicht zuletzt in Westpreußen. Beschul­di­gungen, dass Juden christ­liche Kinder für rituelle Zwecke misshan­delten, wurden 1894 in Berent, 1900 in Konitz, 1902 in Schlochau und 1903 in Flatow vorge­bracht. Insbe­sondere der Konitzer Fall löste ein reichs­weites Echo aus. Ein brutaler Mord an dem Gymna­si­asten Ernst Winter im März 1900, von dessen zerstü­ckelter Leiche später einzelne Körper­teile aufge­funden wurden, beflü­gelte die Fantasie der lokalen Bevöl­kerung und der antise­mi­ti­schen Publi­zisten. Als Resultat griff der empörte Mob sowohl in Konitz als auch in den benach­barten Landkreisen mehrmals die jüdische Bevöl­kerung, deren Geschäfte und Gebets­häuser an. Die Konitzer Synagoge blieb nur dank militä­ri­schem Schutz von der Zerstörung verschont.

Ungeachtet solcher feind­lichen Vorkomm­nisse engagierten sich die westpreu­ßi­schen Juden das ganze 19.  Jahrhundert hindurch im politi­schen Leben ihrer lokalen Gemein­schaften. Schon direkt nach der Einführung der Städte­ordnung 1808 wurden die ersten jüdischen Westpreußen als Stadt­ver­ordnete und Magis­trats­mit­glieder gewählt. Die Vertretung der Juden in den städti­schen Selbst­ver­wal­tungen war insbe­sondere in den Ortschaften mit einer großen jüdischen Minderheit stark, z. B. in Flatow, Krojanke oder Zempelburg. Dort stellten sie mit bis zu einem Drittel aller städti­schen Abgeord­neten eine bedeu­tende politische Macht dar. In den Städten mit gerin­gerem Anteil von Juden an der Gesamt­be­völ­kerung fungierten sie eher als verein­zelte, oftmals promi­nente Individuen, die in der lokalen Selbst­ver­waltung nicht ausschließlich die Inter­essen der jüdischen Bewohner, sondern auch die der anderen Bürger vertraten. Während des Deutschen Kaiser­reichs beklei­deten etwa rund 20 jüdische Danziger die Ämter von Stadt­ver­ord­neten und Magistratsmitgliedern.

Außer der politi­schen Tätigkeit engagierten sich die jüdischen Eliten Westpreußens auch sozial, kulturell und wohltätig. Zu den größten gemein­nüt­zigen Einrich­tungen in der Provinz gehörten etwa das Aschen­heimsche Altersheim in Danzig (gegründet 1894), das Israe­li­tische Altersheim in Thorn (1902) oder das Casper Lachmannsche Provinzial-Waisenhaus in Graudenz (1903). In Danzig erfreute sich insbe­sondere Lesser Giełd­ziński als langjäh­riges Vorstand­mit­glied der jüdischen Gemeinde, Wohltäter und Kultur­mäzen eines beson­deren Rufs. In der lokalen Gemein­schaft war er vor allem durch seine imposante Sammlung der Altdan­ziger Kunst und Artefakte sowie als Gründer eines der ersten Danziger Museen bekannt. In den jüdischen Kreisen gewann seine »Abwehr­aktion« im Jahr 1890 einen nahezu legen­dären Charakter: Als selbst­be­wusster Preuße scheute Giełd­ziński sich nicht, einen Oberleutnant öffentlich zu ohrfeigen, nachdem er erfahren hatte, dass der Letztere seinen im Militär dienenden Sohn diskri­mi­nierend behandelt hatte. Dies war zwar eine radikale Handlungs­weise, aber dennoch nur eine von vielen anderen Ausdrücken der Identität jüdischer Bürger als lokaler Patrioten, Preußen und Deutscher.

* * *

Das 19. Jahrhundert war für die westpreu­ßi­schen Juden eine Zeit, in der sich auch ihre Lebens­weisen vor dem Horizont der Moderne wandelten. Ihren christ­lichen Nachbarn rechtlich gleich­ge­stellt, ergriffen sie Möglich­keiten, in lokal­po­li­ti­schen, wirtschaft­lichen, sozialen und kultu­rellen Sphären nach außen zu wirken und ihre lokalen Gemein­schaften zu beein­flussen. Die zuvor alle Bereiche des Lebens bestim­mende Religion begriffen nun die meisten von ihnen als eine Konfession, als eine Eigen­schaft, die vor allem im privaten Bereich zum Ausdruck kommen sollte. Damit verän­derten sich zugleich die Funktionen jüdischer Gemeinden: von »Schützern« jüdischer Frömmigkeit im Alltag zu karita­tiven Organi­sa­tionen und Bewahrern der Tradition.

Von nicht­jü­di­scher Seite wurde diesem Wandel einer­seits mit Wohlwollen begegnet, anderer­seits sorgten die neuen, auf Rassen­lehren bezogenen Formen des Antise­mi­tismus unter den jüdischen Westpreußen für ein – mal öfter, mal seltener vorkom­mendes – Gefühl der Nicht­zu­ge­hö­rigkeit zur Mehrheits­ge­sell­schaft. Dies waren die untrüg­lichen Vorboten einer Entwicklung, innerhalb derer der Erste Weltkrieg und die darauf­fol­genden Jahre die soziale Konstruktion der jüdisch-christlichen Verhält­nisse zurück in eine überwunden geglaubte Krise führte.


Weiterführende Literatur

  • Max Aschkewitz: Zur Geschichte der Juden in Westpreussen, Marburg 1967.
  • Miłosława Borzyszkowska-Szewczyk / Christian Pletzing (Hrsg.): Jüdische Spuren in der Kaschubei. Ein Reise­handbuch, München 2010.
  • Michael Brocke / Margret Heitmann / Harald Lordick (Hrsg.): Zur Geschichte und Kultur der Juden in Ost- und Westpreußen, Hildesheim / Zürich / New York 2000.
  • Gerhard Salinger: Zur Erinnerung und zum Gedenken. Die einstigen jüdischen Gemeinden Westpreußens, 3 Bde., New York 2009.
  • Michael K. Schulz: Sozial­ge­schichte der Danziger Juden im 19. Jahrhundert, Berlin 2020.
  • Michał Szulc: Emanzi­pation in Stadt und Staat. Die Juden­po­litik in Danzig 1807–1847, Göttingen 2016.