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Interview: Zweierlei Integration und das Recht auf Rückkehr

Leicht geht derzeit vielen Politikern der Vergleich zwischen ostdeutschen Heimatvertriebenen und heutigen Flüchtlingen über die Lippen. Doch wie tragfähig ist dieser Vergleich? Und welche Konsequenzen ergeben sich, wenn man ihn zu Ende denkt? Hierüber sprach Prof. Dr. Manfred Kittel im Interview mit Tilman Asmus Fischer.

Herr Pro­fes­sor Kit­tel, wel­che Unter­schie­de sehen Sie zwi­schen den heu­ti­gen Her­aus­for­de­run­gen der Flücht­lings­kri­se und der Inte­gra­ti­on der deut­schen Hei­mat­ver­trie­be­nen nach 1945?

Die Unter­schie­de lie­gen in aller­ers­ter Linie dar­in, dass damals nach 1945 Deut­sche nach Deutsch­land gekom­men sind und wir es bei den Migra­ti­ons­strö­men von heu­te mit Men­schen aus ganz ande­ren kul­tu­rel­len und reli­giö­sen Zusam­men­hän­gen zu tun haben – sogar aus ande­ren Kon­ti­nen­ten. Die­ser Unter­schied ist vor allem im Hin­blick auf die Inte­gra­ti­ons­po­ten­zia­le, Chan­cen und Risi­ken, wichtig.

Wel­che Bedeu­tung haben für die Inte­gra­ti­on juris­ti­sche Fra­gen des Blei­be­rechts oder der deut­schen Staatsbürgerschaft?

Der kul­tu­rel­le Aspekt stellt tat­säch­lich nur einen Gesichts­punkt dar. Der staats­recht­li­che ist aber eben­falls wich­tig: Die gute Hälf­te der Flücht­lin­ge und Ver­trie­be­nen, die am Ende des Zwei­ten Welt­kriegs und danach in den Rest Deutsch­lands kamen, waren von vorn­her­ein bereits deut­sche Staats­bür­ger – genau­so wie die­je­ni­gen, die sie auf­neh­men muss­ten. Also waren Fra­gen wie Staats­bür­ger­schaft oder Blei­be­recht in allen Besat­zungs­zo­nen erst­mal nicht das Pro­blem. Nur ein klei­ne­rer Teil der Ver­trie­be­nen, etwa aus Ungarn oder Jugo­sla­wi­en, besaß die deut­sche Staats­bür­ger­schaft zunächst nicht. Und trotz­dem war die Inte­gra­ti­on der deut­schen Flücht­lin­ge und Ver­trie­be­nen nach 1945 vor allem im Wes­ten Deutsch­lands am Ende zwar ein Erfolg, jedoch auch ein unglaub­li­cher Kraft­akt. Das wird in poli­ti­schen Sonn­tags­re­den heu­te etwas sehr pas­tell­far­ben gemalt. Die kon­flikt­haf­ten Dimen­sio­nen die­ses Inte­gra­ti­ons­pro­zes­ses, etwa bei der Zwangs­ein­quar­tie­rung oder im All­tag, sind aber nicht zu übersehen.

Was bedeu­tet das für den Ver­gleich mit der heu­ti­gen Situation?

Wenn schon die Inte­gra­ti­on von 12 Mil­lio­nen Men­schen aus einem ähn­li­chen kul­tu­rel­len und reli­giö­sen Kon­text so schwie­rig und mit rie­si­gen Kon­flik­ten in den ers­ten Jah­ren ver­bun­den war, kann man sich aus­ma­len, was es bedeu­ten wür­de, in die­ser Dimen­si­on heu­ti­ge Flücht­lin­ge und Ver­trie­be­ne in unse­rem Land inte­grie­ren zu müssen.

Müss­ten wir dem­nach stär­ker als bis­her danach fra­gen, was wir aus den damals gemach­ten Feh­lern ler­nen können?

Genau das müss­te man. Dann wür­de man zum Bei­spiel beim Fak­tor Reli­gi­on etwas vor­sich­ti­ger wer­den: Nach 1945 hat bereits der Zusam­men­prall von Katho­li­ken und Pro­tes­tan­ten in etli­chen bis dahin eher mono­kon­fes­sio­nel­len deut­schen Auf­nah­me­ge­bie­ten zu enor­men Rei­bun­gen geführt. Auch in der Nach­kriegs­zeit war das kon­fes­sio­nel­le Den­ken als poli­ti­scher Kon­flikt­fak­tor eben noch sehr spür­bar, und es gab unglaub­li­che Pro­ble­me wegen kon­fes­sio­nel­ler Befind­lich­kei­ten zwi­schen zuzie­hen­den Anderskon­fes­sio­nel­len und tra­di­tio­nel­len Mehr­heits­mi­lieus. Wenn man bedenkt, dass es sich heu­te meist nicht nur um eine ande­re Kon­fes­si­on han­delt, son­dern um eine – wenn auch abra­ha­mi­tisch – in vie­lem sehr ande­re Reli­gi­on, kann man sich an zehn Fin­gern abzäh­len, was dies bedeu­tet. Wir sehen ja bereits in den hie­si­gen Flücht­lings­la­gern, dass es zwi­schen Syrern der mus­li­mi­schen Mehr­heit und der christ­li­chen Min­der­heit Pro­ble­me gibt, die außer­or­dent­lich beun­ru­hi­gend sind.

Wo wür­den Sie trotz aller Unter­schie­de auch Gemein­sam­kei­ten zwi­schen den deut­schen Ost­ver­trie­be­nen und heu­ti­gen Flücht­lin­gen sehen? Bun­des­kanz­le­rin Ange­la Mer­kel sprach in ihrer Rede beim BdV-Jahresempfang am 12. April in Ber­lin von einer ver­bin­den­den „Erfah­rung, alles zurück­zu­las­sen und einen Weg ins Unge­wis­se zu gehen“.

An dem Punkt gibt es tat­säch­lich ganz erheb­li­che Gemein­sam­kei­ten: Aber gera­de weil bereits bei Men­schen, die aus ähn­li­chen Kon­tex­ten kamen, die Inte­gra­ti­on so schwie­rig war, sieht man auch, dass die Erfah­run­gen von Fremd­heit nicht nur damit zu tun haben, dass man in eine kul­tu­rell völ­lig ande­re Umwelt kommt. Viel­mehr reicht es unter Umstän­den schon aus, wenn es ande­re Dia­lek­te, Sit­ten und Gebräu­che sind, die als fremd emp­fun­den wer­den. Ich habe oft bei Vor­trä­gen im lands­mann­schaft­li­chen Bereich erlebt, dass sich vie­le auf­grund der gegen­wär­ti­gen Kon­flik­te dar­an erin­nert füh­len, wie es ihnen selbst 1945 und in den Jah­ren danach ergan­gen ist: Wie schwie­rig es war, in der Frem­de anzukommen.

Was lehrt uns die Geschich­te jen­seits der indi­vi­du­el­len Lage der Flücht­lin­ge über die Auf­nah­me­be­reit­schaft der ansäs­si­gen Bevöl­ke­rung – damals wie heute?

Bei aller Bereit­schaft – sowohl in den West­zo­nen wie in der SBZ –, zumin­dest ein Stück weit zu tei­len und – viel­leicht damals auch in Anbe­tracht der gemein­sa­men Ver­ant­wor­tung für den Natio­nal­so­zia­lis­mus und sei­ne Fol­gen – einen gewis­sen mate­ri­el­len Las­ten­aus­gleich vor­zu­neh­men, waren die­ser Bereit­schaft gesell­schaft­lich immer auch Gren­zen gesetzt. Es gab in bei­den Fäl­len etwa den ein­hei­mi­schen Hand­werks­meis­ter, der die Ansied­lung ver­trie­be­ner Kon­kur­ren­ten am liebs­ten ver­hin­dern woll­te. Nun bin ich His­to­ri­ker und kein Anthro­po­lo­ge, aber die Ähn­lich­kei­ten in der Reak­ti­on auf Flücht­lin­ge und Ver­trie­be­ne, ob im demo­kra­ti­schen oder im dik­ta­to­ria­len Teil Deutsch­lands, schei­nen doch sehr dafür zu spre­chen, dass wir es hier mit anthro­po­lo­gi­schen Grund­kon­stan­ten zu tun haben, die auch von der heu­ti­gen Poli­tik nicht per Knopf­druck in einem gleich­sam humanitär-voluntaristischen Akt außer Kraft gesetzt wer­den können.

Wis­sen Sie, ich bin im evangelisch-lutherischen Fran­ken noch ganz selbst­ver­ständ­lich christ­lich sozia­li­siert wor­den und im Zuge des­sen eigent­lich immer davon aus­ge­gan­gen, dass der Mensch seit Adam und Eva ein Män­gel­we­sen ist und wir auf Erden wohl nie­mals das Para­dies errei­chen wer­den. Man muss ein­fach sehen, dass eine nur aus guten Men­schen bestehen­de Auf­nah­me­ge­sell­schaft nicht ein­mal mit Rous­se­aus Erzie­hungs­dik­ta­tur gene­rier­bar wäre. Des­halb muss man „höl­lisch“ auf­pas­sen, dass kei­ne Umstän­de ein­tre­ten, unter denen die schlech­te­ren das Über­ge­wicht bekom­men. Weil es lei­der Got­tes vie­le, nicht zuletzt auch ökonomisch-soziale, Grün­de dafür gibt, dass die „schlech­te­ren“ im 21. Jahr­hun­dert vor­läu­fig erst ein­mal noch nicht ganz aus­ster­ben wer­den, son­dern das bedroht gefühl­te Eige­ne gegen das Frem­de ver­tei­di­gen, gibt es fak­tisch selbst­ver­ständ­lich immer Gren­zen hin­sicht­lich der Kapa­zi­tät von Gesell­schaf­ten für Flüchtlingsaufnahme.

Für die deut­schen Ver­trie­be­nen nach 1945 war lan­ge Zeit auch die Rück­kehr in die ange­stamm­te Hei­mat ein zen­tra­les Anlie­gen. Wel­che Stel­lung nimmt Ihrer Ein­schät­zung nach das The­ma „Rück­kehr“ im aktu­el­len Dis­kurs ein?

Im ver­glei­chen­den Blick hal­te ich es schon für über­ra­schend, wie wenig ins­ge­samt über die­se Rück­kehr­per­spek­ti­ve gespro­chen wird. Gera­de durch die poli­ti­schen Ent­wick­lun­gen in den letz­ten Wochen haben wir doch gese­hen, dass man viel­leicht nicht alle Hoff­nung fah­ren las­sen muss, was die Dau­er des Krie­ges in Syri­en, die schwie­ri­ge Lage im Irak und die IS-Herrschaft anbe­langt. Inso­fern ist es umso merk­wür­di­ger, dass von einer dau­er­haf­ten Blei­be­per­spek­ti­ve für fast alle aus­ge­gan­gen wird, die nach der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on so über­haupt nicht gege­ben ist. Bis­wei­len wird auf gel­ten­des Auf­ent­halts­recht und des­sen Zusam­men­wir­ken mit Flüchtlings- und Staats­an­ge­hö­rig­keits­recht ver­wie­sen. Aber müs­sen die ent­spre­chen­den Rege­lun­gen nicht schleu­nigst geän­dert wer­den, wenn sie sich in Zei­ten von Mas­sen­zu­wan­de­rung als nicht mehr zeit­ge­mäß erweisen?

Wel­cher Weg soll­te statt­des­sen ratio­na­ler Wei­se ein­ge­schla­gen werden?

Nach den gel­ten­den Regu­la­ri­en der UN-­Flücht­lingshilfsorganisation ist das ganz klar: Die Schutz­ver­pflich­tung des auf­neh­men­den Staa­tes endet, wenn die Flucht­ur­sa­chen nicht mehr bestehen. Dann soll, kann und muss es auch dar­um gehen, die erheb­lich zer­stör­ten Her­kunfts­län­der wie­der auf­zu­bau­en. Und es ist ja an sich nor­mal und natür­lich, dass man noch vie­le Jah­re nach einem erzwun­ge­nen Hei­mat­ver­lust, der sich in Form einer eth­ni­schen oder poli­ti­schen Säu­be­rung voll­zo­gen hat, den stark aus­ge­präg­ten Wunsch hat, in die Hei­mat zurück­zu­keh­ren: Noch zehn Jah­re nach dem Zwei­ten Welt­krieg grün­de­ten die deut­schen Lands­mann­schaf­ten Arbeits­ge­mein­schaf­ten für Rück­kehr­pla­nung und gaben die Ver­trie­be­nen in Umfra­gen zu erken­nen, dass sie, wenn die poli­ti­schen Ver­hält­nis­se dies her­ge­ge­ben hät­ten, selbst­ver­ständ­lich ger­ne wie­der zurück­ge­hen wür­den. Ich kann gar nicht ver­ste­hen, war­um das heu­te anders sein soll­te. Es sei denn, es stimm­te, wor­auf etwa der öster­rei­chi­sche Außen­mi­nis­ter mehr­fach hin­ge­wie­sen hat, dass bei den Migra­ti­ons­mo­ti­ven doch auch öko­no­mi­sche eine wesent­li­che Rol­le spiel­ten. Für Wirt­schafts­mi­gra­ti­on aber ist die Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on nicht gemacht.


Prof. Dr. Man­fred Kit­tel war von 2009 bis 2014 Direk­tor der Stif­tung Flucht, Ver­trei­bung, Ver­söh­nung, heu­te forscht er in Ber­lin zu Fra­gen der Flüchtlings- und Vertriebenenintegration.