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In den Blick genommen

Hannes Köhler: Ein mögliches Leben. Berlin: Ullstein, 2019

Sie füh­le sich als Kaschubin, bekennt die Autorin Mar­ty­na Bun­da nach­drück­lich, und sie wis­se sich als sol­che in ihren Ver­hal­tens­wei­sen, Über­zeu­gun­gen und Erfah­run­gen geprägt. 1975 in Dan­zig gebo­ren, wächst sie in Kart­haus auf, ver­bringt dort ihre Schul­zeit, bis sie zum Stu­di­um der Poli­tik­wis­sen­schaft nach War­schau auf­bricht. Inzwi­schen arbei­tet die mehr­fach aus­ge­zeich­ne­te Jour­na­lis­tin bei einer einer gro­ßen pol­ni­schen Tages­zei­tung. Für ihre Recher­chen ist sie immer wie­der auch in der Kaschub­ei unter­wegs, und hier nun ver­or­tet sie den vor­lie­gen­den Debüt­ro­man, der 2017 in Polen ver­öf­fent­licht wur­de und im Lan­de brei­te Zustim­mung fand.

Winter

Epi­zen­trum die­ser Fami­li­en­ge­schich­te, in der geschicht­li­che wie per­sön­li­che Ver­wer­fun­gen seis­mo­gra­phisch auf­ge­zeich­net wer­den, ist ein klei­nes Dorf in der kaschu­bi­schen Schweiz, an einem See nicht fern von Chmel­no gele­gen, das den spre­chen­den Namen Dziew­c­za Góra, „Mäd­chen­berg“, trägt und zur ver­läss­li­chen Hei­mat von Rozela und ihren drei Töch­tern wird. Die Mut­ter ist dort fest ver­wur­zelt, „war nie am Meer gewe­sen“, und die Kin­der ver­las­sen auch als Erwach­se­ne nur sel­ten einen Bann­kreis, der Kart­haus, Zop­pot und Gdin­gen umfasst. Ihr Ehe­mann, auf Arbeits­su­che stets fern der Fami­lie, sei, so resü­miert Rozela, „nüch­tern betrach­tet, in ihrem Leben nur eine Epi­so­de gewe­sen“. Von blei­ben­der Bedeu­tung ist allein, dass Abram zum einen vorraus­schau­end eine Ver­si­che­rung abge­schlos­sen hat­te, die nach sei­nem töd­li­chen Arbeits­un­fall – 1931 beim Auf­bau von Gdin­gen – aus­ge­zahlt und für den Neu­bau eines kom­for­ta­ble­ren Hau­ses genutzt wer­den konn­te ;  und zum ande­ren, dass er dar­auf bestand, die Mäd­chen mit ein­fa­chen kaschu­bi­schen Namen zu benen­nen :  Ger­ta, Tru­da und Ilda. Aus den Blick­win­keln der Töch­ter und ihrer Mut­ter wer­den im rhyth­mi­schen Wech­sel die Geschich­ten eines gemein­sa­men Lebens erzählt, die ihrer­seits in den Ver­lauf der Jah­res­zei­ten ein­ge­bet­tet sind. Der „Win­ter“, den Prot­ago­nis­tin­nen Sinn­bild für Käl­te und Tod, Schmerz und Ver­lust, umrahmt das Roman­ge­sche­hen. Als ful­mi­nan­ter Ein­stieg wird die Beer­di­gung des „Ver­hält­nis­ses“ von Ilda an einem „nas­sen Tag in einem nicht enden wol­len­den Febru­ar“ zu einer gro­tes­ken Sze­ne aus­ge­malt, die treff­lich die Cha­rak­te­re der exzen­tri­schen Figu­ren ent­wirft und den Grund­ton der Erzähl­wei­se anschlägt :  von sanf­ter Käl­te und Distanz – Begrif­fe, die Mar­ty­na Bun­da ger­ne in Bezug auf das Kaschu­bi­sche gebraucht –, von fri­vo­ler Hei­ter­keit bis hin zu dras­ti­scher Komik. Zwei Jah­re zuvor bereits, so erfährt der Leser im abschlie­ßen­den Schluss­ka­pi­tel des „Win­ters“, hat­te sich, als der „ers­te, hel­le und fri­sche Schnee“ fiel, die lebens­mü­de Rozela zum Ster­ben nie­der­ge­legt, wur­de zu Gra­be getra­gen und von den Töch­tern „mit je eine[r] Hand­voll gefro­re­ner Erde“ bedacht. Trägt die Schil­de­rung des Lei­chen­schmau­ses noch durch­aus skur­ri­le Züge, fin­den sich für den eigent­li­chen Abschied der Töch­ter von ihrer Mut­ter bemer­kens­wert ver­söhn­li­che, warm­her­zi­ge Wor­te. Für drei Wochen in Dziew­c­za Góra beieinander,

began­nen die Schwes­tern jeden Tag mit einem Besuch auf dem Chmiel­noer Fried­hof und been­de­ten ihn im Haus am See mit ver­trau­li­chen Gesprä­chen am Ofen. Sie waren sich nahe wie nie zuvor, sie rede­ten offen und hör­ten ein­an­der zu, um sich, die Mut­ter und das Leben zu verstehen.

Durch (win­ter­li­che) Erfah­run­gen von Käl­te und Ver­let­zun­gen gezeich­net, so hat es die Autorin in einem Inter­view for­mu­liert, brau­chen die Men­schen, damit sie über­le­ben kön­nen, den Früh­ling als Impuls eines Neu­be­ginns, die Fül­le des Som­mers und sodann den Herbst, um Ver­lus­te als Teil des Lebens zu begreifen.

Frühjahr

„Nach fünf Jah­ren Krieg war es jetzt an der Zeit, das Leben wie­der an sei­nen rech­ten Platz zu rücken“, ver­kün­det Rozela zu Beginn des Roman­ab­schnit­tes „Früh­jahr“, und die Natur scheint ihr Recht zu geben. „Der Apfel­baum trug zum ers­ten Mal Früch­te […]. Am Hang des Ber­ges, wo einst rei­hen­wei­se die Toten gele­gen hat­ten, wuch­sen jetzt Gän­se­dis­teln, man konn­te sie kilo­wei­se abmä­hen, zuckern und kochen, um dann einen zähen Heil­si­rup ein­zu­we­cken.“ Vol­ler Taten­drang und mit uner­schüt­ter­li­chem, hem­mungs­lo­sem Wil­len – selbst ist die Frau, so lehrt sie die Mäd­chen täg­lich !  – orga­ni­siert sie gemein­sam mit ihren Töch­tern das neue Leben, frischt das Haus auf, pflanzt und sät, brennt heim­lich Schnaps – „Tan­nen­berg 1410, ein Kilo Zucker, vier Liter Was­ser, 10 Deka Hefe“ – und meis­tert nicht zuletzt auch auf ihre Wei­se die Nutz­tier­hal­tung. Der Umgang mit dem Feder­vieh ist eigen­wil­lig, doch gera­de­zu aben­teu­er­lich gestal­tet sich das Gelin­gen einer Schwei­ne­zucht von letzt­lich über­re­gio­na­ler Bedeu­tung. Bei­des wird genüss­lich aus­ge­malt und nimmt bis­wei­len urko­mi­sche Züge eines bur­les­ken Pos­sen­spiels an. (Für zart­be­sai­te­te Vege­ta­ri­er dürf­te dies frei­lich eine nur schwer bekömm­li­che Kost sein.)

Jen­seits die­ser früh­lings­haf­ten Auf­bruchs­stim­mung der ers­ten Nach­kriegs­zeit wol­len jedoch die Schat­ten der Ver­gan­gen­heit weder für Rozela noch für ihre Kin­der ver­blas­sen, schlag­licht­ar­tig tau­chen sie immer wie­der auf, ins­be­son­de­re ein dunk­les Geheim­nis der Mut­ter wird zum Leit­mo­tiv des Romans, wie auch Tru­das Schmerz über den Ver­lust jenes Man­nes, den sie als Zwangs­ar­bei­te­rin in Ber­lin ken­nen und lie­ben gelernt hat­te. Sie hat­ten hei­ra­ten wol­len, doch die Mut­ter jag­te – es war „ein beson­ders kal­ter Win­ter, kurz vor Weih­nach­ten. 1945“ – den „Deut­schen“ ent­setzt aus dem Haus.

Die Töchter

In den „Som­mer“, der ein­schnei­den­de Ver­än­de­run­gen brin­gen soll, ent­lässt die Mut­ter ihre Töch­ter mit der pro­phe­ti­schen Mah­nung, es „sei nicht klug, […] von Män­nern all­zu viel zu erwar­ten“. Tru­da wird schwan­ger und muss rasch geehe­licht wer­den, Ger­ta darf sich auf eine stil­vol­le kirch­li­che Hoch­zeit freu­en, nicht in der „schlich­ten Dorf­ka­pel­le“ von Chmel­no, die soeben von Kon­ser­va­to­ren aus Dan­zig restau­riert wird, son­dern in der ehr­wür­di­gen, sie stark beein­dru­cken­den Stifts­kir­che von Kart­haus. Wäh­rend sie geblen­det wird von all dem Gold, den „Bilder[n] von Madon­nen in könig­li­chen Gewän­dern, die in Schlös­sern posier­ten“, und von Hei­li­gen, blickt Schwes­ter Ilda vol­ler Unru­he auf den mäch­ti­gen Back­stein­bau – ein „Koloss, ein zor­ni­ger Rie­se“ –, auf dem „ein selt­sa­mes Dach – schwarz, metal­len, in der Form eines Sargs“ ruht. „Im Innen­raum spür­te sie die Stil­le und ihre Angst noch stär­ker.“ Ver­schüch­tert war sie, all­mäh­lich staunend :

Lang­sam begriff Ilda, welch ein Wun­der es war, dass gera­de die­ser Ort den Krieg unbe­scha­det über­stan­den hat­te. Die gan­ze Kraft der Ver­nich­tung und des Leids, die Gewalt, der Zorn und der Tod waren an ihm vor­bei­ge­gan­gen. Ganz offen­sicht­lich, so dach­te sie, hat­ten auch die mit Bajo­net­ten und in Pan­zern in den Tod zie­hen­den Sol­da­ten den Tod gefürch­tet. Unter dem Dach in Gestalt eines Sar­ges hat­ten sie die letz­ten Res­te von Hel­den­mut verloren.

Ilda selbst wird nie in den Stand der Ehe tre­ten, beginnt statt­des­sen eine über Jahr­zehn­te wäh­ren­de labi­le Bezie­hung zu einem Künst­ler, obwohl die­ser vor Ort mit „einer Deut­schen“ legal ver­bun­den ist. Mit den Schwes­tern teilt sie die Ein­sicht, „wie wenig sie doch ihre Män­ner kann­ten“. Tru­da ihrer­seits ahnt nicht, dass ihr Jan bereits Vater eines Kin­des ist und war­um er bei den Kom­mu­nis­ten wegen staats­feind­li­cher Akti­vi­tä­ten in Ungna­de fällt – als ein gebro­che­ner Mann wird er aus dem Gefäng­nis zu ihr zurück­keh­ren. Ger­ta indes lässt sich von dem intro­ver­tier­ten Uhr­ma­cher Edward nach eini­gen Besu­chen des Gerichts­voll­zie­hers sowie, nach­dem er bei einem Sei­ten­sprung pein­li­cher­wei­se von einer Lei­ter stürzt, als­bald schei­den. In den teils aber­wit­zi­gen Epi­so­den mit ihren Män­ner bewah­ren die jun­gen Frau­en Hal­tung, sie trot­zen ohne Häme, aber selbst­be­wusst man­chen Absur­di­tä­ten :  nichts darf ihnen so nahe kom­men, als dass sie dar­an zer­bre­chen könn­ten. Hier viel­leicht erschließt sich am ehes­ten der pol­ni­sche Ori­gi­nal­ti­tel des Buches Niec­zu­łość, der auch so viel hei­ßen kann wie „Unemp­find­lich­keit“.

Das Mal

Eine Leich­tig­keit und der siche­re Blick für Nuan­cen, Lokal­ko­lo­rit und Situa­ti­ons­ko­mik zeich­nen die­sen Roman aus;   dar­über hin­aus sind aber gera­de auch jener Ernst und die tie­fe Empa­thie signi­fi­kant, mit denen das Augen­merk des Lesers immer wie­der auf Rozela gerich­tet wird, jene Frau, die, selbst unehe­lich auf­ge­wach­sen, das Leben als allein­er­zie­hen­de Mut­ter mit „rau­er Wär­me“ meis­tern muss –  trotz aller ver­hee­ren­den Kriegs­er­leb­nis­se und Gewalt­er­fah­run­gen. Rozela bleibt auf alle Zeit gebrand­markt. Das Bügel­eisen, das „der Iwan“ ihr bru­tal auf den Bauch gepresst hat­te, bil­det das tra­gen­de Motiv des Romans und wird für die geschän­de­te Frau zum all­ge­gen­wär­ti­gen Mal – und zum Tabu. Sicht­bar hat sie es auf ein Bord im Schwei­ne­stall abge­stellt, aller­dings mit der War­nung an die Kin­der :  „Das ist ein kaput­tes Bügel­eisen, lasst ja die Fin­ger davon. Sonst rei­ße ich euch die Hän­de ab.“ Noch Jahr­zehn­te spä­ter über­fällt sie Panik, wenn sie in sich zusam­men­ge­sun­ken „schwei­gend und gedan­ken­ver­lo­ren am Ofen saß, um plötz­lich auf­zu­sprin­gen und etwas über die Iwans und das Bügel­eisen her­aus­zu­schrei­en“. Gera­de­zu hys­te­risch reagiert sie auf kör­per­li­che Berüh­run­gen :  „Sie lässt sich nicht ein­mal mehr wach­sen. Ent­we­der sie schreit und schlägt um sich, oder sie macht sich ganz steif und ist nicht mehr ansprech­bar, wie eine Stoffpuppe.“


Es wird die zweit­jüngs­te Enke­lin Rozelas sein, die spä­ter­hin als Schrift­stel­le­rin dem Leid der Groß­mutter nach­spürt, indem sie Bücher ver­fasst, von denen eini­ge „dem Schick­sal weib­li­cher Kriegs­op­fer gewid­met sind“. Nur sie wird sich dann auch inten­siv mit jener Publi­ka­ti­on beschäf­ti­gen, in der sich zwei Fran­zö­sin­nen mit der Flucht ihrer Väter aus Stutt­hof und deren Ver­steck im Hau­se der Rozela auseinandersetzen.

Von Gräu­el­ta­ten und see­li­schen Erschüt­te­run­gen aus jener Zeit zu erzäh­len, als die Rote Armee in die Kaschub­ei ein­fiel, sei gebo­ten, um Spu­ren laten­ter Trau­ma­ta zu erken­nen, und die­se wie­sen weit über die regio­na­len Gren­zen hin­aus. Kei­nes­falls, erklärt Mar­ty­na Bun­da, wol­le sie Schre­cken ver­brei­ten ;  viel­mehr zei­ge sie Wege der Hei­lun­gen, spricht von Stär­ke und Hoff­nung, die dem Leser das Atmen ermög­li­chen – und ihm, so zeigt die sehr loh­nen­de Lek­tü­re, durch­aus auch immer wie­der ein ver­gnüg­tes Schmun­zeln entlocken.

Ursula Enke