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In den Blick genommen

Michael Göring: Hotel Dellbrück. Osburg Verlag Hamburg 2018

Von Lippstadt in die Welt und wieder zurück – so könnte man den aktuellen Roman von Michael Göring knapp zusam­men­fassen, und zugleich gibt dies nicht annähernd die inhalt­liche und emotionale Fülle der ebenso spannend wie einfühlsam geschrie­benen Famili­en­ge­schichte Hotel Dellbrück wieder. Der in Westfalen aufge­wachsene Nachfahre ostpreu­ßi­scher Eltern blättert achtzig Jahre Zeitge­schichte auf, angefangen bei den düsteren Erfah­rungen der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Schre­ckens­herr­schaft, endend in der Gegenwart.

Sigmund

Fünfzehn Jahre nachdem im tradi­ti­ons­reichen Bahnhofs­hotel Dellbrück die Kaltmamsell Tilla einen unehe­lichen Sohn zur Welt bringt, verab­schiedet die Familie des Hoteliers in der Kälte eines Dezem­ber­tages eben dieses Kind, Sigmund Rosenbaum, auf dem Lippstädter Bahnhof. Nach dem frühen Tod der Mutter haben Antonius und Emmi Dellbrück den Jungen aufge­zogen und wie die eigenen Kinder im katho­li­schen Glauben unter­wiesen. Die kirch­lichen Lieder kennt er so gut, dass er Minis­trant hätte werden können. Doch in der Schule beginnen Lehrer, von „Juden­lümmeln“ zu sprechen, und Sigmunds bester Freund verlässt mit seiner Familie von einem auf den anderen Tag die Stadt. Als nach der sogenannten „Reichs­kris­tall­nacht“ im November 1938 auch in der westfä­li­schen Provinz Hetze und Ausgrenzung immer mehr um sich greifen, wird Vater Dellbrück klar, dass er seinen geliebten Ziehsohn in Sicherheit bringen muss. Er organi­siert für den Jungen einen Platz in einem Kinder­transport nach England.

Der Abschied von der Familie und der Neuanfang in Cornwall fallen dem Fünfzehn­jäh­rigen nicht leicht, doch er will alles richtig machen, und die Leylands, seine Pflege­eltern, nehmen ihre Aufgabe ernst. Auch einen neuen Freund fürs Leben findet er rasch. Nach einigen Monaten jedoch gerät er in einen heftigen Identi­täts­kon­flikt, denn Deutschland und England befinden sich im Krieg mitein­ander. In Sigmunds Ausweis steht „staaten­loser Jugend­licher mit Famili­en­an­schluss in England“, aber sehen die Engländer ihn nicht als Feind an ?  Kann er noch in Cornwall bleiben, weiter zur Schule gehen ?  Werden nicht alle mit dem Finger auf ihn zeigen ?  Zu diesen nagenden Zweifeln kommt die Ungewissheit, wie es der Familie in der westfä­li­schen Heimat geht, nur selten erreichen ihn Nachrichten vom Kontinent. Im Laufe der Zeit fällt es Sigmund immer schwerer, zu sagen, wo er eigentlich hingehört, zumal er weiß, wie dankbar er sein muss, dass er sich in Sicherheit befindet. „Wenn die Gerüchte über Deutschland und die Juden stimmen, hast du unglaublich Glück gehabt“, meint Mrs. Leyland. Den Vorschlag aller­dings, nach dem Schul­ab­schluss in der briti­schen Armee zu kämpfen, um seine Dankbarkeit zu beweisen, lehnt er entrüstet ab – auf deutsche Soldaten könnte er niemals schießen.

Nur einen einzigen Brief besitzt Sigmund von seiner Mutter ;  dessen Botschaft begleitet ihn :  „Juden sind etwas ganz Beson­deres. Sie sind Gottes auser­wähltes Volk und daher immer auf der Suche nach ihrem Glück, immer auf dem Weg zu ihrer Heimat.“ Erst in der Fremde denkt er über seine Heimat nach, und dann stellt sich auch die Frage nach der Religion. Siggi, wie Siegmund von seiner Familie und seinen Freunden genannt wird, ist nie jüdisch gewesen, sondern katho­lisch mit den Dellbrücks und in England metho­dis­tisch, hat also die ganzen Jahre christlich gelebt. In welcher Religion ist er eigentlich beheimatet ?

Die Frage nach Heimat stellt sich in beson­derer Weise, als Sigmund sich entscheiden muss, briti­scher Staats­bürger zu werden – oder staatenlos zu bleiben. Obwohl es ihm wie ein Verrat an den Eltern in Deutschland vorkommt, entscheidet er sich für die „bessere“ Kategorie und wird „belohnt“ mit einem Studi­en­platz im renom­mierten Teachers College. Weil er das Gefühl hat, damit seine Dankbarkeit beweisen zu können, besucht er regel­mäßig die metho­dis­tische Kirche und lässt sich schließlich dort taufen. „Die Taufe war so etwas wie der Preis gewesen, den er hatte zahlen müssen. Sie bedeutete ihm darüber hinaus nichts.“

Doch der Spannung, zwischen den Welten zu leben, entkommt Sigmund nicht. Sein engli­scher Freund Nick wird einge­zogen und fällt kurz vor Kriegsende ausge­rechnet in einer Schlacht am Ufer der westfä­li­schen Lippe. Und die Eltern des Mädchens, in das Siggi sich verliebt, verbieten den Kontakt mit einem „Deutschen“. Fast zeitgleich mit dem Ende des Weltkrieges besteht Sigmund sein Examen. Immer stärker spürt er, dass er nicht in England bleiben kann, dass er etwas verändern muss. „Und es war nicht nur der drängende Wunsch nach Vergessen, nach Ablegen der Schuld­ge­fühle gegenüber Nick, nach Verdrängen und Verän­derung, der wichtigste Grund hieß Rile.“ Maria, die schöne Tochter der Dellbrücks, genannt Rile, hat über die Jahre brieflich Kontakt zu Siggi gehalten, und auch wenn er es kaum aushält, die Leylands zu verlassen, entscheidet er sich, nach zehn Jahren England nach Lippstadt zurückzukehren.

Die Rückkehr des von den Nazis vertrie­benen Juden fällt zusammen mit der Rückkehr von Nazis in den Staats­dienst. So begegnet Sigmund gleich am ersten Tag an seiner alten Schule, an der er nun unter­richten wird, seinem ehema­ligen Lehrer. Und weiß nicht, wie umgehen mit den Blicken im Kollegium und den ungesagten Sätzen, die ihn, den Exilanten, ausschließen. Einen gemein­samen Hinter­grund von Kriegs­er­fahrung, Niederlage und Gefan­gen­schaft gibt es nicht. Erst recht kann Sigmund nichts anfangen mit den Versuchen von Kollegen und Eltern, Fehler und Folgen des „Tausend­jäh­rigen Reiches“ vergessen zu machen. Als eine Anfrage aus dem Regie­rungs­prä­sidium kommt, ob er mit seinen quasi mutter­sprach­lichen Kennt­nissen der engli­schen Sprache Realschul­lehrer an der Pädago­gi­schen Hochschule ausbilden könne, sagt Sigmund nur zu gern zu. Und auch wenn es ihm an der Hochschule vorkommt, „als würde man das Jüdische gern in einer Schublade lassen, die man nicht ohne Not öffnen wollte“, empfinden Siggi und seine junge Frau den Wechsel als großes Glück.

Frido

Nach zwei Töchtern wird Sigmund und Maria der Sohn Frido geboren. Elf Jahre alt ist dieser, als der Vater ihn zu einem Teil seiner Geschichte macht, indem er ihn aufklärt über den jüdischen Hinter­grund der Familie – und über seine Arbeit. Denn Sigmund treibt die Aufar­beitung der Auschwitz-Prozesse um. Seine Lebens­aufgabe findet er im Sammeln von Spuren der Mensch­lichkeit in unmensch­lichen Zeiten.

Sohn Frido wiederum sucht seinen Lebenssinn, wie so viele seiner Generation, in der Spiri­tua­lität. Ihn zieht es ins indische Poona, wo er seine spätere Frau kennen­lernt. Mit ihr wandert er nach Australien aus. Letztlich flieht Frido vor dem unerbitt­lichen, beses­senen Aufar­bei­tungs­willen des Vaters ebenso wie vor der klein­bür­ger­lichen Atmosphäre der jungen Bundes­re­publik, von der er meint, sie lasse ihn nicht frei atmen.

Jahrzehnte später, nach dem Tod seiner Frau, kehrt der dreiund­sech­zig­jährige Frido zum Anker­punkt der Familie, dem Hotel am Bahnhof in Lippstadt, zurück. Inzwi­schen kein Hotel mehr, sondern ein Wohnheim für Flücht­linge und Asylanten, erwartet Frido nicht die ersehnte wie gefürchtete Begegnung mit familiären Erinne­rungen. Vielmehr ist es ein junger Flüchtling aus Syrien, der mit seinen Fragen, mit Interesse und zugleich mit Distanz Frido beinahe an seine Grenzen bringt. Wie soll es weiter­gehen mit dem, der gerade sein Lebens­glück in Australien hat begraben müssen ?  Ist es richtig, ausge­rechnet an den Ort der Kindheit zurück­zu­kehren ?  Und kann Frido das Angebot einer Kusine, beim Neuaufbau einer Hotel- und Spa-Anlage einzu­steigen, annehmen ?

Wann muss man bereit sein für Neues ?  Auch davon handelt Michael Görings ergrei­fendes, zeitge­schicht­liches Buch. Meisterhaft, mit leichter Hand erzählend, thema­ti­siert Göring in seinem Roman, wie trauma­tische Erfah­rungen von Krieg und Heimat­verlust, Emigration und Flucht als wirkmäch­tiges Erbe die nachfol­genden Genera­tionen beein­flussen. Heimat ist so viel mehr als der Ort der Herkunft. Wie sehr das Bedürfnis nach Heimat und Sicherheit und die Suche nach Identität Menschen prägen, macht Michael Göring überzeugend deutlich, ohne übliche Klischees zu bedienen.

Das Wort „Vertreibung“ kommt nur ein einziges Mal in Hotel Dellbrück vor, doch erscheint der Roman in seiner Gesamtheit wie eine Folie, auf der die Erfah­rungen all derje­nigen, die in der Folge des Zweiten Weltkrieges ihre Heimat verlassen mussten, aufscheinen. Zugleich gelingt es Michael Göring, behutsam eine Brücke zu schlagen in die Gegenwart von Flucht und Vertrei­bungen. Zwei Genera­tionen, zwei inein­ander verschränkte Entwick­lungs­ge­schichten, verwebt Göring zu einer dichten Erzählung, die erkennen lässt, wie wichtig es ist, sich mit Geschichte zu beschäf­tigen – mit der eigenen, ganz persön­lichen, und mit dem histo­ri­schen Erbe, für dessen Bewahrung wir die Verant­wortung tragen.

Annegret Schröder