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In den Blick genommen

Christopher Spatz: Heimatlos – Friedland und die langen Schatten von Krieg und Vertreibung. Ellert & Richter Hamburg 2018

Fried­land – seit 1945 steht die­ser Name im kol­lek­ti­ven Gedächt­nis der Deut­schen als Chif­fre für Hei­mat­ver­lust und Über­gang zwi­schen den Wel­ten. Hier wech­sel­ten Mil­lio­nen Men­schen von Ost nach West, aus einer schre­ckens­vol­len Ver­gan­gen­heit in eine unge­wis­se Zukunft. Die­ser Schnitt­stel­le in einem gigan­ti­schen Trans­fer­pro­zess, an des­sen Ende kaum ein Betrof­fe­ner „heim­kehr­te“, setzt der His­to­ri­ker Chris­to­pher Spatz mit dem Band Hei­mat­los ein groß­ar­ti­ges Denk­mal. Dabei kon­zen­triert er sich auf die 1950er und 1960er Jah­re. Ergänzt wer­den Doku­men­ta­ti­on und Kom­men­tar durch zum gro­ßen Teil bis­her unver­öf­fent­lich­te, ein­drucks­vol­le Foto­gra­fien des gebür­ti­gen Ost­preu­ßen Fritz Paul, ein­ge­führt in die The­ma­tik wird mit einer Kurz­ge­schich­te von Arno Surminski.

Im Ange­sicht von Schuld, ­Opfern und Ver­lust stand das durch sei­ne geo­gra­fi­sche Lage in der Mit­te Deutsch­lands, direkt an der Zonen­gren­ze, als Grenz­durch­gangs­la­ger prä­de­sti­nier­te Fried­land in den Nach­kriegs­jahr­zehn­ten pars pro toto für die See­len­la­ge West­deutsch­lands. Ob Spät­heim­keh­rer, trau­ern­de Sol­da­ten­el­tern und ‑bräu­te, Ver­trie­be­ne, Flücht­lin­ge – alle fan­den sich wie­der als Opfer, die Sor­gen des Ein­zel­nen wuss­ten sich an die­sem Ort in Gemein­schaft. Für die Ein­tref­fen­den bedeu­te­te das Lager ein Durch­at­men, aber auch Abschied und End­gül­tig­keit. Wie sich im Span­nungs­feld aus mensch­li­chen Schick­sa­len, poli­ti­scher Inan­spruch­nah­me und media­lem Echo der Mythos Fried­land ent­wi­ckel­te, macht Chris­to­pher Spatz am All­tags­ge­sche­hen im Lager mit Hil­fe von Zeit­zeu­gen­dar­stel­lun­gen deut­lich. „Fried­land ist der ers­te und, mit Aus­nah­me des Wie­der­se­hens mit den Mei­nen, der stärks­te Ein­druck, den die Frei­heit mir gab“, wird ein Heim­keh­rer zitiert. Wie Hel­den wur­den sie emp­fan­gen, doch die Heim­keh­rer emp­fan­den sich nicht als sol­che, wehr­ten ent­spre­chen­de Ver­ein­nah­mung durch die Pres­se ab, so gut es mög­lich war, und erstreb­ten vor allem ihren bal­di­gen Neu­an­fang in Selbst­stän­dig­keit. Als Beweis für die gro­ße, vor den Män­nern lie­gen­de Auf­ga­be der Ein­glie­de­rung wird eine Situa­ti­on nach dem Ein­tref­fen eines neu­en Trans­ports geschil­dert. Einer der Heim­keh­rer tritt nach vorn, um für sei­ne Kame­ra­den zu spre­chen und sich für den ergrei­fen­den Emp­fang zu bedan­ken, und beginnt sei­nen Part mit „Volks­ge­nos­sen“. Dem Mann fehl­ten zehn Jah­re sei­nes Lebens, er wuss­te nicht, dass das Wort inzwi­schen gestor­ben war. Alle, die dabei waren, spür­ten in die­sem Augen­blick, dass sich in die­sen zehn Jah­ren mehr geän­dert hat­te als nur die Wor­te, spür­ten, wie unend­lich viel noch vor den Heim­keh­rern lag. Auch auf das beson­ders schwe­re Los von Heim­keh­re­rin­nen, die gezeich­net von jah­re­lan­ger Män­ner­ar­beit, häu­fig auch von Ver­ge­wal­ti­gung und/oder Ver­lust eines Kin­des trau­ma­ti­siert, kaum eine Chan­ce auf Part­ner­schaft und Fami­lie in der west­deut­schen Nach­kriegs­ge­sell­schaft hat­ten, wird eingegangen.

Die Dich­te von Leid und herz­li­cher Freu­de, Elend, Hilfs­be­reit­schaft und Zusam­men­halt ist beson­ders in den Auf­nah­men des Foto­re­por­ters Fritz Paul erkenn­bar, die inten­si­ve, teils über­ra­schen­de Ein­drü­cke von Lager­or­ga­ni­sa­ti­on, All­tag und her­aus­ge­ho­be­nen Ereig­nis­sen ver­mit­teln. Ob es die vol­ler Hoff­nung und Sor­ge auf einen ankom­men­den Trans­port war­ten­de Men­schen­men­ge mit in die Höhe gehal­te­nen Namens­schil­dern ist, die klei­ne Fami­lie, die sich gera­de wie­der­ge­fun­den hat, oder der Spät­heim­keh­rer mit der aus Russ­land mit­ge­brach­ten jun­gen Kat­ze auf dem Arm – alle Bil­der wei­sen Nähe und Tie­fe auf, zeu­gen vom Respekt, den der Foto­graf sei­nen Moti­ven erwies, und sind kost­ba­re Zeitzeugnisse.

Neben den Kriegs­heim­keh­rern, den Ver­trie­be­nen, Flücht­lin­gen und Zivil­ver­schlepp­ten war Fried­land auch für Aus­sied­ler die ers­te Anlauf­sta­ti­on im „gol­de­nen Wes­ten“. War die Aus­rei­se nach Jah­ren der Drang­sa­lie­rung und Unge­wiss­heit, mit Träu­men einer Zukunft in der Bun­des­re­pu­blik, tat­säch­lich real gewor­den, kon­fron­tier­te die Wirk­lich­keit aller­dings mit neu­en Schwie­rig­kei­ten: Zu dem end­gül­ti­gen Abschied von der Hei­mat kamen büro­kra­ti­sche Hin­der­nis­se, die oft­mals schwie­ri­ge Arbeits­su­che, Woh­nungs­not und die feh­len­den Mög­lich­kei­ten, mit Ange­hö­ri­gen zusam­men­zu­le­ben. Zudem bedeu­te­te der Zustrom von Aus­sied­lern eine poli­ti­sche Pro­ble­ma­tik, da die Fra­ge der deut­schen Ost­ge­bie­te bis zu einer frie­dens­ver­trag­li­chen Rege­lung unge­klärt war und im Ver­ständ­nis der Bon­ner Regie­rung Gebiets­an­sprü­che nicht auf­ge­ge­ben wer­den soll­ten. So wur­den Aus­rei­se­be­mü­hun­gen offi­zi­ell nicht for­ciert, gleich­wohl huma­ni­tä­re Hil­fen, unter der Feder­füh­rung des Deut­schen Roten Kreu­zes, geleis­tet. Nach dem Regie­rungs­wech­sel 1969 wur­de eine völ­lig kon­trä­re Poli­tik ver­folgt, die nicht nur eine Rela­ti­vie­rung des Lei­dens der Ver­trie­be­nen, son­dern sogar die bewuss­te Til­gung von Spu­ren des his­to­ri­schen deut­schen Ostens zur Fol­ge hat­te. Nach der west­deut­schen Selbst­wahr­neh­mung als Opfer­ge­mein­schaft in den 1950er Jah­ren – ohne Berück­sich­ti­gung von Alt­las­ten aus der NS-Zeit – geriet ab den 1970er Jah­ren der Grund­ge­dan­ke deut­sche Täter­fi­xie­rung in den Mit­tel­punkt. Aus­sied­ler­schick­sa­le pass­ten zu die­ser Erin­ne­rungs­land­schaft nicht, blie­ben unbe­nannt und unbetrauert.

Nach Abeb­ben der größ­ten Völ­ker­wan­de­rung der euro­päi­schen Geschich­te folg­ten wei­te­re Aus­sied­ler­strö­me, vor­nehm­lich aus Polen und aus Russ­land. Fried­land ist bis heu­te Erst­auf­nah­me­ein­rich­tung für Spät­aus­sied­ler, dazu wer­den zuneh­mend Asyl­be­wer­ber auf­ge­nom­men. So blei­ben auch fast 75 Jah­re nach der Lager­grün­dung direk­te oder mit­tel­ba­re Kriegs­fol­gen­schick­sa­le wei­ter wesent­li­cher Teil des All­tags in Fried­land. Seit 2016 gibt es ein Muse­um, das die Geschich­te des Grenz­durch­gangs­la­gers als Zufluchts­ort in sei­ner his­to­ri­schen und uni­ver­sel­len Dimen­si­on erzählt.

Chris­to­pher Spatz, in die­sem Jahr aus­ge­zeich­net mit dem Kul­tur­preis der Lands­mann­schaft Ost­preu­ßen, beleuch­tet in sei­nem Buch anschau­lich und gut les­bar die vie­len Facet­ten von Hei­mat­lo­sig­keit und trägt so dazu bei, wich­ti­ge Erin­ne­rungs­ar­beit zu leis­ten. Dies ist umso bedeut­sa­mer, als in abseh­ba­rer Zeit kei­ne unmit­tel­ba­ren Zeit­zeu­gen mehr da sein werden.

Anne­gret Schröder