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In den Blick genommen

Gerdien Jonker: „Etwas hoffen muss das Herz“. Eine Familiengeschichte von Juden, Christen und Muslimen. Wallstein Verlag, Göttingen 2018 | ​Marcia Zuckermann: Mischpoke! Ein Familienroman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2016

Die Rekonstruktion von eigenen oder fremden Familiengeschichten entlang der Zeitläufte des späten 19. und kurzen 20. Jahrhunderts hat weiterhin Konjunktur. Mal sind es detektivisch angelegte Vergangenheitsreisen wie in Edmund de Waals Bestseller Der Hase mit den Bernsteinaugen oder Nora Krugs Heimat, die anhand akribischer Recherchen Familiengerüchten auf den Grund gehen. Mal sind es literarische Ansätze, die mehr oder weniger fiktiv von der eigenen Herkunft erzählen, etwa Jonathan Safran Foers Erstling Alles ist erleuchtet oder Oskar Roehlers Film Quellen des Lebens. In beiden Genres sind vor kurzem auch zwei Bücher erschienen, die ihren Ursprung in Westpreußen haben, genauer gesagt :  im jüdischen Westpreußen.

Die Reli­gi­ons­his­to­ri­ke­rin Ger­dien Jon­ker rekon­stru­iert in „Etwas hof­fen muss das Herz“ die außer­ge­wöhn­li­che Geschich­te der Fami­lie Oet­tin­ger. Mar­cia Zucker­mann, Toch­ter eines jüdi­schen Kom­mu­nis­ten, der das KZ Buchen­wald über­leb­te, und einer pro­tes­tan­ti­schen Kom­mu­nis­tin, die im Wider­stand aktiv war, hat mit Misch­po­ke ! einen Roman aus der Sicht einer Frau geschrie­ben, deren Vater als jüdi­scher Kom­mu­nist das KZ Buchen­wald über­leb­te und dann eine jun­ge pro­tes­tan­ti­sche Kom­mu­nis­tin hei­ra­te­te, die im Wider­stand aktiv war. Zwei Geschich­ten jüdi­scher Fami­li­en, die in West­preu­ßen im 19.  Jahr­hun­dert ihren Anfang neh­men, deren weib­li­che Haupt­fi­gu­ren sich räum­lich, spi­ri­tu­ell und gesell­schaft­lich immer wei­ter von ihren Wur­zeln ent­fer­nen, ohne sich aber von ihrem Erbe lösen zu können.

Die Oet­tin­gers, deren Fami­li­en­ge­schich­te Ger­dien Jon­ker über fünf Gene­ra­tio­nen rekon­stru­iert, sind ursprüng­lich ansäs­sig in Mari­en­wer­der (Kwid­zyn). Wie vie­le ande­re jüdi­sche Fami­li­en besitzt der Stamm­va­ter Isi­dor Oet­tin­ger ein Laden­ge­schäft am Mari­en­wer­der­schen Markt, Haus­num­mer 69. Seit 1836 ver­kauft er Kurz­wa­ren :  Bän­der, Spit­zen, Klöp­pel­ar­bei­ten, die in der Manu­fak­tur sei­nes Schwie­ger­va­ters ent­ste­hen. Er ist eine wich­ti­ge Stüt­ze der jüdi­schen Gemein­de und führt mit sei­ner Frau Ber­tha ein bür­ger­li­ches, von jüdi­scher Tra­di­ti­on gepräg­tes, aber kei­nes­wegs ortho­do­xes Leben. Sein ältes­ter Sohn Lou­is Oet­tin­ger ver­lässt die Pro­vinz und macht sich 1866 auf nach Ber­lin. Im dor­ti­gen Export­vier­tel, ent­lang der Rit­ter­stra­ße im Stadt­teil Kreuz­berg, han­delt er mit Leucht­mit­teln. Das Geschäft flo­riert, und nach und nach zie­hen immer mehr Oet­tin­gers in die Haupt­stadt. Sohn Fried­rich, gebo­ren 1873, wächst in einer wohl situ­ier­ten, welt­ge­wand­ten Umge­bung auf und tritt in die Fuß­stap­fen sei­nes Vaters.

Mit der Los­lö­sung von West­preu­ßen erfolgt auch die von den jüdi­schen Wur­zeln. Mit zwölf Jah­ren wird Fried­rich pro­tes­tan­tisch getauft, um ihm die best­mög­li­chen Start­be­din­gun­gen für ein erfolg­rei­ches, für ein deut­sches Leben geben zu kön­nen. „Wir woll­ten deutsch sein, sonst nichts“, schrieb Vic­tor Klem­pe­rer 1903, des­sen Fami­lie aus Brom­berg nach Ber­lin gekom­men war und der selbst im Export­vier­tel eine Leh­re mach­te. Genau­so ging es auch den Oet­tin­gers. Sie woll­ten dazu­ge­hö­ren. Fried­rich hei­ra­te­te die Pro­tes­tan­tin Emi­lia Lae­wen, der nächs­te wich­ti­ge Schritt der Assi­mi­la­ti­on. Ihre bei­den Töch­ter Lisa und Susan­na schließ­lich sind die Haupt­fi­gu­ren von Jon­kers Buch.

Fried­rich Oet­tin­gers Gegen­stück in Misch­po­ke ist Samu­el Koh­anim, Holz- und Möbel­händ­ler, Patri­arch einer „bes­se­ren jüdi­schen Fami­lie im länd­li­chen West­preu­ßen im 19. Jahr­hun­dert“, genau­er :  auf Sau­er­müh­le im Land­kreis Schwetz. Koh­anim ist ein Mann mit gro­ßem Ein­fluss – und einem Pro­blem :  Er hat sie­ben Töch­ter und kei­nen über­le­ben­den Sohn. 1902 stirbt mit Ben­ja­min die letz­te Hoff­nung auf einen männ­li­chen Erben. Der Vater wird als Moder­nist vor­ge­stellt, als visio­nä­rer Geschäfts­mann. Sei­ne Fami­lie gehör­te zu den alt­ein­ge­ses­se­nen Juden, die schon seit Hun­der­ten von Jah­ren in West­preu­ßen sie­del­ten. „Mit den fins­te­ren, schmud­de­li­gen, nach Knob­lauch, Schmutz und Armut stin­ken­den jid­deln­den Kaftan-Juden vom Weich­sel­ufer“ woll­te er nicht „das Gerings­te zu tun haben“, schreibt Zucker­mann. Die­sen Fami­li­en­stolz trägt vor allem sei­ne mitt­le­re Toch­ter Fran­zis­ka wei­ter, die zur Haupt­fi­gur des Romans wer­den wird :  der Stolz, aus einer ehr­wür­di­gen, sephar­di­schen Fami­lie abzu­stam­men, die nicht nur Geld hat­te, son­dern auch gebil­det war, die Künst­ler för­der­te und vor der ande­re den Hut zu zie­hen hatten.

Vier der sie­ben Töch­ter Samu­els zie­hen nach Ber­lin, um dort auf sehr unter­schied­li­che Wei­se ihr Leben zu gestal­ten. Fan­ny hei­ra­tet einen jüdi­schen Schnei­der und Modis­ten, Mar­tha macht mit einem jüdi­schen Rich­ter eine stan­des­ge­mä­ße Par­tie, die bur­schi­ko­se Els­beth geht die Ehe mit einem preu­ßi­schen Offi­zier ein und eröff­net ein Sport­fach­ge­schäft. Fran­zis­ka aller­dings – intel­li­gent, gut­aus­se­hend, arro­gant – spannt ihrer Schwes­ter den Ver­eh­rer aus, geht mit ihm nach Ber­lin und bekommt zwei Söh­ne. Doch beim schmu­cken Wil­ly Rubin han­delt es sich um einen mit­tel­lo­sen Hei­rats­schwind­ler, die fei­ne jun­ge Dame lan­det im Wed­ding und muss nun selbst für ihren Lebens­un­ter­halt auf­kom­men. Zeit­gleich ver­schlägt es auch die Kind­heits­freun­din Oda in die Reichs­haupt­stadt, und sie wie­der­um mau­sert sich von einer rus­si­schen Aris­to­kra­ten­toch­ter zur ers­ten Kom­mu­nis­tin vor Ort. Ihre Toch­ter Hel­la und Fran­zis­kas Sohn Wal­ter wer­den spä­ter die Eltern der Erzäh­le­rin werden.

Die Roman­hand­lung von Misch­po­ke bie­tet eine brei­te Palet­te von mensch­li­chen Dra­men, Schei­dun­gen, angeb­li­chen Gift­mör­de­rin­nen und wil­den Ehen, von wirt­schaft­li­chem Über­le­ben, über­schat­tet von nicht mög­li­cher Assi­mi­la­ti­on und letzt­lich ras­sis­ti­scher Ver­fol­gung. Weit­aus unge­wöhn­li­cher hin­ge­gen ist das Schick­sal der bei­den Oettinger-Töchter Lisa und Susan­na. Gemein­sam mit ihrer Mut­ter Emi­lia schlie­ßen sie sich in den 1920er Jah­ren der Ahmadiyya-Gemeinde in Ber­lin an, die eine kos­mo­po­li­ti­sche Aus­prä­gung des Islam mit indi­schen Wur­zeln ver­kör­pert und den Frau­en neue Hori­zon­te eröff­net. Die jun­gen Frau­en gehen inter­re­li­giö­se Bezie­hun­gen ein, kon­ver­tie­ren zum Islam. Wäh­rend Lisa, die Künst­le­rin, 1938 nach Indi­en aus­wan­dert und den Krieg unbe­scha­det durch­lebt, kämpft ihre Schwes­ter Susan­na, die Prak­ti­ke­rin, mit der Mut­ter und ihrer unehe­li­chen Toch­ter in Ber­lin ums Über­le­ben. Schließ­lich lan­den sie nach Kriegs­en­de alle in der Ahmadiyya-Gemeinde im süd­eng­li­schen Woking.

Mar­cia Zucker­mann rahmt ihre Erzäh­lung, indem sie sie aus der Gegen­warts­per­spek­ti­ve her­aus ent­fal­tet. Die Erzäh­le­rin, eine Jour­na­lis­tin, ist ange­klagt, eine Men­schen­schlep­pe­rin zu sein und einer Frau aus dem Iran mit Hil­fe ihrer eige­nen Iden­ti­tät nach Deutsch­land ver­hol­fen zu haben. Sie erzählt der ihr zuge­wie­se­nen The­ra­peu­tin ihre ver­schlun­ge­ne Fami­li­en­ge­schich­te, die ihr selbst als Recht­fer­ti­gung für ihre – tat­säch­lich began­ge­ne – Tat dient :  „Was ris­kier­te ich schon im Ver­gleich zu all jenen, die unter Lebens­ge­fahr mei­ne Ver­wand­ten ver­steckt, geschützt und ihnen zur Flucht ver­hol­fen hat­ten in jener dunk­len Zeit ?“ Und sie zitiert die Tho­ra :  „Wer auch nur einen Men­schen ret­tet, ret­tet die gan­ze Welt und ist ein Gerech­ter.“ Die Fami­li­en­ge­schich­te ist für die Erzäh­le­rin somit kei­ne Ver­gan­gen­heit, son­dern stets gegen­wär­tig. Immer wis­send um einen Flucht­weg, nie an der poli­zei­lich gemel­de­ten Adres­se woh­nend, als Jour­na­lis­tin stets unter Pseud­onym schrei­bend – erlern­te Ver­hal­tens­mus­ter als Teil des fami­liä­ren Gedächtnisses.

Die­ses Fami­li­en­ge­dächt­nis ist im Fall der Oet­tin­gers hap­tisch. In zwei gro­ßen Kis­ten hat Lisa Doku­men­te, hand­ge­klöp­pel­te Spit­zen, Foto­gra­fien und Erin­ne­rungs­stü­cke fein säu­ber­lich archi­viert. Die­se Gegen­stän­de haben durch alle Wir­ren und Zei­ten ihren Weg von West­preu­ßen nach Ber­lin und über Indi­en nach Woking gemacht. Lisas Sohn Suhail hütet sie als sei­nen Schatz. Ihr Inhalt sowie wei­te­re Unter­la­gen aus dem Besitz von Susan­nas Toch­ter Anisah und – sich mit­un­ter wider­spre­chen­de – Erzäh­lun­gen der Nach­kom­men die­nen Ger­dien Jon­ker als Quel­le für ihre Erzäh­lung. Wissenschaftlich-distanziert, doch mit Lie­be zum Detail und gro­ßer Empa­thie für ihre Prot­ago­nis­tin­nen kann sie das gegen­ständ­li­che Erbe in eine span­nen­de Erzäh­lung verwandeln.

Wenn­gleich die Form bei­der Bücher unter­schied­li­cher kaum sein könn­te – hier ein wis­sen­schaft­lich auf­be­rei­te­tes Sach­buch, dort ein durch­aus unter­halt­sa­mer Roman –, gibt es neben den bio­gra­fi­schen Ähn­lich­kei­ten bei­der Fami­li­en durch die Her­kunft aus dem jüdi­schen Milieu in West­preu­ßen auf­fäl­li­ge ver­bin­den­de Ele­men­te. Sowohl Jon­ker als auch Zucker­mann berich­ten von der Los­lö­sung jun­ger Frau­en aus traditionell-patriarchalen Fami­li­en­struk­tu­ren. Dies erfolgt weni­ger aus femi­nis­ti­schem Auf­be­geh­ren denn als Not­wen­dig­keit einer sich wan­deln­den Welt, in der das eige­ne wie fami­liä­re Fort­kom­men (und Über­le­ben) vom Bruch mit tra­dier­ten Rol­len­bil­dern abhän­gig wird. Fran­zis­ka und Susan­na gehen unkon­ven­tio­nel­le Bezie­hun­gen ein und müs­sen mit den gesell­schaft­li­chen und wirt­schaft­li­chen Fol­gen ihres Han­delns ihre Erzie­hung als Bür­gers­töch­ter hin­ter sich las­sen. Sie müs­sen arbei­ten, lei­den Not und über­neh­men Ver­ant­wor­tung für ihre Fami­li­en. Män­ner spie­len dabei nur die Nebenrolle.

Fas­zi­nie­rend ist die ste­ti­ge Wand­lung der Figu­ren in bei­den Büchern. Die Oet­tin­gers wech­seln in vier Gene­ra­tio­nen vier Mal die Reli­gi­on. Fran­zis­kas Sohn Wal­ter, vom Groß­va­ter Samu­el Koh­anim als Stamm­hal­ter erzo­gen, wen­det sich den Kom­mu­nis­ten zu und über­lebt zwölf Jah­re KZ-Haft. In bei­den Fami­li­en gibt es, kann es, ange­fan­gen beim ste­ten Fort­schritts­drang der bei­den Patri­ar­chen, kei­nen Still­stand geben.

Friederike Höhn