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In den Blick genommen

Przemek Zybowski: Das pinke Hochzeitsbuch

München :  Luchterhand, 2022

»Ihr seid ver­rückt!« Schein­bar teil­nahms­los hört der acht­jäh­ri­ge Prot­ago­nist die Stim­me sei­ner Groß­mutter, die fas­sungs­los in den Tele­fon­hö­rer brüllt: »… nach Deutsch­land!? Zu den Kreuz­rit­tern! Noch schlim­mer! Wahn­sin­ni­ge! Zu den Hel­muts, do Hel­mu­tów, do Szwa­bów, do Hit­le­row­ców, do Gesta­po­w­ców.« Spä­tes­tens als die bei­ßen­de Fra­ge: »Und was wird mit eurem Sohn?« in die Beschau­lich­keit eines som­mer­li­chen Sonn­tag­mor­gens fährt und der Jun­ge jäh mit der Flie­gen­klat­sche, die sei­ne Rech­te fest umklam­mert hält, die fet­te Schmeiß­flie­ge vor sich zer­quetscht, ist eines gewiss: Er wird den vor­he­ri­gen Tag, den 28. Juli 1984, an dem ihn die Eltern abends nicht wie ver­spro­chen am Bus­bahn­hof in Radom­sko abge­holt, son­dern Polen ver­las­sen haben, als den Schick­sals­tag sei­nes Lebens zu ver­ste­hen ler­nen. Auf die­ses ein­schnei­den­de Ereig­nis hin, gleich einem Flucht­punkt, rich­tet sich letzt­lich alles aus, was in dem Roman Das pin­ke Hoch­zeits­buch von Prze­mek Zybow­ski erzählt wird: über die Ver­lo­ren­heit und Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit eines Kin­des, das als »Pfand« bei der ahnungs­lo­sen Groß­mutter in Radom­sko, einer Klein­stadt zwi­schen Lodz und Tschen­sto­ch­au, zurück­las­sen wird, damit sich die Eltern Aus­rei­se­pa­pie­re erschlei­chen und sich unbe­merkt mit der jün­ge­ren Schwes­ter nach Deutsch­land abset­zen kön­nen; über die Angst vor der all­ge­gen­wär­ti­gen schi­ka­nö­sen Geheim­po­li­zei in einem dik­ta­to­ri­schen Staat und die Über­sied­lung zum »Klas­sen­feind«, hin­ein ins Unge­wis­se, hin zu Eltern, die ihm fremd gewor­den sind, denen er nach einem Jahr der erzwun­ge­nen Tren­nung nicht mit eupho­ri­scher Wie­der­se­hens­freu­de, son­dern viel­mehr mit hilf­lo­ser Ver­stockt­heit und sich ver­ste­ti­gen­der Abwehr begeg­nen wird.

Ent­lang zwei­er Erzähl­strän­ge, die jeweils die Sicht des erwach­se­nen Prot­ago­nis­ten und die­je­ni­ge des Kin­des ent­fal­ten, wech­seln die Zeit­ebe­nen in zügi­gem Rhyth­mus, und der Leser wird der­art gerad­li­nig und kurz­wei­lig durch das Roman­ge­sche­hen geführt. Es beginnt aus der Ich-Perspektive des längst in der Bun­des­re­pu­blik als Assis­tents­arzt eta­blier­ten Enkels, der an das Toten­bett sei­ner Groß­mutter und somit zurück an jenen Ort geru­fen wird, der ihm in Kin­der­ta­gen ver­traut war. Sinn­bild­lich für Mor­bi­di­tät und Ver­gäng­lich­keit steht dort vor dem Küchen­fens­ter der Stumpf eines Bau­mes, der einst als stol­ze, präch­ti­ge Kas­ta­nie im Hin­ter­hof sei­nen domi­nan­ten Platz hat­te. 1936 war sie zu Ehren der Groß­mutter gepflanzt wor­den, die als Sechs­jäh­ri­ge aus Frank­reich nach Radom­sko gekom­men war, ein Umstand, der ihr zeit­le­bens das Anse­hen einer Gran­de Dame ver­lei­hen soll­te. Dass ihr Vater zu Zei­ten der gro­ßen Hun­gers­not am Beginn des Jahr­hun­derts wie so vie­le Lands­leu­te nach Frank­reich aus­ge­wan­dert war, um sich z. B. als Frem­den­le­gio­när in Nord­afri­ka zu ver­din­gen, und spä­ter wie alle ande­ren wie­der des Lan­des ver­wie­sen wur­de, ist nur ein Exem­pel für fei­ne his­to­ri­sche sowie poli­ti­sche Skiz­zie­run­gen bio­gra­phi­scher Hintergründe.

In die Erleb­nis­se rund um die Bei­set­zung der Ver­stor­be­nen – aus sei­ner distan­ziert beob­ach­ten­den Hal­tung her­aus spricht er nur von »der Toten« – drän­gen sich Bil­der aus jenem Jahr, das er als Jun­ge bei sei­ner »Bab­cia« ver­bracht hat­te. Er hört, wie sei­ne Freun­de ihn »Anhel­li!« rufen – Anhel­li, der aus­er­wähl­te, tra­gi­sche Held im gleich­na­mi­gen Vers­epos von Juliuz Sło­wa­cki, einem der »Drei Bar­den«, der Natio­nal­dich­ter der Pol­ni­schen Roman­tik. Im Wes­ten wird er die­sen pro­gram­ma­ti­schen Namen zugleich mit allen Gedan­ken an jene Zeit able­gen: Das gan­ze Jahr sei aus­ge­löscht, monie­ren sei­ne Eltern. Er selbst resü­miert, dass fast zwan­zig Jah­re lang, bis zum Ende des Medi­zin­stu­di­ums, das Jahr 1984 kei­ne Rol­le gespielt habe: »Freun­de wun­der­ten sich, wenn ich ihnen völ­lig unge­rührt von der Flucht der Eltern erzähl­te. Aber mehr als die blo­ße Infor­ma­ti­on konn­te ich ihnen nicht geben. In der deut­schen Spra­che hat­te ich kei­ne Erin­ne­rung daran.«

Die­ser Ver­lust erzeugt letzt­lich einen so star­ken Lei­dens­druck, dass der Erzäh­ler auf­bricht, um den Jun­gen zu fin­den, der schein­bar spur­los aus sei­nem Leben ver­schwand. Ein immer wie­der­keh­ren­des Motiv beschreibt, wie er in der Woh­nung der toten Groß­mutter auf der Wand eine gehei­me Blin­den­schrift als Nach­richt ent­deckt, nun ver­sucht er Jahr­zehn­te spä­ter, die­se Bot­schaft akri­bisch, Buch­sta­be für Buch­sta­be, zu ent­zif­fern, »wie ein Mönch, der alte Schrift­fet­zen über­setz­te«. Bild­haft umschreibt die­se Akti­on den Pro­zess der eige­nen Wieder-Entdeckung; er ist lang­wie­rig, abwä­gend und von laten­tem Zwei­fel gelei­tet, der ihn immer wie­der an Gren­zen führt.

Hat­te er die­se Sät­ze wirk­lich gesagt oder gera­de erfun­den? Erin­ner­te er nur sei­ne Erfin­dun­gen? Wie wahr­schein­lich waren erfun­de­ne Erin­ne­run­gen? Kamen sie der Wahr­heit so nah, als wäre es in echt so pas­siert? Zumin­dest bes­ser, als kei­ne Erin­ne­run­gen zu haben, trös­te­te er sich. 

In jenen Momen­ten, in denen das Erleb­te und Gefühl­te die Vor­stel­lungs­kraft über­stei­gen und kaum in Wor­te zu fas­sen sind, kann dies Unge­heu­er­li­che sei­nen adäqua­ten Aus­druck wohl nur in fan­tas­ti­schen, mys­ti­schen Visio­nen wie bei­spiel­haft der des gewal­ti­gen, aus dem Him­mel her­ab­schie­ßen­den Göt­ter­vo­gels fin­den: Er »stürz­te mit pol­ni­schem Don­nern und deut­schen Geis­tes­blit­zen in sei­nen Hör­ap­pa­rat, am Abhör­or­gan der polnisch-russischen Big-Brother-Behörde UB vor­bei ent­zwei­te er ihn am Rück­grat zu einem aus­ein­an­der­ge­ris­se­nen Buch­rü­cken«. Die­ses wir­kungs­mäch­ti­ge Bild lässt ihn nicht mehr los, immer wie­der spürt er ihm nach, um zu begrei­fen, wie sich ihm in die­sem ein­zig­ar­ti­gen ­Augen­blick der Blick in die neue frem­de Welt weit öff­ne­te und er doch zugleich tief in der »schwar­zen Erde« ver­wur­zelt blieb.

Der Acht­jäh­ri­ge, auf sei­ner Erzähl­ebe­ne in der neu­tra­len drit­ten Per­son als »er« ein­ge­führt, nimmt mit fei­nem kind­li­chen Gespür die Absur­di­tät sei­ner Lebens­welt wahr: hei­mat­los zwi­schen Ost und West, zwi­schen der Resi­gna­ti­on im Kom­mu­nis­mus und den Ver­hei­ßun­gen des Kapi­ta­lis­mus, zwi­schen der rup­pig herz­li­chen Für­sor­ge sei­ner Groß­mutter und der man­geln­den Eltern­lie­be. Oft­mals hat er bereits im Fern­se­hen gebannt den Film Kreuz­rit­ter geschaut, mit­ge­fie­bert um die ver­lo­ren geglaub­te Schlacht bei Grun­wald, bis »mit Pau­ken und Trom­pe­ten und schwe­ren Gei­gen (und natür­lich Got­tes Hil­fe) durch eine List« die stol­zen deut­schen Ordens­rit­ter durch tap­fe­re pol­ni­sche Kämp­fer besiegt wur­den. Einen Kriegs­schau­platz ganz eige­ner Art bie­ten ihm die auf­ge­heiz­ten Tele­fo­na­te der Bab­cia mit sei­ner Mut­ter, die sie nur noch ver­ächt­lich »die Deut­sche« nennt. Schein­bar teil­nahms­los ver­folgt er, wäh­rend es um sein Wohl und Wehe geht, wie Wel­ten auf­ein­an­der­pral­len, Vor­wür­fe, Anschul­di­gun­gen und Gehäs­sig­kei­ten wie Geschos­se abge­feu­ert wer­den: ein Wort­ge­fecht ohne Sie­ger. Die Gesprä­che enden abrupt, und der Hörer hängt buch­stäb­lich in der Luft. 

Wenn Eltern und Sohn anläss­lich der Beer­di­gung der Groß­mutter nach lan­ger Zeit wie­der ein­mal zusam­men­tref­fen, offen­bart sich, dass die Zeit weder zwin­gend Wun­den hei­len muss oder zumin­dest not­dürf­tig eine Bezie­hung kit­ten kann. Die fami­liä­re Kom­mu­ni­ka­ti­on liegt brach wie sonst auch in Tele­fo­na­ten zwi­schen Bru­der und Schwes­ter. Den Eltern bleibt auch ver­bor­gen, was der Sohn jetzt als inne­re Befrie­dung erfah­ren hat: dass er nicht nur wegen des Begräb­nis­ses nach Polen gefah­ren ist, »son­dern auch um die ruhe­lo­se Suche die­ses Jun­gen nach dem rich­ti­gen Ort zu beenden«.

Sei­ne Geschich­te mün­det in ein thea­tra­lisch auf­ge­la­de­nes Schluss­bild, in dem auch der Fluch über jenes geheim­nis­vol­le pink­far­be­ne Auf­klä­rungs­buch (ein Geschenk an alle Frisch­ver­mähl­ten), das bereits im eigen­wil­li­gen Titel des Romans auf­taucht, gebannt wird. Einst hat­te es sei­ne Neu­gier­de und vor­pu­ber­tä­ren Trie­be erregt, aber auch die sei­ner hemds­är­me­li­gen Freun­de, die es ihm abluchs­ten. In kind­li­chem Schuld­be­wusst­sein glaub­te er für lan­ge Zeit, der Ver­lust die­ses Buches sei der wah­re Grund dafür, dass sei­ne Eltern ihn in Polen zurück­ge­las­sen hätten. 

Die Affä­re um das omi­nö­se pin­ke Hoch­zeits­buch ent­behrt eben­so wenig wie die poin­tier­ten Per­so­nen­be­schrei­bun­gen oder die Schil­de­rung eines bri­san­ten Besu­ches im Büro eines Geheim­dienst­lers nicht einer sub­ti­len Komik, die dem Roman bei aller Ernst­haf­tig­keit und der tief­ge­hen­den Refle­xi­on über poli­ti­sche Will­kür, mensch­li­che Ver­ant­wor­tung und kind­li­che Ver­letz­lich­keit durch­aus eine gewis­se Leich­tig­keit ver­leiht. Die Bio­gra­phie des Autors Prze­mek Zybow­ski, der, 1976 in Lodz gebo­ren, 1985 nach Deutsch­land aus­ge­reist ist und sich in Zürich als Psych­ia­ter nie­der­ge­las­sen hat – und über­dies für das Thea­ter schreibt und Erfah­run­gen mit Regie­ar­bei­ten gesam­melt hat –, ver­rät durch­aus eine Nähe zum Sujet sei­nes Erst­lings­ro­mans, die sich jedoch dem Leser kei­nes­wegs auf­drängt. Viel­mehr liegt hier eine aut­ar­ke, geschickt dis­po­nier­te und sprach­ge­wal­tig ent­wor­fe­ne Geschich­te vor, die gewiss ein loh­nen­des, glei­cher­ma­ßen gewinn­brin­gen­des wie unter­halt­sa­mes Lek­tü­re­er­leb­nis zu ver­mit­teln vermag.

Ursu­la Enke