Sabrina Janesch: Sibir
Berlin : Rowohlt, 2023
»Sibir«, »Sibirien« – Begriffe, die zu spontanen Assoziationen verleiten, Vorstellungen vom fernen, fremden Osten und dem entbehrungsreichen Leben dort wecken. Mit ihrem persönlichsten Buch wagt Sabrina Janesch einen Blick in diese Welt voller Geheimnisse, in welche ihr Vater 1945 mit Hunderttausenden deutscher Zivilisten von der Sowjetarmee verschleppt wurde. Die Verschränkung seiner Lebensgeschichte und ihrer eigenen versteht die Autorin, die in Frieden und Sicherheit in der niedersächsischen Provinz aufwuchs, als unausgesprochenen Auftrag, von ihren Vorfahren und deren wechselvollem Schicksal zu erzählen und zugleich das zu reflektieren, was als Weitergabe transgenerationaler Traumata bezeichnet wird. Dabei erweist Janesch sich als humorvolle Berichterstatterin, genaue Beobachterin und nicht zuletzt als liebevolle Tochter.
Zehn Jahre alt ist Josef Ambacher, als Soldaten der Roten Armee ihn zusammen mit der Mutter, dem kleinen Bruder, Großeltern und Großtante sowie unzähligen anderen Menschen aus dem Heimatdorf im Frühjahr 1945 in einen Zug verfrachten. Die großen Trecks sind längst fortgezogen, doch Josefs Großeltern können sich nicht entschließen, das Land zu verlassen – das Land, in das sie keine sechs Jahre zuvor gezogen waren. Die Familie hatte seit dem achtzehnten Jahrhundert in Galizien gelebt, wohin die aus dem Egerland stammenden Vorfahren, dem Ruf der österreichischen Kaiserin Maria Theresia folgend, als Siedler gekommen waren. Nach 1920 gehörte Galizien zu Polen, eine Zeit der Enteignungen und Schikanen begann. Die politischen Verhältnisse nach der Besetzung durch ukrainische Truppen im Jahr 1939 beförderten die Entscheidung, alles, was man sich aufgebaut hatte, aufzugeben und in den Westen zu ziehen. »Heim ins Reich« bedeutete allerdings nicht ins Egerland, sondern in das noch kurz zuvor polnische Wartheland, das die Nationalsozialisten als Siedlungsgebiet ausgewiesen hatten. Wie ein dunkler Schatten lag das Unrecht der Vertreibung der polnischen Bauern, deren Höfe die Galiziendeutschen übernahmen, über der Familie.
Die wechselhafte, österreichisch-deutsch-russische Geschichte interessiert jedoch in keiner Weise, als Soldaten der Roten Armee den Befehl umsetzen, alles, was deutsch ist, abzutransportieren. Nach qualvoller Fahrt, die nicht alle Menschen im Zug überleben, wird die bange Frage »Wohin?« durch die Gewissheit abgelöst, in der sibirischen Steppe gelandet zu sein. Der Neuanfang dort, wo niemand auf sie wartet, in der unendlichen Weite einer trostlos wirkenden Landschaft, ist mehr als schwierig und doch ohne Alternative. Überschattet wird er vom plötzlichen Verschwinden von Josefs Mutter, einer Tatsache, die er als Kind nicht akzeptieren kann. Noch monatelang sucht der Junge; die Mutter findet er nicht, die Fremde, die wenigen Menschen im Dorf, ihre merkwürdigen Rituale aber erschließt er sich so – und ihr Vokabular, ihre Wörter. Was mit dem unheimlichen Begriff »Sibir« begonnen hatte, weitet sich aus zu einem Wortschatz im ursprünglichen Sinne, einer Worternte, die Josef hilft zu überleben. Der Großvater als Tischler, die Großtante als Krankenschwester fügen den Begriff »Rabota« hinzu, sie sichern den Lebensunterhalt der kleiner gewordenen Familie und die Position innerhalb der Dorfgemeinschaft.
Erst im Laufe der Zeit wird dem Jungen klar, dass dieses Land, in dem er nun lebt, aber nicht zuhause ist, ebenfalls eine dramatische Vergangenheit hat: Unter sowjetischer Herrschaft waren die nomadisch lebenden Kasachen zur Sesshaftigkeit gezwungen und enteignet und in der Folge der stalinistischen Agrarpolitik Tausende in den Hungertod getrieben worden, zudem war die Viehzucht, seit Jahrhunderten Lebensgrundlage der Nomaden, in einen desolaten Zustand geraten. Die Haltung, mit der die Kasachen die unerbittliche Natur der Steppe, aber auch die russische Herrschaft ertragen, wird Josef bei der eigenen Suche nach Orientierung bedeutsam.
Man muss nur zu stur sein, um zu erfrieren, zu stur sein, um sich fortwehen zu lassen, zu vertrocknen wie ein Pappelblatt, man muss sturer sein als die Bolschewiken, dann überlebt man, das müssen sich die Deutschen von den Kasachen abschauen oder von ihren Kamelen,
rät der Großvater seinem Enkel.
Als 1955 die Interventionen des bundesdeutschen Kanzlers Adenauer bei der sowjetischen Führung zur Freilassung von Kriegsgefangenen führen, können auch Zivilverschleppte wie die Familie Ambacher in den Westen zurückkehren. Nicht nur für Josef, der sein altes Leben und erst vor kurzer Zeit geschlossene Freundschaften aufgeben muss, bedeutet dies einen schmerzhaften Neuanfang, zudem steht ihm auch eine Auseinandersetzung mit der Identität als Deutscher bevor. Aus dem Auffanglager Friedland geht es in ein vom Krieg nicht zerstörtes Städtchen am Rand der Heide.
Nichts an Mühlheide oder an Norddeutschland fühlte sich nach Heimat an. Sprach Josef Egerländisch, verstand ihn niemand, versuchte er sich an Hochdeutsch, verhaspelte er sich, rollte das »R« auf russische Art und geriet durcheinander. Alles an ihm verriet den Fremden: das kurz geschorene Haar, der unsichere Blick. […] Diese Welt, in die sie hineingeraten waren, schien ihm entsetzlich klein, die Menschen engstirnig, die Straßen schmal, die Heide ein Witz gegenüber der Steppe.
Jahrzehnte später erreichen Aussiedler aus der untergehenden Sowjetunion eben jenes Mühlheide, in dem die Ambachers sich einen bescheidenen Wohlstand erarbeitet haben. Aussiedler ausgerechnet aus Kasachstan, Russlanddeutsche, die als Bürger zweiter Klasse in der Sowjetunion in der zentralasiatischen Verbannung ausgeharrt hatten. Für Josef Ambacher ist es, als kennte er die Neuankömmlinge »von damals her«, und so wird er, der »Altsibirer«, zum Ansprechpartner derer, die nun ihrerseits sich einfinden müssen. Das Trauma der Konfrontation, sich einen Platz zu suchen und zu halten, verbindet alle in der Siedlung, ob sie nach hundertfünfzig Jahren an der Wolga nach Sibirien gekommen waren und nun in der Bundesrepublik neu anfangen oder nur ein einziges Jahrzehnt in der Steppe verbringen mussten. Neben einer gewissen »Östlichkeit« sind es die Sehnsucht nach Sicherheit bei gleichzeitiger Sorge, sich der örtlichen Gesellschaft dauerhaft anpassen zu müssen, sowie eine für die Folgegeneration, der die Erzählerin angehört, unverständliche Unbeständigkeit, die die Menschen ein Leben lang begleiten wird.
Am östlichen Stadtrand wohnten beinahe ausschließlich Menschen, die nicht lange an ein und demselben Ort sitzen bleiben konnten, unter Schlafstörungen litten oder Angst hatten vor Stimmengewirr, der Stille, der Erinnerung, Zügen, Kellern und dem Winter.
Der Vater, der alles erlebt, alles erlitten hatte, für alles und jeden Verständnis aufbringt, wird für die Tochter zum Vorbild, dem sie nachzueifern sucht, auch weil ein Hauch von Fremdheit und Geheimnis ihn umweht, so sehr er sich darum bemüht, die Geister der Vergangenheit nicht an die Oberfläche kommen zu lassen. Der Roman, in welchem die Lebensgeschichte des Josef Ambacher sich spiegelt in Erinnerungen und Erfahrungen der Tochter, erweist sich so als Ausdruck einer unausgesprochenen Pflicht der Nachgeborenen, das Vergangene nicht verloren gehen zu lassen, und es zugleich als Geschenk an alle zu bewahren, die lebenslang auf der Suche nach Heimat sind. Sabrina Janesch setzt diesen doppelten Erzählauftrag sprachgewandt, mit Leichtigkeit, Präzision und Humor um, so dass Sibir auch für diejenigen, die sich mit den zentralen Themen persönlich oder literarisch umfassend beschäftigt haben, ein großes Lesevergnügen bietet und neue inhaltliche Facetten erschließt.
Annegret Schröder