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In den Blick genommen

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt

Berlin: Suhrkamp, 2023

Seit dem Jahre 2000 veröf­fent­licht der Suhrkamp-Verlag regel­mäßig Werke des 1960 geborenen polni­schen Schrift­stellers Andrzej Stasiuk: Neben Reise­be­richten sowie scharf­sich­tigen Prosa­texten zu Politik und Gesell­schaft erschienen dort auch seine zahlreichen Romane und Erzäh­lungen. Allesamt erfuhren sie stets eine breite mediale Aufmerk­samkeit, und immer wieder wurde die Leistung von Renate Schmidgall, die die meisten seiner Bücher übersetzt hat, hervor­ge­hoben. Ihr ist es zu verdanken, dass nun der jüngste Roman – Grenz­fahrt – auch für die deutsche Leser­schaft zu einem eindrück­lichen Lektü­re­er­lebnis werden kann.

Das Roman­ge­schehen ist auf wenige Tage im Juni des Jahres 1941 fokus­siert und ereignet sich in einer kleinen dörflichen Ansiedlung am Grenz­fluss Bug im Nordosten Polens: noch liegen die deutschen und sowje­ti­schen Besatzer einander gemäß dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 gegenüber, die mörde­rische »Operation Barba­rossa« ist aber längst beschlossen und der Überfall durch die deutsche Wehrmacht steht unmit­telbar bevor.

Jahrzehnte später bereist ein namen­loser Ich-Erzähler dieses Gebiet, und er wird seine einge­henden Betrach­tungen der Gegend, in der sein Vater aufwuchs und er selbst als Kind gespielt hatte, spora­disch in den Handlungs­verlauf einblenden. Heute entdeckt er die von blühenden Holun­der­sträu­chern bedeckten Bunker wieder, die allmählich schief im sandigen Boden versinken und trotzdem noch präsent sind, und wohin er auch geht, sieht er ein von Erinne­rungen an Brand­stätten gezeich­netes Land, denn »überall waren die Schweden, Tataren, Russen, Deutschen, ›Anders­gläubige‹ und Kommu­nisten«. Magisch angezogen sucht er immer wieder über verborgene Schot­terwege, durch sumpfige Wiesen und Weiden­ge­büsch den Weg zum Ufer des idyllisch mäandernden schilf­be­wach­senen Bugs, den er sich einst in der Welt der kindlichen Fantasie »bei Sonnen­un­tergang wie eine Feuer­schlange um den Schlossberg« winden sah. 

Einer­seits von der Stille und den Natur­schön­heiten der Fluss­ebene berührt, fühlt er sich anderer­seits getrieben von dem Verlangen, endlich jenen verhäng­nis­vollen Ort auszu­machen, von dem aus die Deutschen am 22. Juni 1941 über eine Ponton­brücke in die Sowjet­union einmar­schiert waren. Vergeblich hatte er als Kind Antworten auf seine ahnungs­vollen Fragen nach den Ereig­nissen am Fluss erwartet, und auch die späteren Gespräche mit dem Vater blieben zunächst durch beharr­liches Verschweigen, dann durch die zuneh­mende Demenz unergiebig: »Er schritt über das dünne Eis seiner Erinnerung, und ich fürchtete, das Eis könnte brechen und er in Finsternis versinken.« 

Als sich der Vater auf den gemein­samen Fahrten auch zunehmend einer vorsich­tigen Spuren­suche verschließt, er vielmehr erstarrt dasitzt »wie eine Eidechse«, und nichts das Vergangene in ihm wachzu­rufen vermag, reift im Ich-Erzähler der Entschluss, sich auf das zu besinnen, was immer schon seine Sache war: das Erfinden. Und so malt er sich aus, wie es damals gewesen sein könnte, als sein Vater ein Kind war und an einem fried­lichen Sommer­morgen plötzlich ein donnerndes Geräusch die Erde erbeben ließ, in Staub­wolken gehüllte Fahrzeug­ko­lonnen auftauchten und sein Bruder beiläufig sagte: »Sie gehen auf den Iwan los!«

Dass eine nicht erzählte Lebens­ge­schichte eine quälende Leerstelle hinter­lassen kann, hat der Sohn erfahren. Er aber hat sich ihrer bemächtigt und lässt – seiner reichen Vorstellungs- und Beobach­tungsgabe folgend – in dem primären Handlungs­strang des Romans jene dem Vergessen anheim­ge­fal­lenen Junitage am Grenz­fluss Bug auf atembe­rau­bende Weise wieder aufleben. 

Die einfache Landbe­völ­kerung hat sich längst mit den einquar­tierten deutschen Soldaten arran­giert, und die großen Fragen der weltpo­li­ti­schen Lage dringen kaum in diesen abgele­genen Landstrich vor, das Alltäg­liche, Menschelnde rücken in den Vorder­grund. Folglich richtet der Autor seinen seismo­gra­phi­schen Blick auf die sehr unter­schied­lichen Charaktere, und deren Schicksale werden in höchster Dichte und Inten­sität durch­ge­staltet und verwoben. Die Atmosphäre dieser Tage ist spürbar aufge­laden, bisweilen lähmend, als wolle die Zeit stillstehen. 

Gleich zu Beginn des Romans wird der Leser unmit­telbar in die geheim­nis­volle nächt­liche Stimmung am Ufer des Bug hinein­ge­zogen, und er kann minutiös den Fährmann Lubko beobachten, der jedermann, der zahlt, unent­deckt über den Fluss bringt. Er sieht ihn lautlos in seinem Kahn dahin­gleiten, mit vorsich­tigem Ruder­schlag die tücki­schen Strömungen überwinden, sodann im schüt­zenden Schilf und Weiden­ge­strüpp verschwinden, während fluss­auf­wärts grüne Leucht­ra­keten den Himmel erhellen. Er ist stolz, niemals erwischt worden zu sein, und weiß zugleich von den unzäh­ligen Toten, die aufge­dunsen im Fluss treiben. Wenn er sein Boot in der Morgen­däm­merung verlassen hat, wird er auf die Besatzer treffen, er wird ihnen von den Fischen aus dem Netz geben und dafür seine Ration an Zigaretten, zuweilen auch Zucker oder die begehrte duftende Seife der Deutschen erhalten – ein alltäg­liches Geschäft in Kriegs­zeiten, nicht anders als die heimlichen Liebes­dienste der Bäuerin. 

Wie viele andere Flüch­tende harren auch zwei junge Menschen, jüdische Halbge­schwister aus wohlha­bendem Hause, nächtens am Ufer des rettenden Gewässers aus, angst­er­füllt, aber voller Hoffnung warten sie auf eine Nachricht des Fährmanns, denn nur mit seiner Hilfe dürfen sie weiter davon träumen, jemals Birobidschan, das autonome jüdische Gebiet im fernen Osten Russlands, zu erreichen.

Man roch den Fluss. Ganz in der Nähe wälzte er sich durchs Dunkel. Voller Schlamm und Fische. Während des Tages hatte er sich erhitzt und gab jetzt Wärme ab. Floss durch das dunkle Land. An den Ufern standen fremde Armeen und lauschten. […] Von der anderen Seite wehte ein warmer Wind. Fisch­geruch mischte sich mit dem Duft von gemähtem Heu. Die Stimme des Ziegen­melkers schwieg für eine Weile, um dann wieder ihr totes, hölzernes Rattern ertönen zu lassen. Nur das war zu hören.

Der Ruf des Todes­vogel, der die Seelen der Toten begleitet, wenn nicht gar entführt, erschreckt das Mädchen; mehrmals noch wird er die Stille der Nacht zerreißen und nicht nur für das Geschwis­terpaar von Unheil künden. Die Fürsorge und Innigkeit, die die beiden verbindet, ihre feingeis­tigen Gespräche – vor allem aber das heimlich aufkei­mende erotische Spüren und sinnliche Erfahren – finden Ausdruck in einer bemer­kenswert einfühl­samen, beinahe zärtlichen Sprache. Auf der ständigen Suche nach einem sicheren Versteck müssen die beiden zu ihrem großen Entsetzen unwil­lentlich Zeugen davon werden, wie eine im Dorf marodie­rende Parti­sa­nen­gruppe versucht, tölpelhaft und bestia­lisch ein Schwein zu schlachten. Der Autor erspart es dem Leser nicht, dieses zutiefst verstö­rende, hemmungslose Treiben ausführlich und in überbor­dender Drastik zu schildern. Und eine weitere Bluttat, die gnadenlose Hinrichtung eines vermeint­lichen Spions, der danach entblößt und aufge­spießt zur Schau gestellt wird, führt die außer Kontrolle geratende Gewalt erschre­ckend vor Augen.

Auf verhäng­nis­volle Weise wird das Bezie­hungs­ge­flecht der Schick­sals­ge­mein­schaft am Bug immer dichter und verwor­rener. Wut, Verzweiflung und Todes­ängste greifen um sich. Nachts stehen die Männer an den Fenstern, sie sehen, wie sich in der Kolonne von grauen Panzern der Mond spiegelte und schnüffeln »der Eisen­schlange hinterher, die einen Gestank aus Abgasen und Schmiere hinterließ, gemischt mit sandigem Staub, der noch lange über dem Dorf hängen« sollte. Und bald sieht man auf einer Erhebung am Waldesrand zwei Jungen stehen, die vor Angst und Erregung zittern, die spüren, »wie ein Schauer durch die Erde lief und das Donnern nahender Flugzeuge über den Himmel rollte«. Sie wollen sehen und hören, wie der Krieg beginnt – der Vater des Ich-Erzählers und sein Bruder, wie der Leser vermuten möchte.

Die Härte des Krieges sowie die Abgründe mensch­lichen Handels schonungslos – wenngleich ohne moralische Wertung – bildge­waltig zu schildern und zugleich Momente inniger Selbst­ver­ges­senheit und die vielfältige Wahrnehmung der unergründ­lichen Natur mit all unseren Sinnen in Worte zu fassen: Dieser faszi­nie­renden Kraft, die die von Andrzej Stasiuk sprach­künst­le­risch entworfene spannungs­volle histo­rische Konstel­lation des Jahres 1941 ausübt, dürfte sich kaum ein Leser zu entziehen vermögen. 

Ursula Enke