Zurück

Zur elektronischen Ausgabe

Zum Heft

Zur Rubrik

In den Blick genommen

Joachim Süss: Die entschlossene Generation – Kriegsenkel verändern Deutschland

Bis in die Gegenwart hinein wirkt das Erbe von national­sozia­listischer Diktatur, von Krieg, Flucht und Vertreibung nach ;  jenseits aller indivi­du­ellen Erfah­rungen sind Struk­turen und Wirkme­cha­nismen festzu­stellen, die zunächst mit Blick auf Kriegs­kinder, seit etwa der Jahrtau­send­wende verstärkt auf deren Nachkommen, die »Kriegs­enkel«, unter­sucht worden sind. Der Theologe Joachim Süss, Jahrgang 1961, liefert mit seiner 2017 erschie­nenen Monographie einen Beitrag zur aktuellen Diskussion. Er stellt Fragen nach Zusam­men­hängen und Zielen, indem er den Weg von Kriegs­enkeln beschreibt, und entfaltet Möglich­keiten, aus den Schatten von Vergan­genheit und Traumata herauszutreten.

Trauma­tische Erfah­rungen – dies wurde inzwi­schen mehrfach wissen­schaftlich nachge­wiesen – bewirken Verän­de­rungen im Erbgut, welche epige­ne­tisch an die folgende Generation weiter­ge­geben werden. Solche trans­ge­ne­ra­tionale Weitergabe und die Ausein­an­der­setzung mit tiefen­bio­gra­fi­schen Prägungen hält der Autor für das »Babyboomer­thema par excel­lence« ;  die heute 40- bis 60-Jährigen seien dieje­nigen, die das Thema gesetzt und gefördert hätten. Das Bedürfnis, in der Lebens­mitte Bilanz zu ziehen, spiele eine Rolle, mehr noch eine Art Spuren­suche, das Interesse, Leerstellen der eigenen Biografie und der Famili­en­ge­schichte zu füllen, verschwiegene Kapitel aufzu­klären. Dabei macht Joachim Süss verblüffend vergleichbare Befunde, ähnliche Antworten auf indivi­duelle Fragen bei diesen Forschungen am eigenen Leben aus.

Als »Kriegs­enkel« definiert er die unmit­tel­baren Nachkommen von Kriegs­kindern. Diese wiederum wurden alters­be­dingt tenden­ziell Opfer der damaligen Zeit, weil sie Gewalt, Hunger, dem Grauen von Bombar­die­rungen, Flucht und Vertreibung wenig entge­gen­zu­setzen hatten. Die Kriegs­enkel eigneten sich, da zu jung, den lautstarken Protest der 68er-Generation nicht an. Für sie sind weniger konkrete Fragen nach Verstri­ckungen in das Unrechts­regime der Natio­nal­so­zia­listen als unbewusste Reste der NS-Ideologie bedeutsam. Solche subti­leren Einfluss­fak­toren und Präge­kräfte seien weniger klar wahrzu­nehmen, so dass der Weg der Kriegs­enkel nicht auf die Straße, sondern nach innen führte.

Dass viele Kriegs­enkel ein Gefühl von Rastlo­sigkeit an sich erleben, getrieben sind, ohne je anzukommen, sich als nicht zugehörig fühlen, innere Distanz halten, Schwie­rig­keiten in der Berufs­findung hatten, nur unsichere Bezie­hungen führen können, sehr viele auf eigene Kinder verzichten, erläutert Süss mit den brüchigen Start­be­din­gungen dieser Generation. Die Margi­na­li­sierung der Erinnerung an das Leiden der deutschen Zivil­be­völ­kerung am Ende des Zweiten Weltkriegs und, in seiner Folge, millio­nen­fache Verdrängung, Nicht-Sprechen-Wollen der Erlebnis­generation wirkten hier weiter. Die von Süss als »Schar­nier­jahr­zehnt« bezeich­neten 1970er Jahre, in denen die Kriegs­enkel jung waren, wurden durch die neue Ostpo­litik Willy Brandts geprägt. Die Ausein­an­der­setzung mit dem Thema Natio­nal­so­zia­lismus rückte in den Hinter­grund, die Kriegs­folgen wurden faktisch akzep­tiert. Erinne­rungen, die vor allem von Vertrie­benen gepflegt wurden, wurden als »ewig gestrig« etiket­tiert, die Vorstellung gelun­gener Integration der Flücht­linge und Vertrie­benen galt als Konsens. Die Macht gesell­schaft­licher Tabus blockierte eine angemessene Wahrnehmung des Leids millio­nen­facher (Nach-)Kriegskindheitstraumatisierung. Bis heute sei keine wirksame Form der gesell­schaft­lichen Aufar­beitung dieses Leids gefunden worden, konsta­tiert Süss. »Nicht nur die Antworten fehlten, auch die Fragen wurden nicht gestellt.«

Inner­fa­mi­liärer Sprach­verlust und Sprach­ver­wei­gerung bedeu­teten für die Babyboomer, im »Nebel der Ahnungs­lo­sigkeit« zu leben und aufzu­wachsen. »Die Nebel­jahre entfal­teten in biogra­fi­scher Hinsicht eine fatale Wirkung, weil sie den Zugang zu den eigent­lichen prägenden biogra­fi­schen Faktoren verschlossen hatten, was vielen jungen Menschen zugleich den Zugang zu einer stabilen Existenz sehr erschwerte.« Das Gefühl, nicht im eigenen Leben behei­matet zu sein, resul­tiere aus der als lebens­feindlich wahrge­nom­menen Realität in den Eltern­häusern, aus der Enge der bürger­lichen Klein­fa­milie und aus der Ablehnung von elter­lichen Werten und Orien­tie­rungen, welche häufig als bigott empfunden wurden. Während von der Eltern­ge­neration »Norma­lität um jeden Preis« angestrebt wurde, konnten die Kinder und Heran­wach­senden in der Spannung zwischen dem Bedürfnis nach Sicherheit einer­seits und Freiheit des eigenen Wegs anderer­seits kein tragfä­higes Lebens­fundament entwickeln.

Die lange im »Nebel« verbor­genen Formkräfte der vorhe­rigen Generation bezeichnet Süss als »missing link«, der Erklä­rungen für die subjektiv unbefrie­di­gende, unvoll­ständige Lebens­si­tuation bietet. »Viele Kriegskinder-Eltern vermochten ihre Kinder nicht zu fördern und zu stärken, weil sie ihre Kraft dafür einsetzen mussten, das eigene Leben nach einer trauma­ti­schen Erfahrung zusammen­zuhalten.« Die Wirkungen von persön­lichen Belas­tungen und schick­sal­haften Erfah­rungen machen sich als »Trauma­schatten« im Leben der Nachkommen bemerkbar. Mit dieser Erkenntnis jedoch kann der Weg von Selbst­klärung und Entlastung beschritten werden. »Sich nicht mehr die Verant­wortung aufbürden lassen für Dinge, die andere zu verant­worten haben und für die man selbst nichts, aber auch gar nichts kann, […] das bringt echte Verant­wortung mit sich, und zwar für das, was leistbar und bearbeitbar ist.«

Die Erkenntnis des Trauma­schattens kann so Höhepunkt und Krisis der Kriegsenkel-Erfahrung sein. Süss ist sicher, dass es verändert und stärkt, damit heilend und zukunfts­weisend wirkt, zur »Helden­reise« in die Abgründe einer furcht­baren Zeit wie in das eigene familiäre Unterbewusst­sein aufzu­brechen und diesen Weg entschlossen sowie beharrlich durchzustehen.

Solch positive Perspektive wird in Titel und Unter­titel des Buches angedeutet, doch schwer­punkt­mäßig stellt Joachim Süss das Lebens­gefühl der gebur­ten­starken Jahrgänge dar, Beschreibung von Weg und Ausblick fallen dagegen eher knapp aus. Anders als z. B. in Inter­net­foren wie »forumkriegsenkel.de« werden keine identifikations­stiftenden Einzel­schicksale gezeigt, auch liegt der Fokus nicht auf wissen­schaft­lichen Erkennt­nissen, vielmehr geht es dem Autor darum, generell Kraft und Stärke einer Generation aufzu­zeigen, die aus den Schatten der Vergan­genheit heraus­tritt. Als Leser hätte man sich freilich gewünscht, dass durch eine straffere Argumentations­führung Raum für die ausführ­li­chere und vertie­fende Diskussion dieses eigent­lichen Themas gewonnen worden wäre.

Annegret Schröder