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In den Blick genommen

Gabriele Engelbert: Wege zum Großvater – Mehr als ein Reisebericht. Rautenberg, Würzburg 2018

„Ostpreußen war immer unerreichbar weit weg gewesen“ – die vier Geschwister, die sich auf eine Reise in die Vergan­genheit begeben, haben keine eigenen Erinne­rungen an die Heimat der Großeltern und des Vaters. Ihre gemeinsame Erkun­dungs­fahrt wird zu einer Spuren­suche durch West- und Ostpreußen, zum Sammeln von Mosaik­steinen, begleitet von vielen Fragen.

Anschaulich schildert die Journa­listin Gabriele Engelbert nicht nur Begeben­heiten und Begeg­nungen am Wegesrand, sondern vermittelt durch das Einfügen von Texten aus alten Dokumenten und Chroniken einen leben­digen Eindruck der familiären Protago­nisten, auch wenn diese längst verstorben sind. Da nicht wenige der Vorfahren als Lehrer und Pfarrer tätig gewesen sind, verfügt die Familie über ungewöhnlich viel schrift­liches Material, das die Reisenden begleitet und von der Autorin in Wege zum Großvater zu einem harmo­ni­schen und detail­reichen Ganzen zusam­men­ge­stellt worden ist. Zahlreiche stimmungs­volle Fotografien ergänzen die sehr persön­lichen Berichte.

Erste Station der Fahrt in die Vergan­genheit ist Westpreußen, Schloss Peterhof bei Graudenz, Geburtsort der Urgroß­mutter. Hier traf sich die Familie, um unver­gess­liche, endlos erschei­nende Sommer­ferien zu erleben und Feste zu feiern. Der zunächst in Königsberg als Schul­rektor wirkende Urgroß­vater wechselte später nach Osterode, wo er 33 Jahre lang tätig war und ein Stück Stadt­ge­schichte prägte. Dass die Geschwister seine Schule, das „Lyceum“, entdecken, bedeutet eine erste Freude auf dem Weg ins Unbekannte. Die weiteren Reise­ein­drücke, das gleich­zeitige Erkunden Gegenwarts-Ostpreußens und der familiären Vergan­genheit, fordern die Geschwis­ter­gruppe vielfach heraus, denn ihre Vorstel­lungen und Gefühle, Theorien aus Erzähltem und Gelesenem stoßen mit unerwar­teten Wirklich­keiten zusammen. Vor allem im russi­schen Teil Ostpreußens versuchen die westdeut­schen Besucher nicht nur „zu begreifen, dass wir tatsächlich hier sind“, hier gilt es, das Neben­ein­ander von das Herz anrüh­renden Spuren deutscher Vergan­genheit und einer nüchternen Realität zu bestaunen und auszu­halten. Verwil­derte, öde Flächen, zerfallene Gebäude und Neubau­ruinen neben wenig „gemütlich“ wirkenden Wohnhäusern, die aber mit bunten Blumen­stöcken verziert sind, irritieren in ihren Kontrasten und bieten Anlässe zum Nachdenken und Fragen. Ist es eine Form von Perspek­tiv­lo­sigkeit, in welcher die Menschen sich nur provi­so­risch einzu­richten scheinen, oder mangelnder Aufbau­wille ?  Ob sich die neuen Bewohner Ostpreußens hier (noch immer) nicht zuhause fühlen ?  Vor der Folie westdeut­scher Maßstäbe und Vorstel­lungen kommen den Geschwistern die Verhält­nisse der Einhei­mi­schen depri­mierend und trostlos vor. Dann wieder beein­drucken Landschaften mit teilweise märchen­haftem Charakter und unberührt erschei­nender Natur, in denen man sich weit weg von Alltag und Zivili­sation, „am Ende der Welt eben“ fühlen kann.

Das neue Kaliningrad, „eine Metropole mit eigen­ar­tigen Wesens­zügen“, wirkt schnell­lebig, laut und lebhaft, an anderen Stellen so, „als wäre der Krieg erst wenige Tage her“. In den Augen der Besucher bietet die Stadt kein einheit­liches Bild, sondern ein sehr zwiespäl­tiges, beunru­higend zerris­senes. „Immer wieder bleiben wir stehen, holen staunend Luft, versuchen dieser Stadt gefühls­mäßig näher zu kommen. Es gelingt nicht. […] Diese neue Haupt­stadt ist nicht die alte.“ Es sind nicht nur die europäi­schen Standards, die – trotz an mancher Stelle erkenn­baren Bemühens – fehlen, vor allem vermissen die Geschwister Beschau­lichkeit, Gemüt­lichkeit – und Schönheit. „Kriege zerstören nicht nur Menschen­leben“, erkennen sie angesichts dieses Kalinin­grads. Das neue Ostpreußen gehört weder zu Deutschland noch zu Europa, und vor allem im Vergleich mit dem offeneren, freieren Polen wird den Besuchern deutlich, dass die Russen neben den wirtschaft­lichen und gesell­schaft­lichen Folgen herme­ti­scher Abrie­gelung und Abschirmung noch immer als Riesenlast überall spürbare deutsche Vergan­genheit zu tragen haben.

„Der Korb gemein­samer Erleb­nisse ist voll“, bilan­ziert Gabriele Engelbert die einzig­artige (Zeit-)Reise, welche die Vorfahren hat näher­rücken lassen, fast so, als wäre von den Altvor­deren jemand dabei gewesen. Gemeinsame Wege und Erkennt­nisse, das tiefe Eintauchen in die Geschichte der Familie und zugleich das Kennen­lernen der west- und ostpreu­ßi­schen Gegenwart haben die Geschwister zusam­men­ge­schweißt und neue Verbun­denheit geprägt. „Was haben wir es doch in unserem Leben gut gehabt ohne Krieg, ohne Hunger oder Flucht“, betonen die Besucher aus Westdeutschland während ihrer Reise und in ihrem Fazit.

Neben der sensiblen Heran­ge­hens­weise der ­Autorin, ihren anschau­lichen Schil­de­rungen und zahlreichen großar­tigen Fotografien ist es dieser persön­liche Blick, an dem Gabriele Engelbert die Leser teilhaben lässt, der die Lektüre lohnend macht – auch für Menschen ohne ostpreu­ßi­sches Erbe. Schade ist nur, dass dem Band keine Karte beigefügt worden ist, die den Reiseweg der Geschwister hätte nachvoll­ziehen lassen. Doch die Wege zum Großvater bieten – wie im Unter­titel avisiert – mehr als einen Reise­be­richt :  Ein vielfäl­tiges und zugleich stimmiges Puzzle aus Eindrücken der Famili­en­ge­schichte, Begeg­nungen und Gesprächen, Anregungen, Fragen und Refle­xionen. Und der Band motiviert, selber Erkun­dungen anzustellen, persön­liche Anknüp­fungs­punkte zu suchen und zu finden, eine indivi­duelle Erleb­nis­fahrt zu wagen und wie Gabriele Engelbert und ihre Geschwister den eigenen Horizont zu weiten. 

Annegret Schröder