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In den Blick genommen

„Heimwehland. Flucht – Vertreibung – Erinnerung“. Ein literarisches Lesebuch, herausgegeben von Axel Dornemann, Olms Hildesheim 2018

Auf mehr als 700 Seiten findet sich in der 2018 erschie­nenen Antho­logie mit dem program­ma­ti­schen Titel Heimwehland eine reprä­sen­tative ­Sammlung von Erzäh­lungen, Roman­aus­zügen und anderen Prosa­texten, Essays, Gedichten und Liedtexten – eine facet­ten­reiche Fundgrube und eine umfas­sende Gesamt­schau der deutschen Nachkriegs­li­te­ratur zum Thema Heimat und Heimat­verlust. „Heimwehland“, so der Heraus­geber Axel Dornemann zur Titelwahl, „steht für alles, was nicht mehr greifbar, nicht mehr wirklich ist und uns doch dauerhaft emotional einnimmt.“

Zu Themen­be­reichen wie Flucht und Vertreibung, Ost-westlicher Bevöl­ke­rungs­aus­tausch, Neuanfang als Flüchtling, Vererbte Traumata und Erinnerung und Versöhnung sind Texte aus sieben Jahrzehnten zusam­men­ge­tragen worden, angeordnet nach dem jewei­ligen Jahr des Erscheinens, ergänzt durch einen sorgfältig erstellten Anmer­kungsteil mit biblio­gra­fi­schen und biogra­fi­schen Grund­in­for­ma­tionen sowie Lektüre­hin­weisen für die Leser.

Die Liste der in der Antho­logie vertre­tenen Autoren umfasst renom­mierte Namen wie Walter Kempowski, Horst Bienek, Christa Wolf, Peter Härtling, Christine Brückner, Siegfried Lenz, Arno Surminski und Günter Grass. Aus der nachfol­genden Generation sind u. a. der 1957 geborene Danziger Schrift­steller Paweł Huelle, der gleich­altrige Lieder­macher Heinz Rudolf Kunze, schle­si­scher Abstammung, Ulrike Draesner mit einem Auszug aus Sieben Sprünge vom Rand der Welt (s. auch In den Blick genommen DW Nr. 1/2018), Sabrina Janesch – beide ­Autorinnen ebenfalls aus schle­si­schen Familien stammend – und Tanja Dückers, mit westpreu­ßi­schen Vorfahren, vertreten.

Sehr lohnend sind vor allem die Texte weniger bekannter ­Autoren zu Flucht und Vertreibung. Die Sozio­login Elisabeth Pfeil setzte sich bereits 1948 mit dem Aufbruch aus der Heimat ausein­ander, mit Unaus­weich­lichkeit und Unwider­ruf­lichkeit des Fortgangs, die gleichwohl kaum einer der Betrof­fenen glauben und begreifen konnte. Pfeils Text besticht durch seine Unmit­tel­barkeit und eröffnet in eindring­lichen Worten Einblicke in das Seelen­leben von Flücht­lingen und Vertrie­benen. Auch die authen­ti­schen, zugleich litera­risch ausge­reiften und fesselnden Tagebuch­auf­zeich­nungen der aus Oberschlesien stammenden Schrift­stel­lerin Ruth Storm aus dem Juni 1946 sind ein ebenso wichtiges wie ergrei­fendes Zeitzeugnis. Die gebürtige Ostpreußin Helga Lippelt thema­ti­siert in ihrer großar­tigen Kurzge­schichte Der Aufenthalt eine drama­tische Episode der unfrei­wil­ligen Zugfahrt von Osten nach Westen. Jörg Bernig und Reinhard Jirgl sind mit Texten zur brutalen Vertreibung der Sudeten­deut­schen vertreten, Theodor Buhl erzählt aus der Perspektive eines achtjäh­rigen Jungen von Flucht, Rückkehr in die schle­sische Heimat und endgül­tiger Ausweisung durch die neuen polni­schen Herrscher – was dem Kind zunächst wie ein Abenteuer aus seinen Karl-May-Büchern erscheint, erweist sich als bitter­ernste Realität, die alle Fiktion übertrifft :  „Das war alles bloß hinge­schrieben“, bilan­ziert der Achtjährige enttäuscht und ärgert sich, den kostbaren Platz im Flucht­gepäck mit den einst heiß geliebten Bänden verschwendet zu haben.

Der Abschnitt Unsere Sprache ist hier nicht mehr zuhause widmet sich der spannungs­ge­la­denen Übergangszeit des ost-westlichen Bevöl­ke­rungs­transfers, in der Deutsche und die neuen Siedler in den ehemals deutschen Ostpro­vinzen aufein­ander trafen. In diesem Teil der Antho­logie sind neben dem anschau­lichen Erleb­nis­be­richt der Schle­sierin Dagmar von Mutius ein erstmals ins Deutsche übersetzter Text des polni­schen Publi­zisten Henryk Worcell aus dem Jahr 1945 und eine Kurzge­schichte von Paweł ­Huelle zu finden, die aus Sicht der polni­schen Neubürger die Proble­matik des verhassten, zwangs­weise verord­neten Neuan­fangs schildern. Auch die eindrucks­volle Moment­auf­nahme der tsche­chi­schen Autorin Jakuba Katalpa und der Rückblick der polyglotten Schrift­stel­lerin Joana Bator, geboren 1968 in Waldenburg (Walbrzych), setzen sich mit der Schwie­rigkeit ausein­ander, Wurzeln in der „wieder­ge­won­nenen“ Heimat zu fassen und den Schatten der Vergan­genheit zu entkommen.

Die zumindest anfäng­liche Abwehr­haltung der aufneh­menden westdeut­schen Bevöl­kerung gegenüber den aus dem Osten kommenden Flücht­lingen und Vertrie­benen nimmt in der deutschen Nachkriegs­li­te­ratur breiten Raum ein und wird entspre­chend in der Antho­logie gewürdigt. Heraus­geber Dornemann verweist in seiner Einführung zu diesem Abschnitt des Lesebuchs darauf, nicht nur die desolate Situation der Flücht­linge zu betrachten, denn es sei zu berück­sich­tigen, dass die westdeutsche Bevöl­kerung auf die gefürch­teten Zwangs­ein­wei­sungen nicht vorbe­reitet und das Bewusstsein, Lands­leuten zu helfen, unter­ent­wi­ckelt waren. Die für die Ohren der Einhei­mi­schen unbekannten und unver­ständ­lichen Mundarten der Ostdeut­schen verstärkten Vorbe­halte und abweisend-reservierte Reaktionen. Nach anfäng­licher, spontaner Hilfs­be­reit­schaft prägten Ablehnung, Verachtung und Ausgrenzung mehrheitlich die „Willkom­mens­kultur“ der aufneh­menden Gesell­schaft – sie ist mit dem von Andreas Kossert einge­führten Begriff „Kalte Heimat“ treffend beschrieben und durch litera­rische Trauer­arbeit vielfach bestätigt worden. Neben Christine Brückner mit einem Auszug aus Nirgendwo ist Poenichen und Peter Härtling mit einem Text über Neusiedler im Schwä­bi­schen sind Anna Seghers und Ursula Höntsch als Vertre­te­rinnen der DDR-Literatur zu finden, die, dem offizi­ellen Sprach­ge­brauch folgend, verharm­losend von „Umsiedlung“ schrieben. Höntschs Roman Wir Flücht­lings­kinder kam 1985 bei seinem Erscheinen im Mittel­deut­schen Verlag Halle /Saale gleichwohl einer Sensation gleich, nicht nur wegen der Verwendung politisch unkor­rekter Begriffe und offen gezeigter Emotionen. Die litera­tur­po­li­tische Provo­kation bestand vor allem darin, dass die wichtigste Protago­nistin ausschließlich in schle­si­scher Mundart spricht.

Wie es nach Flucht und Vertreibung weiter­gehen konnte, wie sich die erlit­tenen Traumata auswirkten und wie sie schließlich die nächste(n) Generation(en) infizierten, ist in zahlreichen Texten lange vor den aktuellen sozial­psy­cho­lo­gi­schen Forschungen, die solches Weiter­wirken unter­suchen, thema­ti­siert worden. Die promi­nenten Autoren Heinz Piontek, Siegfried Lenz, mit Schwierige Trauer – Eine Grabrede auf Henry Smolka aus dem Jahr 1960, und Christoph Hein sowie aus der Nachfol­ge­ge­neration Hans-Ulrich Treichel und Tanja Dückers kommen in dem Abschnitt Schweres Erbe zu Wort. Sensibel erzählen sie von den Schwie­rig­keiten sich einzu­ge­wöhnen und der Unmög­lichkeit, einen Schluss­strich zu ziehen, vor allem aber davon, dass in den Familien das Bewusstsein lebte, es fehle etwas, ohne dass dies benannt worden sei. Auch als die äußeren Verhält­nisse sich für die Neuan­kömm­linge besserten, Notun­ter­künfte aufge­geben und eigene Häuser bezogen werden konnten, blieb das Gefühl von Unbehaustheit und Flüch­tigkeit – und wurde wortlos an Kinder und Enkel weiter­ge­geben. Der zwölf Jahre nach Kriegsende in einem Flücht­lings­lager für Spätaus­siedler geborene Lieder­macher Heinz Rudolf Kunze findet in seinem Song Vertrie­bener von 1985 prägnante Worte dafür :  „Ich war immer unterwegs, ohne Grund und ohne Boden, mein Geschäft ist Überleben […] Schlesien war nie mein, ich werd überall begraben sein. […] Ich bin auch ein Vertrie­bener, nirgendwo Geblie­bener. Zuhause ist, wo man mich hört.“

Dieser Liedtext beschließt den Abschnitt Fremd bin ich / will ich bleiben, in welchem die Leitmotive Heimat­verlust und Neuanfang mit weniger bekannten Texten lyrischen Charakters variiert werden. Getrud von le Fort mahnt solida­ri­schen Umgang mit den Opfern der Vertreibung an, Agnes Miegel erzählt vom Flüchtling aus einem dänischen Lager, Horst Bienek und Peter Härtling thema­ti­sieren den Exodus von Deutschland nach Deutschland. Heinz Piontek erinnert mit seinen Memoiren an die Klangwelt unter­ge­gan­gener Namen und Bezeich­nungen, der russische Litera­tur­no­bel­preis­träger Joseph Brodsky beschreibt die Verwandlung des ehemals leben­digen Königsberg in eine tote militä­rische Sperrzone, Jenny Schon gedenkt der Opfer des Todes­mar­sches von Brünn 1945. Bei aller melan­cho­li­schen Trauer über das Erlittene und Verlorene scheint in Gedichten und Balladen immer wieder eine Spur von Hoffnung auf, von Zuver­sicht und Überwindung alter Denkmuster.

Versöhnung schließlich ist das zentrale Thema im Kapitel Zu Gast in der alten Heimat. Ist die Konfron­tation mit dem unwie­der­bring­lichen Verlust bei einem Besuch in der früheren Heimat immer mit großer seeli­scher Anspannung verbunden, mit emotio­naler Erschüt­terung, trifft dies noch mehr auf die Begegnung mit den neuen Bewohnern der einstmals eigenen Häuser zu. Die Fahrten in die Vergan­genheit spiegeln dabei auch die politi­schen Verhält­nisse und unbegli­chenen Rechnungen zwischen den Nationen wider. Doch gerade in der Literatur wurden schon früh Signale der Versöhnung ausge­sandt, stehen gegen­sei­tiges Verständnis und gedank­liche Rückbe­sinnung neben­ein­ander, wie in Texten von Günter Grass, Arno Surminski und Annemarie Weber.

In seinen Nachbe­mer­kungen resümiert der Heraus­geber, Befürch­tungen, Flucht und Vertreibung könnten litera­risch in Verges­senheit geraten, seien unbegründet. Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhun­derts ist und bleibt ein zentrales Thema der Literatur. So unter­schied­liche Neuerschei­nungen wie Bernhard Schlinks Olga und Hans Pleschinkis Wiesen­stein, die letzten eineinhalb Lebens­jahre des Litera­tur­no­bel­preis­trägers Gerhart Hauptmann in der Apoka­lypse des Unter­gangs Schle­siens darstellend, sind nur zwei der aktuellen Beispiele. Wie lohnend die Ausein­an­der­setzung mit Texten aus allen Phasen deutscher Nachkriegs­ge­schichte sein kann, zeigt die großartige Antho­logie Heimwehland. Bekanntes und Überra­schendes ist in ihr zu finden, Nachdenk­liches, Bestür­zendes und Unver­gess­liches. Im besten Sinne ist dies ein Lesebuch, in dem man immer wieder blättern und sich festlesen möchte, das zu Erinnerung und Reflexion einlädt und zugleich neue Perspek­tiven aufzeigt. Der Fachbe­reich für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhundert an der Techni­schen Univer­sität Chemnitz ermög­lichte die technische und konzep­tio­nelle Umsetzung des Werkes, die Beauf­tragte der Bundes­re­gierung für Kultur und Medien eine großzügige finan­zielle Förderung. Vor allem ist jedoch Dr. Axel Dornemann für die jahrzehn­te­lange Arbeit zu danken, ohne die diese wertvolle Antho­logie nicht hätte erscheinen können.

Annegret Schröder