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In den Blick genommen

Iris Wolff: Lichtungen

Stuttgart: Klett-Cotta, 2024

Die Schrift­stel­lerin Iris Wolf, 1977 in Hermann­stadt geboren und aufge­wachsen im Banat und in Sieben­bürgen, ist bereits im Kindes­alter mit ihrer Familie in die Bundes­re­publik ausge­wandert. In ihren Werken, die seit 2012 viel Beachtung und hohe Anerkennung erfahren haben, wendet sie sich mit suchendem Blick immer wieder dem Heimatland ihrer Vorfahren zu, beschreibt und verknüpft fiktive Lebenswege derer, die geblieben, und derer, die gegangen sind, sinniert über die Macht der Erinnerung, über Verluste und die Gabe des Loslassen-Könnens. Als einfühlsame, aufmerksame Beobach­terin zeichnet Iris Wolf in ihrem neuesten Roman Lichtungen die Lebens­spuren des jungen Mannes Lev und dessen ambiva­lente Beziehung zu seiner Jugend­freundin Kato nach. Dabei geben die vielfachen sprach­lichen Schat­tierung und feinen Abtönungen den Lesern einen deutlichen Hinweis darauf, dass sich die Autorin künst­le­risch auch der Malerei verschrieben hat.

Das Unglück von Tscher­nobyl, nach dem sich die Menschen an den Anblick missge­bil­deter Tiere wie den der »Kuh mit farblosem Fell, deren Vorder­beine zu kurz geraten waren,« gewöhnt hatten, prägt das Leben an der Iza im Norden Rumäniens ebenso wie die Diktatur Nicolae Ceaușescus: »Lieber Gott, mach, dass wir die Pässe bekommen – war, unter den Deutschen im Land, eines der häufigsten Gebete dieser Zeit.« Sechs Jahre hat Levs Großvater Ferry vergeblich auf seine Ausrei­se­pa­piere gewartet, bevor der Enkel ihm zur gefähr­lichen Flucht in den Westen verhilft. Dass ihm späterhin seine Tochter mit ihren Söhnen nicht folgen will, kann und will Ferry nicht verstehen. Sie werden bleiben, müssen hinnehmen, dass es in ihrem Dorf zunehmend verlassene Häuser und verwaiste Gärten gibt, dass Gemein­de­häuser leer stehen und Kirchen verfallen, »dass ein jeder den anderen ansah mit diesem Blick: Gehst auch du?« 

Das Roman­ge­schehen erstreckt sich bis in die Gegenwart: Kato und Lev finden nach Jahren der Trennung  wieder zuein­ander. – »Wann kommst du?«, schreibt Kato auf eine Postkarte an Lev. Vor fünf Jahren war sie unver­mittelt auf dem Rad mit einem fremden Welten­bummler in den Westen aufge­brochen, inzwi­schen verdient sie sich als höchst talen­tierte Straßen­ma­lerin in Zürich ihren Lebens­un­terhalt. Lev reist in die Schweiz; stets trägt er den Schlüssel zu Katos Wohnung gleich einem Treue­schwur und Hoffnungs­zeichen bei sich. Mit dem Wieder­sehen und einer vagen Perspektive für ihre Beziehung endet die erzählte Geschichte – zugleich aber setzt hier Iris Wolff mit ihrem Roman ein, und sie wird nun rückschreitend Lebens­sta­tionen ihres Protago­nisten aufsuchen, so dass konse­quen­ter­weise das erste Kapitel als Nummer »neun« gezählt wird; es korre­spon­diert mit dem letzten, dem Kapitel »eins«, in dem sich Levs Vater, kurz bevor er bei der Arbeit tödlich verun­glückt, per Handschlag eindringlich von seinem kleinen Sohn verab­schiedet: »Du kannst jetzt loslassen.« Mit diesen bedeu­tungs­vollen Worten schließt der Roman; seine beiden schmalen Rahmen­ka­pitel markieren gleicher­maßen inhaltlich wie formal Anfang und Ende zugleich.

Jedem der neun Kapitel ist als Motto ein eigenes hinter­sin­niges Zitat voran­ge­stellt – aus Dichtungen oder Songs, aus einem Kinderreim oder der Bibel. Zu Beginn wählt die Autorin die mündliche Einlei­tungs­formel der Roma-Märchen, sie lautet: »Es war, und es war nicht.« Damit schlägt sie den Ton an, der den gesamten Roman durchweht, in dem manches unerschlossen und in der Schwebe bleibt, Verbor­genes sein darf, Figuren offen gehalten werden, nichts ins grelle Licht gezogen wird. 

Bei der Frage nach der natio­nalen Zugehö­rigkeit – exempla­risch auch in einem Disput über den Dichter Nikolaus Lenau durch­ge­spielt – wider­setzt sich Lev einer Zuordnung entschieden, denn er sei eine Mischung aus allem, der siebenbürgisch-sächsischen Mutter, einem rumäni­schen Vater und dem Großvater, der sich auf seine öster­rei­chi­schen Wurzeln beruft, und ebenso wenig will sich der protes­tan­tisch getaufte Lev dem ortho­doxen noch dem ruthe­ni­schen Glauben verschließen. Längst aber hat Lev in seiner Welt der Ungewiss­heiten für sich einen geradezu heiligen Sehnsuchtsort gefunden: den Wald. Dort lernt er als Arbeiter mancherlei Bedro­hungen kennen, erfährt aber darüber hinaus, wie nahe Leben und Sterben neben­ein­an­der­liegen: wenn der dunkle innere Teil eines Baumstammes zwar tot ist, aber das tote Holz das Lebendige trägt. Mit all seinen Sinnen vermag er »die Stille, die keine Stille war«, wahrzu­nehmen, »Vögel, Murmel­ge­räusch der Blätter, Wind in den Tannen«. Bäume werden ihm zu Freunden; der Pinien­zapfen, zur Erinnerung in der Hosen­tasche bewahrt, schenkt ihm Halt. 

Einen Wald betreten war wie in eine Kirche gehen. Das Gefühl für die Zeit verlor sich, Zugehö­rig­keiten verschoben sich, Der Wald war innen, alles andere außen. […] irgendwo jenseits dieses Waldes, in einer unwirk­lichen, nahezu bedeu­tungs­losen Welt.

In vielen Lebens­be­reichen aber bleibt Lev ein Suchender und dies charak­te­ri­siert in beson­derer, bisweilen fast tragi­scher Weise seine Verbindung zu Kato – ist es Kamerad­schaft, Freund­schaft, Liebe?

Zunächst packen Lev grenzen­loses Entsetzen und Argwohn, als seine Mitschü­lerin Kato – verwahrlost, mit einem »heraus­for­dernden, überlegen-distanzierten Blick« und einem »Lachen, das nur am Rande ins Fröhliche spielte« – von der Lehrerin an sein Krankenbett beordert wird. Regel­mäßig soll sie ihm den anfal­lenden Lernstoff vermitteln: Er ist durch ein trauma­ti­sie­rendes, stets als »Unfall« verne­beltes Ereignis gelähmt, dessen Geheimnis erst im vorletzten, sprich dem zweiten Kapitel des Romans gelüftet wird, und kann auf lange Zeit das Haus nicht verlassen. Erst ganz allmählich verdrängt eine wachsende Faszi­nation seine Abneigung. Jüngst noch glaubte er, dass das sonderbare Mädchen streng muffig riechen müsse, nun aber nahm er »einen Geruch von Milch wahr, und etwas Schwe­bendes, Leichtes, wie an einem klaren Morgen«. Zaghaft entsteht Vertrauen, Zeichen der Zuneigung werden geschenkt, Nähe gesucht, irgendwann sogar Zärtlich­keiten gewagt. Allein eine wirkmächtige Gegen­kraft, gespeist aus der Erkenntnis, dass nicht nur die Kunst, sondern auch das Leben ein Spiel zwischen Zeigen und Verbergen sei, wird ihnen zum Hemmnis: Weder Lev noch Kato halten eine bedin­gungslose emotionale Hinwendung zuein­ander aus; es bleiben Vorsicht, Zweifel, Flucht­be­wegung, Verlet­zungen, Schweigen – ein jahrzehn­te­langer Schwebezustand. 

In allem gab es diese Dunkelheit, wo die Erfahrung aufhörte und die Erinnerung anfing. Etwas blieb, und etwas ging verloren, manches schon im Augen­blick des Geschehens, und wie sehr man sich auch bemühte, es tauchte nie wieder auf. Erinne­rungen waren über die Zeit verstreut wie Lichtungen. Man begegnete ihnen nur zufällig und wusste nie, was man darin fand.

Ein flirrendes, verzau­berndes Licht, wie es in die Tiefe und Ruhe eines dunklen Waldes einzu­fallen vermag, durch­dringt den ganzen Roman von Iris Wolff und verleiht ihm seine besondere Schönheit und Würde. Selbst dort, wo der Ton hätte rau werden können, unter den Waldar­beitern, beim Militär, bei Missver­ständ­nissen, angesichts des Todes, erhebt die Erzäh­lerin ihre Stimme nicht. Sie bleibt leise, und auf das Wesent­liche konzen­triert begleitet sie behutsam ihren hoch sensiblen, reflek­tie­renden Protago­nisten Lev – und Kato, seinen Widerpart – von »Lichtung« zu »Lichtung«. 

Auf die Frage, was ihren Roman ausmache, hat Iris Wolff knapp geant­wortet: »Die wichtigste Zutat ist Stille.« Es ist genau dies, was den Roman so empfeh­lenswert macht: Er verspricht in Zeiten der schrillen Töne und des vorschnellen Urteilens eine wohltuende Lektüre-Auszeit.

Ursula Enke