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In den Blick genommen

Constanze Neumann: Das Jahr ohne Sommer

Berlin: Ullstein, 2024

In der seit einigen Monaten wieder intensiv geführten Ost-West-Debatte setzt die Litera­tur­wis­sen­schaft­lerin Constanze Neumann mit Das Jahr ohne Sommer einen ganz eigenen Akzent: Als Kind von »Republik­flücht­lingen« kam sie sechs­jährig aus Leipzig ins rheinische Aachen. Vom Neuanfang in einer fremden Welt und den Schwie­rig­keiten, sich eine zweite Heimat anzueignen, ohne die alte zu verlieren, berichtet die frühere Verle­gerin des Aufbau-Verlags unprä­tentiös, authen­tisch – und sehr berührend.

Als ich klein war, sagte mein Vater nicht, reiß dich zusammen. Als ich klein war, rissen meine Eltern sich zusammen, und dann rissen sie an unserem Leben, das sie nicht wollten, nicht so, nicht hier. Man konnte nicht sagen, was man dachte, und man konnte nicht fahren, wohin man wollte.

Verwandte, die bereits vor Jahren in den Westen überge­siedelt waren, helfen der Familie, die Flucht im Kofferraum eines Westautos zu organi­sieren. Doch der Plan scheitert, in der Werkstatt der Flucht­hil­fe­or­ga­ni­sation, in der das Auto präpa­riert wird, arbeitet ein Stasimann, der Termine und Namen meldet. An der Grenze werden die Eltern verhaftet, die knapp vierjährige Tochter kommt in ein Kinderheim.

Dass meine Eltern nicht da waren, machte mich nicht ängstlich. Ich war zornig und weinte vor Wut. Ich war wütend, weil sie mir meinen orange-weißen Spiel­zeugbus wegge­nommen und nie zurück­ge­geben hatten. Ich konnte mit niemandem reden, denn dass das hier böse Menschen waren, wusste ich, sie gehörten zu denen, die meine Eltern wegge­führt hatten, zu denen, die uns nicht aus dem Land lassen wollten.

Die kleine Constanze hat Glück, ihre Zeit im Kinderheim dauert nur wenige Tage, denn die Großeltern erklären sich bereit, die Enkelin bei sich aufzu­nehmen. Die Behörden gestatten dies unter der Bedingung, dass das Kind im Sinne des Sozia­lismus aufge­zogen wird. Während die Großmutter für die kleine Constanze zur Ersatz­mutti wird, erfährt der Großvater, Natio­nal­ökonom, Abtei­lungs­leiter in einem großen Landma­schi­nen­be­trieb, die ganze Härte des Systems, denn nach der Flucht von Tochter und Schwie­gersohn muss er seine verant­wor­tungs­volle Stelle aufgeben, was er nie verwinden wird.

Anderthalb Jahre – für ein Vorschulkind eine endlos lange Zeit – dauert es, bis die Eltern aus dem Gefängnis entlassen werden und ausreisen dürfen – »man hatte sie freige­kauft, und ich konnte mir das nicht vorstellen – wer kaufte einge­sperrte Menschen?« – sowie weitere Monate, bis die kleine Tochter nachkommen kann. 

Eine erste Station ist die westfä­lische Klein­stadt, in der die andere Großmutter lebt, hier ist alles fremd, die Fülle in den Geschäften, die Verlo­ckung der Kaugum­mi­au­to­maten mit ihrem bunten Inhalt, die sauberen Straßen. Für den Vater, in Dresden Dozent an der Musik­hoch­schule, beginnt die schwierige Suche nach einer Arbeits­stelle, die Mutter leidet physisch und psychisch an den Folgen der Haft. Schließlich verschlägt es die Familie nach Aachen, wo der Vater Leiter einer großen Musik­schule wird, mit Aussicht auf Verbe­amtung. Die Wohnsi­tuation aller­dings bleibt über Jahre ein Provi­sorium und der heimische Dialekt für alle Famili­en­mit­glieder eine Herausforderung. 

Die Rhein­länder nehmen es nicht so genau, kommst du heute nicht, kommst du morgen. Mein Vater war anders, er war aus einem Land geflohen, in dem man vorsichtig sein, auf jedes Wort achten musste. Alles war von Bedeutung, im Guten wie im Schlechten. In Aachen war das Leben leichter, es war manchmal einfach nur schön. Aber mein Vater nahm auch hier alles sehr genau, er war der Fremde, hatte eine kranke Frau und ein kleines Kind, er war schon fünfzig und musste von vorn beginnen.

Durch die Flucht, auch wenn sie misslungen war, hat die Familie Schulden, neue Möbel wollen bezahlt werden, später ein Auto. Und dann sind da die Reisen in Länder, die sie zuvor nicht hatten besuchen können, und Reisen in Länder, in denen sie sich mit der Großmutter aus Leipzig treffen können. Für Constanze rückt »das kleine graue Land« mit der Zeit weg, die Erinne­rungen verblassen, auch wenn die Eltern oft von der alten Heimat erzählen – und von ihren Erleb­nissen in der Haft.

Es waren viele Geschichten, sie wurden wieder und wieder erzählt, um die anderthalb Jahre in Worte zu fassen – Unglück, Angst, Schmerz und Verzweiflung, Geschichten, die manchmal auch lustig waren und zu Anekdoten gerieten, immer im selben Wortlaut erzählt. Diese Geschichten gehörten meinen Eltern, obwohl ihnen die anderthalb Jahre nicht gehört hatten, im Fragen danach und im Erzählen davon gehörten sie uns allen, wir nahmen sie denen weg, die uns die Zeit gestohlen hatten und die Gesundheit meiner Mutter.

Während der Vater ständig in Anspannung lebt, alles richtig machen will in dem Land, das ihn und seine Familie aufge­nommen hat, und die Mutter verzweifelt versucht, an ihre frühere Karriere anzuknüpfen, lernt die Tochter sich anzupassen, doch das Gefühl des Fremd­seins bleibt. Dabei will Constanze, je älter sie wird, nicht auffallen, sie will so sein wie alle anderen. Vor allem will sie die erstaunten Blicke und die Fragen nicht mehr, und wenn der Vater von den Chancen und Möglich­keiten, die sich im Westen bieten, spricht und sie drängt, sich für ein Studium zu entscheiden, spürt die Tochter die Last, den Preis der Flucht, denn wozu sind sie geflohen, wenn sie im Westen nicht glücklich werden und all die Möglich­keiten, die sie im Osten nie gehabt hätten, nicht nutzten?

Immer häufiger hatte ich das Gefühl, nirgends zu sein, gar nicht da zu sein. Wo war meine Welt, wo gehörte ich hin? Ich wusste es nicht, mein Geburtsort war Leipzig, aber ich kannte die Stadt kaum noch, hätte mich in ihr ohne Stadtplan verlaufen. Und Aachen? Eine Rhein­län­derin war ich nicht, wir waren doch anders, wie mein Vater ein ums andere Mal betonte. Ich kannte keine anderen Orte, vielleicht würde ich sie ja finden, später einmal, aber vorstellen konnte ich mir das nicht.

Als 1989 die Grenze geöffnet wird, ist die Euphorie auch bei Familie Neumann groß, doch bald folgt Ernüch­terung, denn mit den Freunden aus dem Osten, die auf einen Neuanfang hoffen, ist keine rechte Verstän­digung möglich, zu unter­schiedlich sind die Erfah­rungen der letzten Jahre – Neumanns haben ihren Neuanfang längst hinter sich, die Bundes­re­publik ist das Land, das sie freige­kauft und aufge­nommen hat, das Land, für das sie sich entschieden haben. Constanze ist traurig und verwirrt, die alten Gewiss­heiten gelten nicht mehr, alles wird auf den Kopf gestellt, muss neu gedacht werden. 

Ich verstand nicht, ahnte aber, dass auch unsere Rolle neu definiert werden musste. Wir waren nicht länger die aus einem totali­tären System Geflo­henen, weil es dieses System nicht mehr gab, wir stammten wie viele andere aus dem Osten. Wir waren eine Familie von unüber­schaubar vielen – aber eben auch nicht.

Wie unauf­lösbar dieser Konflikt ist, wie prägend ein Leben lang, davon handelt Constanze Neumanns Das Jahr ohne Sommer, dabei inhalt­liche Tiefe mit unprä­ten­tiöser Sprache verknüpfend, zuweilen selbst­iro­nisch, dann wieder melancholisch-nachdenklich. Indem die Autorin uns teilhaben lässt an ihrem Schicksal und an dem ihrer Eltern, ist ein sehr lesens­wertes Buch entstanden, das Fragen aufwirft, vor allem aber Verständnis zu wecken vermag für alle, die sich zwischen zwei Heimaten bewegen müssen und mussten.

Die kürzlich in einem Interview von Jan Philipp Reemtsma formu­lierte These, Literatur sei unent­behrlich, da sie Blicke von Menschen, die diese in die Welt getan haben, aufbe­wahre und damit den eigenen Erfah­rungs­ho­rizont erweitere und berei­chere, löst Constanze Neumanns Werk in überzeu­gender Weise ein. Schon mit dem 2021 veröf­fent­lichten Roman Wellenflug, in dem die bewegende Geschichte ihres Großvaters Heinrich Reichenheim von der Mitte des 19. Jahrhun­derts bis in die Nachkriegs­jahre erzählt wird, stellt die Autorin am indivi­du­ellen Beispiel die Ambivalenz mensch­licher Sehnsucht nach Heimat und Glück in den Mittel­punkt. Beide Bücher sind unabhängig vonein­ander zu lesen, in der Kombi­nation zeigen sie aber eindrücklich auf, wie die Fäden der Vergan­genheit verwoben sind mit den Reali­täten der Gegenwart und den Träumen der Zukunft.

Annegret Schröder