Andreas Wunn: Mutters Flucht. Auf den Spuren einer verlorenen Heimat. Berlin: Ullstein, 2018
Es sei eine „unwahrscheinliche“ Reise gewesen, die er gemeinsam mit seiner Mutter und dem Bruder in eine Terra incognita der Familiengeschichte unternommen habe – dies resümiert Andreas Wunn am Ende seines Berichtes über „Mutters Flucht“. Da klingen Dankbarkeit ebenso wie ein fast ungläubiges Staunen darüber mit, dass es gelungen war, die 75-jährige ehemalige Lehrerin zu dieser Fahrt in das Banat zu bewegen; dass sie die emotionalen und mitunter körperlichen Strapazen bewältigen konnte; dass es eine Fülle von höchst aufschlussreichen und bewegenden Begegnungen gegeben hat – und nicht zuletzt scheint ihn selbst der organisatorisch reibungslose Ablauf dieser 14-tägigen Unternehmung im August des Jahres 2017 zu frappieren.
Akribisch hat der Autor, den manche Leser vielleicht längst als ZDF-Moderator kennengelernt haben, sein Vorhaben der Spurensuche vorbereitet, davon zeugen nicht nur das breit aufgestellte Literaturverzeichnis, sondern auch die Ergebnisse seiner ausführlichen Recherchen im Haus der Donauschwaben in Sindelfingen. Darüber hinaus hat er im Voraus zahlreiche Kontakte zu Bewohnern, einem Vertreter der deutschen Minderheit, zu städtischen Angestellten vor Ort und befreundeten Korrespondenten geknüpft. Somit war ein stabiler, verlässlicher Rahmen geschaffen, ein Garant für das Gelingen eines Projektes, das thematisch von Ungewissheit, Herausforderungen und Schmerz geprägt sein würde.
Die Brüder Wunn haben diese Reise von Beginn an als Wagnis verstanden; die Voraussetzungen waren nicht ungewöhnlich, aber durchaus kompliziert, denn es galt, eine Mauer des beharrlichen Schweigens zu durchbrechen, um nach Antworten auf ihre Fragen zur Familie, Herkunft und Persönlichkeit ihrer Mutter suchen zu können. Überraschender Weise war letztlich sie selbst es, die den Impuls für den Aufbruch gab: Bilder von den Flüchtlingszügen des Jahres 2015 entlang eben jener Balkanroute, über die auch sie sich mit Großmutter, Mutter und Bruder nach Deutschland durchgekämpft hatte, waren für sie ein erschütterndes, folgenreiches Déjà-vu, woraufhin sie entschied: „Ihr könnt mich alles fragen.“
Ausgangspunkt der gemeinsamen Erkundungsfahrt ist das vertraute pfälzische Städtchen Hauenstein, in dem die Familie nach einer fast fünfjährigen Odyssee sesshaft geworden war; von hier aus beginnt mit dem Auto eine Zeitreise von 1.329 Kilometern über 13 Etappen zurück bis an den Geburtstort Setschan im Banat, nahe der rumänischen Grenze, in dem das Kind Rosemarie im April 1945, noch keine vier Jahre alt, nicht länger geduldet wurde. Jeder einzelne Zwischenaufenthalt auf der Reise in die Vergangenheit wird nun für eine ganz eigene Erinnerung oder Erfahrung stehen: eine Notunterkunft für viele Geflüchtete im bayerischen Hohenfurch, die dem kleinen Mädchen zum ersten Male die Gefühle für Geborgenheit und Normalität vermittelt; ein Sonnenblumenfeld, das als lebensrettendes Versteck auf der Flucht vor Grenzpolizisten zum Leitbild dieser Lebensgeschichte avanciert; jener denkwürdige Ort der Internierung, an dem Frauen und Kinder Gräueltaten ausgesetzt waren und der inzwischen durch aufsteigendes Grundwasser ins Vergessen hinweggeschwemmt worden ist; das Lager, in dem der aus dem Hause verschleppte Vater ermordet worden sein soll; die zur Ruine verkommene Mühle der stolzen, geschäftstüchtigen Urgroßmutter einerseits, anderseits die Poststation des Großvaters, die, „prunkvoll, opulent, gülden“ zu einer „Edelhütte“ saniert, nun auf Filzpantoffeln besichtigt werden darf; und letztlich das Elternhaus, aus dem die Mutter als einzig verbliebenes Relikt – und Zeugnis vom Wirken des ihr in der Erinnerung verlorengegangenen Vaters – kleine, verstaubte Apothekerfläschchen überreicht bekommt.
„Nur langsam und behutsam, mitunter sehr zögerlich, tastet sich meine Mutter an die Orte ihrer Vergangenheit vor, Schritt für Schritt. Dabei geht sie so vorsichtig, als liefe sie auf einem zugefrorenen See und habe Angst einzubrechen.“ Sehr sparsam, dann aber wirkungsvoll, bedient sich der Autor der poetischen Sprache, ansonsten nimmt er sachlich und nach bester journalistischer Manier gleichermaßen die individuellen Erlebnisse wie die zeitgeschichtlichen und gesellschaftspolitischen Zusammenhänge differenziert in den Blick. Aufmerksam beobachtet er die Reaktionen seiner Mutter und nimmt ihre Befindlichkeit wahr. Er will Veränderungen aufspüren. Versuche beharrlichen Nachfragens allerdings werden mal ausweichend, mal brüsk abgewehrt. Zunehmend verfestigt sich eine Ahnung zur Gewissheit, dass die Mutter sich nicht nur nicht erinnern will – die immer wiederholte Überzeugung lautet: „Ich schaue lieber nach vorne. Ich blicke nicht gerne zurück. Weil es nichts bringt.“ –, sondern sich wohl gar nicht erinnern kann. Nur Erzähltes, nichts Selbsterlebtes aus den ersten sechs Lebensjahren, weder das beglückend Gute noch das verstörend Unheilvolle, scheinen in ihrem Gedächtnis bewahrt zu sein, vielmehr liegen alle Erinnerungen wohl, so das treffliche Bild, in einem Tresor fest verschlossen, zu dem sich der Schlüssel nicht finden lässt oder zum vermeintlichen Selbstschutz nicht gefunden werden soll – weder auf der Reise in die Vergangenheit noch beim Betrachten der wenigen geretteten Familienfotos. Nur in einem von wenigen Momenten scheint das Eis zu brechen: „Hat dir dein Vater gefehlt als Kind?“ „Ach, ich glaube schon. Aber warum soll man das immer wieder aufwühlen?“ Als sie fortfährt, dass man auch nie an seinen Geburtstag gedacht hätte, da dies wahrscheinlich zu emotional gewesen wäre, verliert sie kurz die Contenance. „Tränen will meine Mutter nicht zulassen. Doch sie kommen trotzdem, auch mir. Eine richtige Umarmung aber will uns nicht gelingen.“
Zu Recht stellt Andreas Wunn zu Beginn seiner Spurensuche die Frage, ob ein Ort überhaupt Heimat sein kann, an den man sich nicht erinnert? Die Mutter antwortet entschieden, dass sie mit diesem Begriff wenig anfangen könne. Die Erwartung der Söhne, vielleicht auch des Lesers, eine solche Überzeugung könne während eingehender Begehungen vor Ort und im Verlaufe persönlich bewegender Gespräche revidiert werden, erfüllt sich nicht. Zwar hat die Reise sie gelehrt, die Trauer ihrer eigenen Mutter um den Verlust der Heimat zu verstehen, sie selbst aber verharrt in der Haltung: „Um bestehen zu können, muss man irgendwann einen Schlussstrich ziehen. Das hier war die Heimat meiner Mutter und meiner Oma. Ich bin hier geboren, aber es ist nicht meine Heimat.“ Dass sie vertrieben worden sei und sich immer als Außenseiterin empfunden habe, sei der Grund dafür, dass sie später zwar ein Zuhause gefunden habe, dies aber nur ein „Wohnort ohne Wurzeln“ bleibe. Stattdessen hat sie für sich eine „geistige Heimat“ gesucht und in der Welt der Kunst, insbesondere in der Welt der Farben des Expressionismus, gefunden.
Interessanterweise muss Andreas Wunn für sich selber ebenfalls erkennen, dass auch er den Begriff Heimat nicht im Herzen trägt, und vermutet darin das Erbe der Mutter: „Habe ich auch keine Wurzeln, weil meine Mutter keine hat?“ Bei seiner aus Brasilien stammenden Ehefrau hingegen habe er eine tiefverwurzelte Liebe zu ihrer Heimat kennengelernt, „als etwas zutiefst Sinnliches, geprägt von Melodien und Rhythmen, Gedichten und Liedern, aber auch von Meer und tropischem Grün“.
Über die persönliche Auseinandersetzung mit der bemerkenswerten Lebensgeschichte seiner Mutter hinaus hat Andreas Wunn kenntnisreich und mit offenkundiger Anteilnahme das Schicksal der Donauschwaben in den Blick genommen, und nachdrücklich beschreibt er, wie infolge der politischen Ereignisse die kriegerischen Parteien im Banat wüteten, wie gewachsene Strukturen und Dorfgemeinschaften vernichtet, Familien ausgelöscht wurden und eine leidvolle Vertreibung begann – und gemeinsam mit der Mutter reflektiert er dabei immer wieder die Vorgänge des Jahres 2015, von denen die ganze Reise in die Vergangenheit ihren Ausgang genommen hatte.
Ursula Enke