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In den Blick genommen

Ralf Rothmann: Der Gott jenes Sommers. Suhrkamp Berlin 2018 

Nach dem aufwüh­lenden Drama Im Frühling sterben ­(Suhrkamp Verlag Berlin, 2015) thema­ti­siert Ralf Rothmann mit der parabel­haften Erzählung Der Gott jenes Sommers die bedrü­ckende Endzeit­stimmung der letzten Wochen und Monate des Zweiten Weltkriegs vom Februar 1945 bis zur Ankunft der Briten in Norddeutschland. Selbst die Überle­benden werden zu Opfern, weil sie zu viel gesehen und erlebt haben, und doch zeigt sich schließlich eine Spur von Neuanfang und Hoffnung.

Im engen Kosmos einer ideolo­gisch gespal­tenen Familie sucht die zwölf­jährige Protago­nistin Luisa Norff Antworten auf Fragen, die nicht gestellt werden. Die Diskrepanz zwischen der Bücherwelt, in der sie sich so gern bewegt, und dem Inter­esse, die Schrecken der realen Welt zu verstehen, überfordert das sensible Mädchen mehr als einmal, zumal weder die Eltern noch die älteren Schwestern in der Lage sind, Orien­tierung zu bieten. Ländlich-idyllisch wirkt die Zuflucht, die die in Kiel ausge­bombte Familie gefunden hat, aber die Atmosphäre zwischen den Famili­en­mit­gliedern ist gereizt. Die Mutter zeigt sich frustriert, wirkt ängstlich und schwach, Schwester Sibylle dagegen lebens­lustig und zuweilen unbedacht, ambivalent und eigen­sinnig. Natio­nal­so­zia­lis­tische Ambitionen und unver­rück­barer Führer­glaube noch in der aller­letzten Phase des Krieges wiederum charak­te­ri­sieren die älteste Schwester, welche zudem durch ihren Ehemann, einen SS-Offizier, dazu beiträgt, dass die Familie eine exklusive Versor­gungs­si­tuation genießt, teilweise wie in Friedens­zeiten tafeln und feiern kann. Bei seinen seltenen Besuchen verwöhnt auch der Vater, Chef eines Marine­ca­sinos in Kiel, seine Mädchen mit fast verges­senen Lecke­reien. Seinen unbehol­fenen Versuchen, Zuver­sicht und positive Zukunfts­per­spek­tiven zu verbreiten, entziehen sich die Schwestern jedoch. Auch stoßen seine derbe, teils ordinäre Ausdrucks­weise, Alkohol­ex­zesse und seine immer wieder­keh­renden depres­siven Stimmungen nicht nur die Mutter, sondern vor allem die jüngste Tochter ab.

Luisa, frei von schuli­schem Zwang, da Unter­richt nicht mehr statt­findet, streift durch das winter­kalte Dorf, versucht Beobach­tungen, die sie dort und in einem nahe gelegenen Lazarett macht, sowie Andeu­tungen der Erwach­senen einzu­ordnen, gerät zunehmend in eine träume­rische Verlo­renheit. Die Belas­tungen durch immer mehr Flücht­linge, die unter­ge­bracht werden müssen, ebenso wie die Angst der Frauen vor dem Kriegsende und der Rache der Sieger sind dagegen sehr real und werfen weitere Fragen auf, denn obschon die Familie selber das Zuhause verloren hat, verachtet Mutter Norff das „Polackenpack“ aus dem Osten. Mit „Meinen Sie, nur Ihnen verlangt der Krieg etwas ab ?“ wird sie zurecht­ge­wiesen, als sie sich weigert, mit der Familie noch näher zusam­men­zu­rücken. Ohne sich wirklich vorstellen zu können, wie es im Frieden sein wird, ordnet Luisas Mutter an :  „Wenn der Krieg vorbei ist, gehst du als Erstes in die Tanzschule !“, denn gesell­schaft­liches Ansehen ist ihr wichtiger als die tatsäch­liche Befind­lichkeit der Tochter. Luisa beginnt derweil einen zarten Flirt mit einem Melker – dem Helden aus Im Frühling sterben, dessen Vorbild Ralf Rothmanns Vater war – und freundet sich mit dessen Verlobter, einer Vertrie­benen aus Schlesien, an. Gegenüber dieser wenige Jahre älteren jungen Frau wagt die Zwölf­jährige eine Offenheit, die in der eigenen Familie undenkbar scheint. Doch Walter wird einge­zogen und Luisa bleibt mit ihren Träumen und Gefühlen allein.

Schließlich erlebt sie, umfangen von Angst, Entsetzen und Unkenntnis, das Unsagbare, womit der Autor auf das Schicksal ungezählter Frauen und Mädchen, zu denen auch die aus Westpreußen stammende Mutter Rothmanns zählte, verweist und dieje­nigen, die zeitlebens nicht davon sprechen können, als Opfer würdigt.

Der depri­mie­renden Welt von natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Verblendung, Elend und Zerstörung, Unsicherheit und Halbwahr­heiten stellt Rothmann in einer Binnen­er­zählung als Kontra­punkt Äußerungen des fiktiven Autors Bredelin Merxheim gegenüber, in denen die Welt des 30-jährigen Krieges als „Höllen­fahrt“ beleuchtet wird. Auf dieser zweiten Textebene wird die Grund­frage eines jeden Krieges – wie können Menschen Bruta­lität, Grausamkeit und Ausweg­lo­sigkeit aushalten – gestellt. Die Vergeb­lichkeit mensch­lichen Handelns ist nicht denkbar ohne den Glauben, dass es innerhalb des Grauens Hoffnung gibt, vielmehr :  geben muss. Dieses zentrale Element verkörpert in Der Gott jenes Sommers die Zwölf­jährige, eine, die keine Schuld am Krieg haben kann und doch in ihrer gesamten Existenz durch ihn geprägt ist. In dem Wunsch Luisas, Nonne zu werden, äußert sich ihr Glaube und mit ihm die Hoffnung, dass auch nach einem totalen Zusam­men­bruch nicht alles zu Ende ist, sondern ein Neuanfang möglich wird. In starken, aussa­ge­kräf­tigen Bildern weist Rothmann so bei aller Verlo­renheit und einem – mit seinen eigenen Worten – „von Schwermut grundierten Ernst“ seiner Charaktere über das „Ich habe alles erlebt“ hinaus.

Auf eine religiös-metaphysische Kompo­nente hebt der Autor auch ab, wenn er in einem Interview mit dem Spiegel anmerkt :  „Irgendwann wird jeder einmal von irgendwo vertrieben werden. Wehe dem, der dann keinen Ort über dem Ort hat.“ Damit erinnert er an den Vers aus dem Hebrä­er­brief „Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“. Die Frage, wie umgehen damit, wenn nichts Bestand hat, betrifft nicht nur Flücht­linge – im Roman distan­ziert sich Luisas Mutter expli­ziert von diesen – und nicht nur Menschen in Extrem­si­tua­tionen. Letztlich geht es um Hingabe an Gott – Gott ist das Bleibende, die Sehnsucht nach dem Ankommen bei ihm, Trost und Ermutigung in der Vergäng­lichkeit und Vorläu­figkeit des irdischen Lebens.

Rothmann betont, dass sein Text einen autobio­gra­fi­schen Kern habe, doch reine Fiktion sei. Das Gespräch mit einer Leserin, welche als Zwölf­jährige bei Kriegsende Rothmanns Vater in einem schleswig-holsteinischen Dorf traf, diente dem Autor als Impuls für seinen Roman. Behutsam, distan­ziert beobachtend und ebenso sensibel wie sprachlich imposant Episoden reihend, welche treffend die Ambivalenz der Zeit darstellen und zugleich darüber hinaus weisen, ist Rothmanns Der Gott jenes Sommers schon kurz nach dem Erscheinen mit dem Uwe-Johnson-Preis als „unbestech­liche Erinne­rungs­arbeit“ ausge­zeichnet worden. Auch wenn die Protago­nisten des Romans teilweise konven­tionell und stereotyp wirken und weniger überzeugend als dieje­nigen von Im Frühling sterben darge­stellt werden, lohnt es, Luisa auf ihrem Weg zwischen Kind und zu frühem Erwach­sen­werden zu begleiten und mit ihr dem furcht­baren Jahr 1945 nachzuspüren.

Annegret Schröder